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Stört die Kreise nicht!

Radikal nachhaltig und kreislauffähig: Impact Hub Berlin im CRCLR-Haus in Berlin von LXSY Architekten.
Radikal nachhaltig und kreislauffähig: Impact Hub Berlin im CRCLR-Haus in Berlin von LXSY Architekten. Foto: Studio Bowie. Visualisierung: Salzburg Wohnbau

Noch steckt die Kreislaufbauwirtschaft in den Kinderschuhen. In absehbarer Zeit soll sie der Normalfall sein. Für einige Pionier:innen und Vorreiter:innen ist sie das bereits.
FRANZISKA LEEB

„Noli turbare circulos meos“ – auf Deutsch „Störe meine Kreise nicht“, wies Archimedes, der berühmteste Naturwissenschafter der Antike, einen römischen Soldaten ab, der ihn daran hindern wollte, eine Aufgabe zu Ende zu lösen. Es waren seine letzten Worte.

Noch lang nicht die letzten Worte gesprochen sind bei der Etablierung einer Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Schon im Jahr 2015 hat die Europäischen Kommission den Aktionsplan „Circular Economy“ ins Leben gerufen. Im Dezember 2022 wurde die nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie vom Ministerrat beschlossen, die Bauwirtschaft ist dabei eines der relevantesten Handlungsfelder.

Diesen Juni veröffentlichte das Bundesministerium für Klimaschutz den ersten Fortschrittsbericht über Österreichs Weg zu einer nachhaltigen und zirkulären Gesellschaft, der konkrete Aktivitäten und geplante Vorhaben zusammenfasst. Das darin nicht explizit formulierte, aber naheliegende Fazit: Es gibt viele Initiativen, aber – mit Ausnahme von Wien, wo bereits die wesentlichen Weichen gestellt wurden (siehe „Von außen betrachtet“, S. 34) – haben die Bundesländer noch ihre Hausaufgaben zu erledigen, um den Wandel in Richtung zirkuläres Bauen auf Schiene zu bringen.

Eine zirkuläre Bauwirtschaft geht weit über das Recycling hinaus. Kurz gefasst geht es darum, Ressourcen möglichst lange sowie mit wenig Verlusten in der Nutzung zu halten und Gebäude als Materiallager zu betrachten. Das bedeutet einen völligen Wertewandel im Bausektor und setzt neue Prozessabläufe voraus. Eine integrale Planung, die – unterstützt durch Building Information Modeling – Informationen über den gesamten Lebenszyklus dokumentiert, ein Management der Stoffströme auf der Baustelle und insbesondere die Langlebigkeit der Gebäude sind dabei wichtige Faktoren. Oft werden Gesetze und Normen als Hindernisse genannt.

„Eine noch größere Hürde sind fehlende Geschäftsmodelle“, erklärt Bernadette Luger, Leiterin der Stabsstelle Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit im Bauwesen in der Wiener Stadtbaudirektion.

Form folgt der Verfügbarkeit

Elektro- und Sanitärinstallationen aus zweiter Hand, Holzabfälle aus Tischlereien und andere Materialien aus Abbruchgebäuden, Lagerbeständen oder Orten, wo sie nicht mehr gebraucht wurden, sind die Stoffe aus denen das Interieur des Impact Hub im CRCLR-House (Circular Economy Haus) auf dem ehemaligen Areal der Brauerei Kindl in Berlin gemacht ist.

Wo keine wiederverwendeten Materialien eingesetzt werden konnten, kamen neue aus nachwachsenden Rohstoffen zum Zug, die nach Ablauf ihrer Zeit sortenrein getrennt werden können. Planer:innen des mehrfach ausgezeichneten und viel publizierten Projekts sind die jungen Architekt:innen des Berliner Büros LXSY, die angetreten sind, die Bauwende voranzutreiben. Das zirkuläre Bauen verändert die Arbeit, bestätigen die Gründerinnen Kim Le Roux und Margit Sichrovsky.

„Gemeinsam mit allen Beteiligten begibt man sich auf die Suche, wie sich innerhalb von Normen und Vorschriften gewohnte Abläufe verändern lassen“, beschreibt Kim Le Roux die Reise in die kreislauffähige Bauzukunft. Diese neuen Prozesse „bergen die Chance für neue Formen und Strukturen der Zusammenarbeit“, ergänzt Margit Sichrovsky.

Im Wohnbau DreiGang in Golling von Salzburg Wohnbau stecken Teile des rückgebauten Bestandes.

Das Architekturmachen sei keine Einzelleistung. Handwerker:innen seien zunächst der Wiederverwendung von Bauteilen kritisch gegenübergestanden, räumt Kim Le Roux ein: „Aber Themen wie Materialknappheit, Lieferengpässe oder hohe Materialpreise haben sie dann überzeugt. In Prototyping-Workshops haben wir gemeinsam neue Lösungen entwickelt und dabei traditionelle Bauweisen neu entdeckt. Das zirkuläre Bauen kann dem Handwerk Qualitäten verleihen und damit das Berufsfeld attraktiver gestalten.“ Das Vorurteil, dass zirkuläres Bauen mit Abstrichen bei der Gestaltung einhergeht, teilen die beiden Architekt:innen nicht: „Vielmehr kann die Suche nach gebrauchten Materialien ein Designtreiber sein.“

Im größeren Maßstab um zirkuläre Bauweise und Bestandssanierung geht es beim Quartier „Der neue Stöckach“, einem derzeit ruhenden Projekt der IBA‘27 in Stuttgart, wo LXSY gemeinsam mit asp Architekten auf zirkuläre Bauweise und Bestandssanierung setzen.

Baukreislauf-Anleitungen
Im Zuge des Forschungsprojekts BuildReUse wurden drei Leitfäden entwickelt, in denen Grundprinzipien und Lösungsansätze für die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft am Bau dargelegt werden:
- Anna Maria Fulterer u.a.: Zusammenarbeiten in der Kreislaufbauwirtschaft, Graz 2024
- Daniel Orth, Markus Meissner u. a.: Bauteile rückgewinnen, Wien 2024 Lutz Dorsch,
- Simon Kindelbacher u. a.: Handbuch Konstruktionen planen, Kuchl 2024

Angewandte Forschung

Auf die Suche nach Kreislauf-Demoprojekten hat sich das vom Impact Hub Vienna betriebene Climate Lab gemacht. Im Projekt Kraisbau haben sich 32 Partner aus Bauwirtschaft, Planung und Forschung zusammengetan, um die Voraussetzungen für die Bauwende zu schaffen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Integration von künstlicher Intelligenz, die helfen soll, skalierbare Lösungen im Umgang mit dem Gebäudebestand zu finden. Zudem werden technische und rechtliche Rahmenbedingungen analysiert, die Erkenntnisse der Branche zugänglich gemacht und anhand von Demonstrationsprojekten Grundlagen aus der Praxis für die Praxis erarbeitet.

Über das Forschungs- und Demo- Projektstadium hinaus ist man bei der Unternehmensgruppe Salzburg Wohnbau. „Wir wollen nicht mehr davon überzeugt werden, dass andere Methoden besser sind als die Kreislaufwirtschaft“, sagt Thomas Maierhofer, der mit Georg Grundbichler das neue Geschäftsführerduo bildet. Im Jahr 2021 initiierte das Unternehmen das Forschungsprojekt Cico (Circular Concrete), das gemeinsam mit der Bautechnischen Versuchs- und Forschungsanstalt Salzburg (bvfs), der Fachhochschule Salzburg, der Universität Salzburg und Deisl Beton umgesetzt und vom Land Salzburg gefördert wurde. Auf den Punkt gebracht ging es dabei darum, aus alten Gebäuden neue, kreislauffähige Bauten zu machen.

„Es gab genug, die uns belächelt haben“, erzählt Meierhofer. Mittlerweile vier Realisierungen beweisen, dass man den richtigen Weg eingeschlagen hat. Der Neubau der Volksschule Anif, in den der Beton des Bestands aus den 1970er Jahren eingearbeitet wurde, erhielt kürzlich den Energy Globe Award. Auch im vor der Fertigstellung stehenden Wohnbauprojekt DreiGang in Golling steckt – auch wenn man es nicht sieht – der Vorgängerbau, ein Seniorenwohnheim. Bei dessen Rückbau wurden 4.300 Tonnen an Recyclingmaterial gewonnen. Mehr als ein Drittel davon fand im Neubau Verwendung, darunter der alte Holz-Dachstuhl und 570 Tonnen Ziegel. „Es ist uns immer gelungen, die Güte- und Qualitätswerte einzuhalten“, räumt Maierhofer diesbezügliche Bedenken aus. Und die Kosten?

Bei den ersten Projekten seien im Hinblick auf die Qualitätssicherung überhöhte Prüfkosten entstanden, räumt Maierhofer ein. „Ansonsten sollte die neue Art des Bauens nicht zu Mehrkosten führen.“ Mehrwerte hingegen gäbe es viele, auch für das Employee Branding, weil man mit dem Thema die Belegschaft motivieren könne.

„Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann und ich werde dir die Welt aus den Angeln heben“, auch das soll Archimedes gesagt haben. Ein paar Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Bauwende gibt es schon.

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Die komplexe Frage der Finanzierung

Grün in Großweikersdorf: Die Beheizung der Wohnhausanlage der Genossenschaft „Schönere Zukunft“ erfolgt über eine effiziente Wärmepumpe, die durch eine Photovoltaikanlage unterstützt wird.
Grün in Großweikersdorf: Die Beheizung der Wohnhausanlage der Genossenschaft „Schönere Zukunft“ erfolgt über eine effiziente Wärmepumpe, die durch eine Photovoltaikanlage unterstützt wird.

Nachhaltige Vergabeelemente können quer über den gesamten Beschaffungsprozess verankert werden. Dafür ist eine frühzeitige Planung essenziell. Wird auch das ausführende Unternehmen früh in das Projekt eingebunden, steigen die Erfolgsaussichten deutlich.
BERND AFFENZELLER

Öffentliche Auftraggeber:innen sind bereits durch gesetzliche Vorgaben verpflichtet, bei Vergabeverfahren auf die Umweltgerechtheit der Leistung Bedacht zu nehmen. Private Bauträger:innen sind freier in der Gestaltung ihrer Verträge und Leistungskataloge. Doch sowohl bei gemeinnützigen als auch bei gewerblichen Bauträger:innen gewinnen „grüne Vergaben“ an Bedeutung. „Nachhaltigkeitskriterien und grüne Vergaben werden oft vor allem mit der Erfüllung der Taxonomie-Verordnung oder entsprechenden Nachhaltigkeitszertifikaten assoziiert“, erklärt Daniel Deutschmann von Heid & Partner Rechtsanwälte.

Nachhaltigkeit bedeute jedoch nicht zwangsläufig eine Zertifizierung. Vielmehr liegt der Fokus darauf, sowohl die Interessen der Endkund:innen als auch die der Gesellschaft zu berücksichtigen, mit den neuesten Forschungserkenntnissen maßgeschneiderte Lösungen zu finden und die CO₂-Bilanz zu optimieren.

Dazu zählen etwa optimierte Grundrisse und Bauteile, die Verwendung langlebiger und ökologischer Materialien sowie auf die jeweilige Nutzung abgestimmte Heiz- und Kühlsysteme oder die Zusammenarbeit mit regionalen Unternehmen. „Um nachhaltige und gleichzeitig wirtschaftlich sinnvolle Entscheidungen treffen zu können, ist es entscheidend, die Bedürfnisse der Endkund:innen zu verstehen, kontinuierlich am Ball der fortschreitenden Entwicklung zu bleiben und darauf entsprechend zu reagieren“, ergänzt Veronika Achammer, Rechtsanwältin und Geschäftsführerin der BEO Baumanagement GmbH.

Nachhaltige Vergabeelemente können quer über den gesamten Beschaffungsprozess verankert werden. Dies kann durch die Leistungsbeschreibung, die Festlegung der technischen Spezifikationen, die Vergabekriterien oder einen Leistungsvertrag erfolgen.

„Für die erfolgreiche Umsetzung, insbesondere von über die gesetzlichen Vorgaben hinausgehenden Nachhaltigkeitskriterien, ist eine frühzeitige Planung essenziell“, so Achammer. Die wesentlichen Kriterien sollten von öffentlichen wie auch privaten Auftraggeber: innen bereits vor Projektbeginn definiert werden, bevor die Leistungen ausgeschrieben und vergeben werden. Dabei spielen die Architekt:innen eine zentrale Rolle.

„Durch die richtige Wahl von Materialität und Konstruktion werden schon in den ersten Konzeptionen wesentliche Entscheidungen getroffen“, erklärt Bernhard Weinberger vom Architekturbüro WUP. In Abwägung unterschiedlicher Faktoren wie der städtebaulichen Situation, den vorhandenen Umwelteinflüssen aber auch den baurechtlichen Beschränkungen und ökonomischen Grenzen ergebe sich ein Spielraum, den die Architekt: innen gemeinsam mit den Bauträger: innen abstecken können.

Die übliche Entkoppelung von Planung und Ausführung kann laut Daniel Deutschmann aber auch zum Problem werden: „Im Zusammenhang mit neuen, unerprobten Nachhaltigkeitszielen ist eine präzise Formulierung der Ausschreibungsunterlagen oft schwierig.“ Die Erstellung verschiedener Planungsvarianten kann dabei helfen, die besten Lösungen zu finden. Damit die Ökobilanz für jede Variante richtig ermittelt werden kann, müssen die Planer: innen aber bereits wissen, welche konkreten Produkte bei welcher Variante verwendet werden sollen. „Deshalb ist es hilfreich, das ausführende Unternehmen mit Early Contractor Involvement frühzeitig in das Projekt einzubinden, um die konkreten Produkte festzulegen“, so Deutschmann.

Wohnbau von Heimbau Eisenhof – völlig ohne fossile Energie

Ökologische Baumaterialien

„Bei Wiener Bauträger:innenwettbewerben ist die Ökologie seit jeher eine der vier Säulen, nach denen eine fachübergreifende Jury die eingereichten Projekte beurteilt“, erklärt Andreas Gabriel vom Architekturbüro WUP. Nachhaltigkeitskriterien werden dabei gleichwertig mit der architektonischen Qualität und wirtschaftlichen Parametern berücksichtigt. „In den aktuellsten Ausschreibungen der Bauträger: innenwettbewerbe in Wien wurde zusätzlich das Thema Kreislaufwirtschaft in den Vordergrund gerückt und so zu einem zentralen Thema der Ausschreibungen und Beurteilungen“, so Gabriel.

Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung, Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft sind daher entscheidende Faktoren und Beurteilungskriterien. Zudem zwingen die Wohnbauförderungskriterien laut Stefan Härtl, Geschäftsführer der gemeinnützige Wohn- und Siedlungsgesellschaft „Schönere Zukunft“, die gemeinnützige Wohnungswirtschaft förmlich dazu, nachhaltig zu agieren und „grüne Vergaben“ zu bevorzugen.

Dass Nachhaltigkeitskriterien bei der Vergabe von Wohnbauprojekten eine große Rolle spielen, bestätigt auch Hermann Koller, stellvertretender Obmann der gemeinnützigen Bau-, Wohnungs- und Siedlungsgenossenschaft Heimbau. „Das reicht von der Wahl des richtigen Energiesystems bis zu ökologischen Baumaterialien, die bei unseren Projektentwicklungen aktuell ganz oben gereiht sind“, so Koller. Da das ökologisch beste Material aber nicht überall sinnvoll ist, sind diese Entscheidungsprozesse laut Koller „sehr wesentlich und langwierig“. Härtl sieht zudem große Herausforderungen in der normgemäßen Beurteilung von nachhaltigen Baustoffen. „Man denke etwa an das Thema Brandschutz bei Materialien wie Holz oder Stroh oder Festigkeit von Lehm.

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Grün, leistbar und sozial

Doris Österreicher hat Architektur studiert und ist Professorin für Integrative Gebäudetechnik und Digitale Bautechnologie an der Universität Stuttgart.
Doris Österreicher hat Architektur studiert und ist Professorin für Integrative Gebäudetechnik und Digitale Bautechnologie an der Universität Stuttgart.

Doris Österreicher stellt Klimaschutz und leistbares Wohnen in einen Zusammenhang, spricht sich absolut gegen fossile Energie aus und plädiert für eine klimaadaptive, nachhaltige Architektur und Stadtplanung, zum Wohl für die Umwelt und alle Lebewesen.
PETER REISCHER

Frau Prof. Österreicher, worum geht es bei dem Begriff leistbares, soziales Wohnen?

Da geht es um alle Bereiche der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie und soziale Nachhaltigkeit, um qualitativen Wohnraum zu schaffen.

Inwiefern können Klimaschutzbemühungen zu einem leistbaren Wohnen beitragen?

Klimaschutz heißt auch Wohnraum und unsere Umgebung erhaltens- und lebenswert gestalten. Das Soziale und die Leistbarkeit hängen sehr stark mit den Energie- und Infrastrukturkosten zusammen. Wenn wir klimabewusst bauen, können wir den Energiebedarf reduzieren und so zu leistbarem Wohnen beitragen. Wir müssen trachten, keine fossilen Energieträger mehr zu nutzen und Materialien ressourcenschonend anwenden, um in eine Kreislaufwirtschaft zu kommen.

Tausende Jahre mussten wir Gebäude nicht mechanisch (Aircondition) kühlen, und die Baumaterialien sind alle bereits im Bestand vorhanden.

Da gebe ich Ihnen völlig recht. Wenn wir aber den Status quo betrachten, müssen wir überlegen, wie wir von den fossilen Energieträgern loskommen. Es bedarf einer Anpassung an klimatische Veränderungen, wie zum Beispiel außenliegender Sonnenschutz, der auch in unseren Breitengraden notwendig geworden ist.

Kann man Nachhaltigkeit und Klimaschutz mit dem Begriff „grün“ in Verbindung bringen?

Im weitesten Sinn ja! „Grün“ assoziiert man mit Natur und Bäumen und der Begriff hält sich als Schlagwort schon ziemlich lang. Nur wenn eine Fassade grün ist, heißt das aber nicht, dass das Gebäude dahinter auch grün im Sinn von Umweltverträglichkeit ist. Aus der Technologieperspektive geht es immer darum, was das Gebäude tatsächlich kann.

Können Sie für sich den Begriff Nachhaltigkeit definieren?

Nachhaltigkeit ist für mich immer noch aus dem Brundtlandreport zu erklären: Ökologie, Ökonomie und soziale Ziele sollen gleichberechtigt und gleichwertig zueinanderstehen und so Perspektive für eine nachhaltige Gesellschaftspolitik formen. Für mich muss ein Gebäude die drei erwähnten Aspekte erfüllen. Das Nullenergiehaus auf der grünen Wiese ist nicht unbedingt nachhaltig. Ein Haus, das mit den neuesten Technologien ausgestattet ist, den höchsten Energiestandard hat, alles Mögliche kann, muss noch nicht leistbar, zugänglich oder angenommen sein – auch wenn es öffentlichkeitswirksam präsentiert ist. Auf der anderen Seite heißt es nicht, dass ein kosteneffizientes Gebäude mit leistbarem Wohnraum für alle sozial nachhaltig und ökologisch ist. Es ist eben die Herausforderung für Architekt:innen und Wissenschaft, diese Dinge in der Planung miteinander zu verknüpfen.

Postuliert man, dass Grün eine soziale Farbe ist, würde das doch einen Wandel in der Gesellschaft, im sozialen Denken verlangen?

Dieser Wandel ist wünschens- und anstrebenswert. Dazu braucht es eine Akzeptanz und eine Veränderung des Energiesystems. Wir wollen die Dekarbonisierung und weg von den fossilen Energieträgern, das geht aber nicht ohne die Gesellschaft. Unsere größte Herausforderung ist die Dekarbonisierung des Bestands, im Neubau sind wir schon sehr weit. Wenn ich aber im Altbau ein neues Energiesystem implementieren will – gehen oft die Menschen nicht mit, weil es einen Einschnitt für sie bedeutet.

Aber es sind nicht nur die Menschen/ Bewohner:innen/Nutzer:innen, es sind auch die Politik und die Industrie, die in einem Beharrungszustand sind. Wie soll das dann gehen?

Absolut, es ist das Bohren dicker Bretter, wie das so schön heißt. In der Architektur ist Akzeptanz sehr wichtig und wir versuchen immer, die Leute einzubinden: Was brauchen die Menschen selbst in den Gebäuden, was wünschen die sich, welche Veränderungen soll es geben. Die Technik bietet zwar Lösungen, aber die ist nicht immer auch gleichzeitig nutzerfreundlich – wir wollen das aber miteinander machen. Diese Veränderung ist auch anstrengend.

Was kann und was soll die Politik dazu beitragen?

Die Politik muss klare Rahmenbedingungen schaffen, zum Beispiel sehe ich es sehr kritisch, dass das Erneuerbare- Wärme-Gesetz nicht wie vorgesehen beschlossen und letztlich abgeschwächt wurde. Und an diese Rahmenbedingungen muss sich die Politik dann auch halten und Mut zeigen. Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.

Wenn in naher Zukunft Millionen in unsere Breiten wollen, weil sie in ihrer Heimat aufgrund des Klimawandels nicht mehr leben können, müssen wir wohl unseren gewohnten Lebensstandard überdenken und ändern?

Wir reden zwar immer von Effizienz, aber wir wollen auch die Suffizienz. Die Frage ist, ob ich einen eigenen Fitness-, Yoga- oder sonstigen Raum brauche oder ob ich auch teilen kann.

Sie meinen damit Sharing?

Ja, genauso wie sich das Mobilitätsverhalten geändert hat, trachten wir jetzt danach, dass sich auch das Wohnverhalten ändern kann oder soll. Wir können – genau wie das Auto – auch Räume miteinander teilen. Da ist die Planung gefragt, um Konzepte zu entwickeln, die auch Qualitäten liefern die nach wie vor den Wunsch nach z. B. Privatsphäre und Grünbereich ermöglichen.

Glauben Sie, dass sich die Politik oder die Bauindustrie über diese Qualitäten Gedanken macht?

Man sieht das sehr stark in den Quartiersentwicklungen in Wien. Da gibt es einen Qualitätsbeirat, Jurys und ein sehr hohes Maß an Qualitätsforderungen.

Doris Österreicher hat Architektur studiert und ist Professorin für Integrative Gebäudetechnik und Digitale Bautechnologie an der Universität Stuttgart. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der klimaadaptiven und nachhaltigen Architektur und Stadtplanung mit den Schwerpunkten Energie und Ressourcen. Ebenso ist sie Partnerin bei Treberspurg & Partner Architekten.

Scheitern diese Absichten dann so oft am Geld?

Das würde ich nicht absolut sagen, es wird zwar viel versprochen, aber auch meistens gehalten. Zumindest im sozialen Wohnbau in Wien sind die Anforderungen sehr hoch, und das ist gut so. Wir müssen aber auch mit diesen Konzepten in die Nachverdichtung kommen, weniger Boden versiegeln und die Kreislaufwirtschaft fördern.

Was bedeutet „smart“ in dem Zusammenhang mit leistbarem Wohnen?

Es gibt dazu drei wesentliche Punkte: Bedarf reduzieren, Boden schützen und systemisches Planen. Dort ist der Begriff smart anzuwenden, durch unterschiedliche Nutzungen in einem Quartier, in gemischter Bauweise und einer energieneutralen Planung. Darin finde ich die sogenannte Smartness.

Also nicht je kleiner, desto smarter?

Das ist die Definition der Stadt Wien, smart sind hier weniger Quadratmeter bei hoher Alltagstauglichkeit, damit sich die Leistbarkeit darstellt. In der Energietechnik ist smart eher das Thema der Lastverschiebung, um Synergien zu schaffen.

Sollten wir nicht bei leistbarem Wohnen unser Augenmerk auf den Bestand richten?

Auf jeden Fall – das ist die größte Herausforderung heute. Im Bestand kann ich wirklich Energieverbrauch reduzieren, da sind noch hohe Effizienzen drinnen. Die Herausforderung dabei ist die oft sehr heterogene Eigentümerschaft und der Eigentümer:innen- Nutzer:innen-Konflikt. Im bewohnten Zustand zu sanieren, ist auch eine logistische Herausforderung.

Halten Sie das Senken von Steuern bei der Renovierung für eine sinnvolle Möglichkeit?

Ich halte alles für sinnvoll, was die Sanierungsrate hebt und den Prozess leistbarer macht. Ob dies über Steuern oder Förderungen unterstützt wird, kann man diskutieren.

Ist Innovation ein Werkzeug zur Rettung unserer Welt?

Auf der einen Seite ja, aber das ist nichts, worauf wir uns verlassen sollten

Worauf sollen wir uns dann verlassen?

Darauf, dass wir jetzt etwas tun. Ich
kann nur aus der Planung die Grundlagen
liefern, aber um das umzusetzen,
müssen wir alle handeln und gesamtgesellschaftlich
nicht nur Bemühungen,
sondern einen aktiven Beitrag
leisten.

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Energieautark, essbar und …

Der kühle Herbstwind vertrieb die Bewohner:innen vom Gemeinschaftstreff – ein zentraler Platz, der gerne bei angenehmen Temperaturen genutzt wird. Fotos: Florian Albert
Der kühle Herbstwind vertrieb die Bewohner:innen vom Gemeinschaftstreff – ein zentraler Platz, der gerne bei angenehmen Temperaturen genutzt wird. Fotos: Florian Albert

Erdwärme heizt und kühlt, der Wind liefert den notwendigen Strom, wohl proportionierte Bauten den Rahmen für ebensolche Freiraumsequenzen und die Gärten jede Menge Obst, Gemüse und Kräuter. Vor fünf Jahren wurde die Siedlung MGG22 in der Wiener Mühlgrundgasse fertiggestellt. Ein Lokalaugenschein mit den Initiatoren.
FRANZISKA LEEB

Der Herbst ist längst in die Stadt gezogen, und es ist regnerisch und kühl. Daher huscht nur hin und wieder jemand über die Siedlungsplätze. Zwei junge Frauen ernten noch die letzten Früchte. Eine Indianerbanane war noch übrig. Sie ist weniger eine Banane als eine Art Papaya und dass man sie roh essen oder zu Marmelade verarbeiten kann, darüber klärt eine hübsch gestaltete Infotafel auf, auf der verzeichnet ist, was hier alles wächst, wann es blüht und wie es zu verwenden ist. Vom Apfelbaum bis zur Zwergfeige, von der Berberitze bis zum Szechuanpfeffer, vom Fenchel bis zum Waldmeister – alle Bäume, Sträucher, Hecken und Kräuter, die hier in Hülle und Fülle gepflanzt wurden, liefern Essbares.

Was nach ländlicher Idylle klingt, täuscht. Denn davon, dass die heutige Wiener Katastralgemeinde Stadlau einmal ein Marchfelder Bauerndorf war, merkt man heute nicht mehr viel. Im historischen Zentrum beim alten Bahnhof zeugen die letzten Hakenhöfe von der ländlichen Vergangenheit. Südlich davon ist der neue Bahnhof als Umsteigeknoten zwischen Regionalzügen, Schnellbahn und der nach Aspern verlängerten U-Bahn ein monströses Brückenbauwerk, das mit den Gleisanlagen und der daran angeschmiegten Südosttangente gigantische Flächen beansprucht. Kein Bahnhofvorplatz, der diesen Namen verdient, nur Asphaltwüste zwischen Brückenpfeilern und viele neue Siedlungen an der Kante zum Landschaftsschutzgebiet des Wiener Wald- und Wiesengürtels.

Dreier-Allianz

Dem Landwirt Manfred Pfeffer wurden vor etlichen Jahren nach und nach die Pachtgründe, die er bewirtschaftete, gekündigt. Was an eigenem Land blieb, war zu wenig, um eine Familie zu ernähren und als rundherum die Siedlungen in die Höhe schossen, war auch für Herrn Pfeffer klar, dass er ein neues Standbein braucht. Auch Norbert Mayr wechselte beruflich die Seiten. Dem Architekturhistoriker und Publizisten wurde ein 1.000 Quadratmeter großes Grundstück aus Familienbesitz und damit die Verantwortung übertragen, etwas Nützliches damit anzufangen.

Also machten sich der Architekturkritiker und der Bauer daran, einen Bauträger zu finden, mit dem sie ein sinnvolles Wohnprojekt entwickelten konnten und fanden in Direktor Johann Gruber von der Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Neues Leben einen Mitstreiter, der auch willens war, hier etwas Besonders zu wagen. Neues Leben erwarb noch einen Flurstreifen von der Stadt, für einen Teil der Privatgründe wurde ihm das Baurecht erteilt, Mayr agierte bei zwei Häusern selbst als Bauherr. Die Grundbesitzer:innengruppe verständigte sich darauf, die Flächen so aufzuteilen, dass eine sinnvolle Siedlungsstruktur entstehen kann. Der gemeinnützige Bauträger Neues Leben erwarb das Stadt-Grundstück, für einen Teil der Privatgründe wurde ihm das Baurecht erteilt.

Der Gemeinschaftsgarten steht allen Bewohner:innen zur Verfügung.

Drei Grundstücksbesitzer:innen, dazu drei Architekturbüros – in dieser Konstellation braucht es ein gemeinsames Zielbild. Früh war die Idee eines Gemeinschaftsgartens geboren und man verständigte sich auf ein gemeinsames Siedlungskonzept und eine einheitliche Architektursprache. Jetzt, wo alles eingewachsen ist und die Bewohner: innen die Anlage in Beschlag genommen haben, nimmt man den Unterschied noch weniger wahr. Thaler Thaler Architekten (Norbert Thaler, Ursina Thaler-Brunner), Sophie und Peter Thalbauer Architektur sowie Architekt Alfred Charamza setzten auf schlichte Baukörper, die sich einfachen Kategorisierungen wie Zeile oder Punkthaus entziehen und so angelegt sind, dass sie Platzbildungen ermöglichen. Drei quadratische Plätze liegen von winkelförmigen Gebäuden, Wegen und Durchgängen umspült in der Mittelachse.

Im Zusammenspiel mit den beiden zur Mühlgrundgasse hin offenen Plätzen entstanden wohlproportionierte Freiraumsequenzen. Die mit Obstbäumen bepflanzten Plätze mit ihren unversiegelten sandigen Oberflächen sind wie Podien von den Wegen abgesetzt. Bei unserem Besuch wirken sie wie private Gärten, die wegen Kälteeinbruchs fluchtartig verlassen wurden und darauf warten, dass beim nächsten Sonnenschein jemand kommt und die verschiedenfarbigen Tische und Stühle wieder schön arrangiert.

Mediterrane Pracht

Ivan Blagojevic, heute Prokurist bei Neues Leben, trat erst ins Unternehmen ein, als die Siedlung schon in Bau war und sah sie erstmals bei der Übergabe an die Mieter:innen: „Ich war überwältigt vom mediterranen Flair. Das viele und vielfältige Grün und das Verhältnis von Bauvolumen und Freiraum hat mir von Anfang an sehr gefallen.“

Trotz zahlreicher Erdgeschoßwohnungen wird man beim Durchschlendern nicht zur Voyeurin wider Willen, weil mit dicht bewachsenen Rabatten zaunlos ausreichend Distanz zu den privaten Terrassen hergestellt wird. Beraten vom Permakulturspezialisten Siegfried Tatschl wurden sie nach dem Motto „Essbare Stadt“ bepflanzt. Rankhilfen und eine moderierte Mieter: innenbetreuung halfen mit, dass das Konzept auf den privaten Freiflächen nach eigenem Gutdünken fortgesetzt wurde. Nicht alle haben das Angebot gleichermaßen angenommen, aber auf den Balkonen sprießt und rankt es üppiger als anderswo.

„Die Pflanzen machen mehr Arbeit als es aussieht“, erklärt Manfred Pfeffer, der nicht nur Baurechtsgeber ist, sondern sich auch um die Pflege der Anlage kümmert. Mehrere hundert Stunden gehen jährlich für die fachgerechte Grünraumbetreuung drauf. Ursprünglich wollte ich mehr Zäune, weil ich Vandalismus befürchtet habe“ gesteht Herr Pfeffer. „Im Nachhinein muss ich sagen, es ist gut aufgegangen mit dieser Offenheit, es kommen ja viele Leute von außen.“

Mit den Leuten von außen meint er nicht die Bande, die im Sommer zweimal in die Tiefgarage eingebrochen ist und ungeschickt genug war, sich von der Überwachungskamera ablichten zu lassen.

Grünräume wirken ansteckend: Auch die Bewohner:innen pflanzen eifrig auf und rund um ihre Balkone.
Fotos: Florian Albert

Energiewende-Vorreiter

Attraktiver als für Dieb:innen ist die Anlage für Wohnbauexpert:innen. Nicht nur wegen der Architektur und der kulinarisch attraktiven Bepflanzung , sondern auch wegen dem Energiekonzept, bei dem man eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Denn hier wurde ein Modellprojekt für den Weg in eine CO₂-neutrale und klimawandelresiliente Zukunft umgesetzt. Die Wohnungen werden mit Erdwärme nicht nur geheizt, sondern im Sommer auch mittels Bauteilaktivierung gekühlt. Eine Besonderheit ist die Kooperation mit der WEB Windkraft. Wenn Überschussstrom aus der Windkraft vorhanden ist, wird er genutzt, um die Wärmepumpen zu betreiben und den Temperaturspeicher in der Heizperiode maximal zu befüllen.

„Am Anfang, in der Eingewöhnungsphase, gab es wegen dem neuartigen Wärmesystem natürlich etwas Widerstand“, erinnert sich Ivan Blagojevic. „Die Leute haben es vermisst, die Temperatur raumweise selbst steuern zu können.“ Mittlerweile hätten sich alle daran gewöhnt, dass man keinen Heizkörper aufdrehen kann, der nach fünf Minuten heiß wird. „Wir führen hier die Leitungen relativ zentral in der Decke und nicht oberflächennah“, erklärt Neues Leben-Projektleiter Alexander Tschirch, „dadurch ist das System noch träger, dafür kann man kurzfristige Temperaturschwankungen besser abfangen.“

Die Wärmepumpen und 30 Tiefensonden sind im Besitz der Bauträger: innen. Die Salzburger Firma GRT betreut die Mess- und Regeltechnik und Haustechniker Kuster konzipierte die Bauteilaktivierung und verantwortet das Monitoring. Abgesehen von den behördlich vorgeschriebenen Datenerhebungen betreffend der Energieentnahme aus dem Boden werden noch viele weitere Daten gesammelt und ausgewertet. Etwa 30 Wohnungen sind mit Sensoren ausgestattet, die alle Temperaturen erfassen.

„Wichtig ist, dass die Bewohner:innen mitspielen und das System verstehen“, so Herr Blagojevic. Dazu gehört auch, im Sommer nur in der Nacht zu lüften, da ansonsten eine hohe Luftfeuchtigkeit in den Wohnungen entsteht. „Die Entscheidung für dieses Tiefensonden-System ohne Back-up war keine leichte“, erinnert sich Alexander Tschirch, „Aber wir haben unserem Experten Harald Kuster vertraut, dass es funktioniert – und das tut es.“

„Wichtig ist, dass die Bewohner:innen mitspielen und das System verstehen.“

Ivan Blagojevic

Mayr, der auf seinen Häusern in der Zwischenzeit sogar Photovoltaik nachgerüstet hat, kann sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: „Was andere immer noch erforschen, haben wir längst in die Praxis umgesetzt.“ Es sei jedenfalls super gewesen, dass Neues Leben von Anfang an beim Thema Erdwärme und Bauteilaktivierung mitgezogen hat. Skurril sei es aber gewesen, dass mehrmals die Fernwärmeleute angeklopft hätten und ihr Angebote für die Anschlusskosten immer wieder nach unten korrigiert haben. Aus der Bewohner:innenschaft gibt es jedenfalls ein paar deutliche Signale pro Energie- und Klimawende: Es entstehen erste private Balkonkraftwerke und auf einem Laubenganggeländer verkündet ein Transparent von Scientist Rebellion „Fossile Subventionen töten“.

MGG22 – Siedlungssteckbrief
Die Siedlung in der Mühlgrundgasse in Wien-Stadlau ist ein Pionierprojekt. Erstmals im geförderten Wohnbau wurde hier die thermische Bauteilaktivierung zum Heizen und Kühlen in Kombination mit Windenergie eingesetzt. Das Bepflanzungskonzept in der Anlage folgt dem Konzept der „Essbare Stadt“. Zusätzlich steht im angrenzenden Wald- und Wiesengürtel ein ca. 2.500 m² großer Gemeinschaftsgarten für die Bewohner: innen und die Nachbarschaft bereit, der vom Verein „Gemeinschaftsgarten Stadtgemüse 22“ betrieben wird.
- Bauherr: Neues Leben, 120 Mietwohnungen
- Bauherr: M2plus Immobilien GmbH, 40 frei finanzierte Mietwohnungen
- Architektur: Thaler Thaler Architekten (Stiege 1 + 2), Sophie und Peter Thalbauer Architektur (Stiegen 3–7), Architekt Alfred Charamza (Stiegen 8–10)
- Freiraumplanung: Rajek Barosch Landschaftsarchitektur
- Energiekonzept: FIN – Future is Now Kuster Energielösungen GmbH
- Sozialplanung: wohnbund:consult
- Stromanbieter: WEB Windenergie AG
www.mgg22.at

Räume für Gemeinschaft

Weil es draußen kälter wird, wechseln wir in die Waschküche mit angeschlossener Bibliothek. Man hätte den Platz auch für eine Erdgeschoßwohnung nutzen können. „Damit hätte die Anlage aber etwas verloren“, ist Ivan Blagojevic überzeugt. Der Raum wird offensichtlich gern genutzt und ist gut in Schuss. Das raumhohe Regal – „Bücher für Erwachsene bitte nur in die höheren Etagen abstellen“, ersuchen die Nutzungsregeln – ist gut gefüllt.

Aufgewärmt gehen wir weiter zum mit der Wohnanlage mitfinanzierten Gemeinschaftsgarten, der im Süden auf öffentlichem Grund anschließt. Nach anfänglicher Starthilfe wird er autonom von einem Verein betrieben und etwa zur Hälfte von Bewohner:innen der Anlage, zur Hälfte von Personen aus der Nachbarschaft genutzt. Meine vier Begleiter:innen nutzen unseren Spaziergang, um neue Pläne zu schmieden. Denn auch wenn Mayrs M2plus ihre beiden Häuser selbst verwaltet, arbeitet man weiterhin gut und gerne zusammen.

Der Fair-Teiler-Kühlschrank, der im Foyer in einem der Mayr-Häuser bereitsteht, um überschüssige Lebensmittel kostenlos anderen anzubieten, hat unter der Obhut eines Mieters, der sich darum kümmert, während der Urlaubszeit schon gut funktioniert. Er könnte noch einen prominenteren und besser zugänglichen Platz im öffentlichen Raum finden. Zur Erhöhung der Biodiversität in Zukunft noch Stadtimkerei anzusiedeln, fänden die Herren auch attraktiv. Ob das risikolos für die Bewohner:innen ist, darüber muss man sich noch mit Fachleuten beraten.

Das ausgetüftelte Energiekonzept nützt die Kraft der Erde, der Sonne und des Windes.

Mehr geht immer, auch was die Beteiligung der Bewohner:innenschaft angeht. In der Essbaren Stadt wird nicht in dem Ausmaß geerntet, in dem man es sich erhofft hat. „Die Mehrzahl lebt ihr Leben, die Enthusiasten sind im Gemüsegarten draußen“, konstatiert Herr Pfeffer. „Es ist ein guter Mix und das ist gut so“, ist Ivan Blagojevic zufrieden.

Der Grünraum kann sich noch weiterentwickeln, ist man sich einig. Vielleicht tragen dazu auch die Journalismus- Stipendien für das Vermitteln des Klima- und Umweltnotstands bei, die M2plus und Neues Leben jährlich vergeben. Aus 21 Einreichungen vergab die Jury heuer 5.000 Euro an die freie Journalistin Marie Anna Kermer für ihr Vorhaben, auf der Biodiversitätskonferenz 2025 in Kolumbien die Ausgestaltung der 30×30-Ziele mitzuverfolgen und die Unterstützung beim Biodiversitätsschutz durch die Bevölkerung des artenreichen Gastgeberlands zur recherchieren.

Die Bewohner:innen identifizieren sich bereits mit der fossilfreien Energieversorgung in ihrem Wohnprojekt.

Ebenso 5.000 Euro erhielten Anna Stockhammer und Katrin Fischer von der Kleinen Zeitung, die mit einer Rechercheidee zu den bereits direkt spürbaren Folgen des Klimawandels in der Südsteiermark, welche in den letzten Jahren stark von Überflutungen betroffen war, punkteten. Zusätzlich stellten die Stiftenden noch 2.500 Euro für die umfangreiche Recherche von Lucia Steinwender zum Lithiumabbau am Balkan und die damit verbundenen regionalen Probleme für die Biodiversität und die Bevölkerung bereit.

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Vom Abfall zum Wert

Foto: Stadtbaudirektion Wien
Foto: Stadtbaudirektion Wien

Für eine lebenswerte Zukunft ist es entscheidend, auf ganzheitlich nachhaltige Lösungen zu setzen. Die Bauwirtschaft, die große Mengen an Ressourcen verbraucht, spielt dabei eine zentrale Rolle. Der Übergang zur zirkulären Bauwirtschaft bietet die Chance, den Einsatz energieintensiver Primärressourcen zu senken und eine resilientere Zukunft zu gestalten. In Wien soll die Kreislaufwirtschaft ab 2030 im Neubau und bei Sanierungen zum Standard werden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist das Umsetzungsprogramm „DoTank Circular City Wien 2020–2030“.

Zirkuläres Bauen basiert auf drei zentralen Strategien: die Reduktion des Primärrohstoffverbrauchs durch suffiziente Planung und den Einsatz von Sekundärrohstoffen, die Verlängerung der Gebäudenutzungsdauer durch Anpassungsfähigkeit sowie das Schließen von Materialkreisläufen durch rückbaubare Bauweisen und den Einsatz von wiederverwendbaren Baustoffen. In der Praxis bedeutet dies, dass auf Vorfertigung und Modularität gesetzt wird, Fügungen leicht erkennbar und demontierbar sind, und Leitungen gut zugänglich verlegt werden. Eine Hierarchie der Bauteile nach Lebensdauer vereinfacht Reparaturen und den gezielten Austausch einzelner Komponenten.

Herausforderungen und Chancen

Die Umstellung auf eine zirkuläre Bauwirtschaft erfordert systemische Veränderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig, der das Verursacherprinzip in den Mittelpunkt stellt. Neben technischen Aspekten spielen wirtschaftlich-regulatorische Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle. Aktuell ist der Einsatz neuer Materialien oft günstiger, und es fehlt ein funktionierender Sekundärrohstoffmarkt. Haftungsrechtliche Unsicherheiten erschweren die Wiederverwendung von Bauteilen. Für die Aufbereitung schwer trennbarer Verbundmaterialien wurde noch keine umweltfreundliche und ökonomisch tragfähige Methode entwickelt.

Bewusstseinsbildung

Die Informationsplattform Vie.Cycle fördert ein gemeinsames Verständnis für zirkuläres Bauen und stärkt die Identifikation mit dem Ziel einer kreislaufgerecht gebauten Stadt. Im Urban Living Lab „Zirkuläres Bauen Wien“ arbeiten seit Sommer 2024 verschiedene Akteur:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung gemeinsam an Fragestellungen und Lösungen zum zirkulären Planen und Bauen.

Als Orientierungshilfe im Transformationsprozess wurden mit dem Zirkularitätsfaktor (ZiFa) 1.0 umfassende Bewertungskriterien für zirkuläres Bauen und Sanieren erarbeitet. In den kommenden zwei Jahren soll der ZiFa 1.0 anhand von konkreten Testanwendungen in Wien weiterentwickelt und optimiert werden, sodass er an- Foto: Stadtbaudirektion Wien schließend in Neubau und Sanierung angewandt werden kann.

Bereits jetzt werden in Projekten, etwa beim Neubau des Bildungscampus Nordwestbahnhof, zirkuläre Prinzipien wie Trennbarkeit und Rückbaubarkeit umgesetzt, in neuen Stadtentwicklungsgebieten wie RothNEUsiedl werden Vorgaben zum zirkulären Bauen in frühe Planungsphasen integriert und in Zusammenarbeit mit dem Stadterneuerungsprogramm WieNeu+ zirkuläre Ansätze bei Sanierungen forciert.

Die nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen wurde als Ziel der Stadtplanung in der Bauordnung verankert, und mit der Sanierungs- und Dekarbonisierungsverordnung 2024 wird der Einsatz kreislauffähiger Sanierungsmethoden gefördert.

Wien hat entscheidende Schritte in Richtung zirkuläres Bauen gesetzt und damit wichtige Weichen gestellt. Doch die Transformation erfordert weit mehr. Der Erfolg des notwendigen Wandels wird letztlich davon abhängen, wie sehr sich alle für das gemeinsame Ziel einsetzen.

Zur Informationsplattform:
https://viecycle.wien.gv.at


Bernhard Jarolim, Stadtbaudirektor, Leiter des Geschäftsbereichs Bauten und Technik – Magistratsdirektion der Stadt Wien; Auftraggeber des Programms „DoTank Circular City Wien 2020–2030“

Bernadette Luger, Leiterin der Stabsstelle Ressourcenschonung und Nachhaltigkeit im Bauwesen in der Stadtbaudirektion der Stadt Wien, Leiterin des Programms „DoTank Circular City Wien 2020–2030“ und Mitglied des Grundstücksbeirats des wohnfonds_wien; Architektin und Expertin auf dem Gebiet der integrativen Stadtentwicklung.

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Turmbau zu Belgrad

Wohnhaus in der Straße Braće Jugovića von Mihajlo Mitrović, 1977
Wohnhaus in der Straße Braće Jugovića von Mihajlo Mitrović, 1977

Die serbische Hauptstadt ist im Umbruch. Überall wird gebaut, aber leistbarer Wohnraum ist Mangelware. Der Verein für Wohnbauförderung, VWBF, erforschte im Rahmen einer Studienreise die Wohnbausituation.
FRANZISKA LEEB

Nicht alle Bauten der Architektin Jelisaveta Načić (1878–1955) sind so heruntergekommen wie die zweigeschoßigen Häuser der Siedlung an der Straße Venizelosova. Ihre 1909 bis 1911 entstandene Arbeiter:innensiedlung im Stadtteil Dorćol gilt als der erste mit öffentlichen Geldern finanzierte Wohnbau des Balkans und ist nationales Kulturgut. Angesichts des Zustands der Siedlung ist es kaum zu glauben, aber trotz der bröckelnden Fassaden, denen man ansieht, dass jahrzehntelang nur das Notwendigste, und das nicht fachgerecht, repariert wurde, lassen sich immer noch gut proportionierte Architektur und die Wohnlichkeit des Ensembles erkennen.

Ein paar Klimageräte hängen an der Fassade, weniger als an anderen Bauten in der Stadt, vielleicht ein Indiz dafür, dass sich die Menschen, die hier wohnen, das Klimatisieren der Wohnungen nicht leisten können. Dabei ist es überlebenswichtig geworden, Stadt und Wohnungen abzukühlen. Der Sommer 2024 mit einer wochenlangen Hitzewelle mit Temperaturen über 40 Grad war der heißeste in der Messgeschichte des Landes.

Drei Gehminuten von der ursprünglich für Arbeiter der kommunalen Dienste der Stadt errichteten Siedlung liegt das Quartier Novi Dorćol. Hier ist es dank moderner Klimaanlagen wohl auch in den Tropennächten erträglich. Auf dem ehemaligen Industrieareal entstanden Zwölfgeschoßer mit gläsernen Balkonen und steinernen Fassaden. Dazwischen Grünflächen, Spielplätze und Wasserelemente. Hin und wieder wurden Teile der Industriebauten integriert oder es blieben Fragmente alten Ziegelgemäuers stehen. Alles Eigentumswohnungen um einen Durchschnittspreis von rund 4.500 Euro pro Quadratmeter. Etliche davon finden sich als Ferienwohnungen auf Plattformen wie Airbnb oder Booking.com.

Die drei Rudo-Türme („Osttor“) von Vera Ćirković, 1973–76

Fast alles privatisiert

Die beiden benachbarten Siedlungen veranschaulichen gut die Probleme des Belgrader Wohnungsmarkts, der voneiner Eigentumsquote von etwa 95 Prozent gekennzeichnet ist. Nach dem Zerfall Jugoslawiens konnten Mieter:innen ihre Wohnungen mit Abschlägen von bis zu 90 Prozent des Marktwerts erwerben. Bis dahin waren die Wohnbauten im Eigentum von Fabriken, Unternehmen oder Ministerien, deren Wohnbaufonds über monatliche Gehaltsabzüge dotiert wurden, womit den Beschäftigten günstige Wohnungen zur Verfügung gestellt werden konnten.

Den zu Eigentümer:innen gewordenen ehemaligen Mieter:innen fehlt es nun an Budget sowie Know-how für notwendige Sanierungen und nicht alle bewohnen ihr Eigentum selbst, sondern vermieten sie zu den höchstmöglich zu erzielenden Preisen.

Die erste Wohnsiedlung (1909–1911) für Arbeiter wurde von Jelisaveta Načić, der ersten Architektur- Absolventin an der Universität Belgrad, entworfen.

Sanierungsbedürftige Ikonen

Novi Belgrad, mit etwa 210.000 Einwohner: innen der größte Stadtbezirk, entstand als städtebauliches Megaprojekt nach den modernistischen Ideen der Charta von Athen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre auf einer Fläche von 41 Quadratkilometern auf einem bis dahin unbebauten Gebiet am linken Ufer der Save.

Gegliedert in 72 Blöcke, die um großzügige Grünzonen angelegt sind, waren die bekanntesten Architekten des Landes mit der Planung von Regierungsgebäuden, Wohnbauten, Schulen und Freizeiteinrichtungen betraut. Das Grün als auch der soziale Anspruch geraten zusehends unter Bedrängnis durch neue Wohn- und Büroprojekte.

Eines davon ist West 65, das sich seit 2021 in Form einer sechsgeschoßigen Blockrandbebauung und eines 155 Meter hohen Turms über einem Einkaufszentrum im Block 65 der ex-sozialistischen Musterstadt breitmacht. Konzipiert und beworben als Luxusresidenz, entspricht die ausgeführte Qualität nicht den exorbitanten Verkaufspreisen wie zahlreiche Zeitungsberichte darlegen. Ein weiteres – nur notdürftig saniertes – Wahrzeichen der Stadt sind auch die drei um einen runden Platz angeordneten Wolkenkratzer der Rudo- Siedlung im Stadtbezirk Zvezdara.

Osttor werden die ob ihrer Lage genannten abgetreppten Türme genannt. Geplant hat die zwischen 1972 und 1980 entstandenen Türme die Architektin Vera Ćirković, die sich außer mit großvolumigen Wohnbauten zudem mit mehreren innovativen Bildungsbauten einen Namen gemacht hat.

Die Ratko-Mitrović-Grundschule in Novi Belgrad von Petar Petrović, 1972

Problem am Wasser

Das größte Prestigeprojekt der Gegenwart ist zugleich der größte Sündenfall. Belgrade Waterfront auf dem Areal des aufgelassenen alten Bahnhofs an der Save ist das größte Stadtentwicklungsprojekt seit Novi Belgrad. Es verändert die Stadt tiefgreifend und ist ein Lehrbeispiel dafür, was eine investor: innengetriebene Stadtentwicklung anrichten kann.

Es handelt sich um ein Joint Venture zwischen der Republik Serbien und dem in Abu Dhabi ansässigen Investor Eagle Hills, das erst durch das Außerkraftsetzen geltender Bauvorschriften durch die serbische Regierung möglich wurde.

Der 155 Meter hohe West 65 Tower in Novi Belgrad ist eines der aktuellen Luxusprojekte.

Großprojekte ante portas

Das seit 2015 in Umsetzung befindliche Projekt steht seit Anbeginn unter heftiger Kritik seitens Stadtplaner:innen und NGOs, verhindern konnten sie es nicht. Es bringt Belgrad nicht näher ans Wasser, sondern schneidet es davon ab und kappt Verbindungen aus der Altstadt zum Fluss. Symbol der neuen Stadt ist der 168 Meter hohe Belgrade Tower von Skidmore, Owings and Merrill. Zwischen ihm und der Gazela- Brücke erstreckt sich das größte Einkaufszentrum Südosteuropas. Ansonsten dominieren Apartmentblöcke mit Eigentumswohnungen. Der erste Abschnitt auf einer Fläche von 177 Hektar ist fast abgeschlossen, 331 Hektar sollen es insgesamt werden.

Das Gelände für die Expo 2027 wird nächst dem Flughafen nach Plänen der spanischen Fenwick Iribarren Architects entwickelt, die heutige Messe soll dorthin abgesiedelt werden. Parallel dazu herrscht eine große Diskussion über die Nachnutzung der architektonisch bedeutenden Hallen des bisherigen Messegeländes an der Save.

Verständnis für Nachhaltigkeit

In Serbien fehle es noch an einem breiten Verständnis für Nachhaltigkeit, erklärt die in Belgrad aufgewachsene und jetzt in Österreich tätige Architektin Violeta Vujovic-Salhofer, was nicht heiße, dass es nicht Menschen gibt, die sich damit auseinandersetzen. Auch Privatinitiativen, die wieder Wohnungsgenossenschaften aufbauen wollen, gäbe es: „Aber es fehlen gesetzliche Grundlagen dafür und die Offenheit der Gesellschaft.“

Spätestens 2027 lohnt es sich, Nachschau zu halten. Die Stadt im Umbruch wird eine andere sein.


Es braucht Optimierungen

Vor dem Eindruck der Umstände in Serbien erhalten die wohnpolitischen Forderungen des Obmanns des Verbands der gemeinnützigen Bauvereinigungen GBV Klaus Baringer und des VWBF-Obmanns Michael Gehbauer zusätzliche Kontur.

Er sei dem Schicksal dankbar, in einem Land zu leben, wo das System des gemeinnützigen Wohnbaus gut funktioniert, schickt GBV-Obmann Klaus Baringer voraus. Es brauche aber auch in Österreich Optimierungen, um weiterhin den sozialpolitischen Auftrag zu erfüllen und wichtige Auftraggeberschaft der Bauwirtschaft zu bleiben. Dabei gehe es nicht um Einmalspritzen, sondern einen verbesserten strukturellen Ansatz, der mit der neuen Bundesregierung in Angriff genommen werden muss. „Das ganze System muss effektiver werden, die wichtigsten Forderungen daher: Wiedereinführung der Zweckbindung, mehr öffentliche Mittel für den Wohnbau und zentrale Ansprechpartner:innen auf Bundesebene.“

Weder Baringer noch VWBF-Obmann Michael Gehbauer können einer Erhöhung der Eigentumsquote im Wohnbau viel abgewinnen. Derzeit beträgt sie 48 Prozent. Um sie bis 2030 auf 60 Prozent zu heben, wie im ÖVP-Wahlprogramm vorgeschlagen, müssten innerhalb von fünf Jahren 500.000 Wohnungen im Eigentum geschaffen werden. Dazu müsste die Neubauleistung von 60.000 auf 100.000 Wohnungen pro Jahr erhöht werden. „Wie soll sich das ausgehen?“ Oder man privatisiert die Hälfte der gemeinnützigen Wohnungen. „ Ich glaube nicht, dass die Mieter:innen dazu imstande sind, aber wir sind auch nicht dazu bereit.“

Wenn man für Eigentümer:innen günstige Kredite bereitstellen möchte, dann müsse es ohne Weiteres auch möglich sein, Bundeskredite für die Erstellung von geförderten Mietwohnungen anstelle der Bankenfinanzierung bereitzustellen. „Jeder Zehntelprozentpunkt, der die Finanzierung günstiger macht, hilft, den Preis von Mietwohnungen zu senken.“

Der Katalog an Wohnbauthemen für die bevorstehende neue Legislaturperiode ist jedenfalls lang. Neben den drei wichtigen Forderungen gäbe es noch weitere komplexe Themen zu lösen, so Baringer, darunter die Frage, wie viel noch neu gebaut werden muss oder ob überhaupt noch neu gebaut werden dürfe.

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Klimawandel verschärft soziale Ungleichheit

Fotos: Bernhard Schramm Photography, Pflügl
Fotos: Bernhard Schramm Photography, Pflügl

Simone Grassauer studierte Rechtswissenschaften und hat einen Master für Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat bei Sedlak Immobilien ihr Wissen zum Thema nachhaltiges Bauen aufgebaut und ist seit 2023 Geschäftsführerin der Scale GmbH, ein Unternehmen, das Ökobilanzierungen von Gebäuden und Beratung für nachhaltiges Planen und Bauen anbietet.

Rekordhitzetage und -tropennächte in den Städten, Ernteausfälle und Dürreschäden durch die extreme Trockenheit, das dritte Jahrhundertregen-Ereignis seit 2012 mit Schäden in Millionenhöhe – auch der Sommer 2024 hat uns die Auswirkungen des globalen Klimawandels spüren lassen. Wir spüren es im Alltag, die Schlafqualität nimmt ab, das Arbeiten ohne Klimaanlage ist ab Mittag nur noch eingeschränkt produktiv, die Allergiesaison dauert länger.

Überproportional betroffen von den sich verändernden Bedingungen sind einmal mehr auch in Österreich diejenigen, die zu diesem Wandel am wenigsten beitragen: Ältere Menschen, Menschen mit geringem Einkommen, mit gesundheitlichen Einschränkungen, Migrationshintergrund oder niedrigem Bildungsstand, Kinder und Alleinerziehende. Sie leben in schlechteren Wohnverhältnissen, sind weniger mobil und verursachen deutlich weniger Treibhausgas-Emissionen als die oberen Einkommensschichten (lt. Studie des BM für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz). Und sie leiden gleichzeitig mehr an den Folgen, weil sie sich schlechter davor schützen können.

Einkommensschwache Haushalte haben nicht die finanziellen Möglichkeiten, in energieeffiziente Kühlung oder Verschattung zu investieren. Auf der anderen Seite ist es für Vermieter: innen wenig interessant bis nicht leistbar, umfassende energetische Sanierungen vorzunehmen, Fassadenbegrünungen zu finanzieren oder nachhaltige Kühlmöglichkeiten der Wohnungen zu ermöglichen, wenn sie die Kosten dafür nicht an die Mieter:innen weitergeben können. Förderungen bringen jenen etwas, die ein Investitionsbudget für Adaptierungen haben. Das Wissen darüber ist vor allem bei Menschen mit niedriger Bildung und/oder Migrationshintergrund außerdem begrenzt. Es kommt immer wieder vor, dass sie einem Heizungstausch raus aus Öl oder Gas in ihren Wohnungen nicht zustimmen.

Ziel muss es daher sein, Anreizsysteme zu schaffen, damit noch viel intensiver in Maßnahmen zum Klimaschutz bzw. gegen die Auswirkungen des Klimawandels investiert werden kann, zum Wohle auch der vulnerablen Bevölkerung.


Winfried Kallinger startete nach seinem Studium der Rechtswissenschaften 1987 als Bauträger. Seine Immobiliengruppe Kallinger Projekte konzentriert sich mit eigenen Innovationen auf energieautarke und baukulturell relevante Konzepte mit städtebaulichem Schwerpunkt. Er unterrichtet an der Fachhochschule für Immobilienwirtschaft und ist Vortragender an der Universität Wien.

Dass das Klima sich wandelt und die Erderwärmung deutliche Folgen für unsere Lebensumstände hat, ist mittlerweile wohl unbestreitbar geworden und etwas dagegen tun zu müssen, sollte längst nicht mehr eine Frage der Ideologie, sondern einfach ein Gebot der Vernunft sein. Das Problem hoher Energiekosten als besonders im Bereich der Mietwohnungen nur schwer steuerbarer Teil der Wohnkosten betrifft natürlich in besonderem Maß Menschen mit geringerem Einkommen. Wenn die Frage, ob man sich das Heizen noch leisten kann, zum lebensbestimmenden Problem wird, zeigt sich eine Schieflage in unserer Gesellschaft, die längst einer fernen Vergangenheit angehören sollte. Es ist im Grunde beschämend, dass soziale Unterschiede heute noch an solchen banalen Fragen der Lebenswirklichkeit zutage treten müssen.

Die Wärmepumpe oder das Solardach auf dem eigenen Haus wären natürlich eine feine Lösung, sind aber eben nur einer glücklicheren Bevölkerungsschicht zugänglich. Das Pensionist:innenpaar oder die Jungfamilie in der kleinen Altbaumietwohnung können davon nur träumen und ein veraltetes Mietrecht aus der Zeit des vermeintlichen Energieüberflusses hilft dabei ebenso wenig wie Energiekostenzuschüsse, die nur die Wirkung von Wundpflastern haben. Es wäre also höchste Zeit, die Sache gesamthaft in Angriff zu nehmen und ideologische Scheuklappen zu vergessen. Schließlich haben Hauseigentümer:innen und Immobilieninvestor: innen auch nichts davon, wenn steigende Mietausfälle das Investment unsicher machen.

Die steuerlichen Anreize zur Wohnungssanierung in den 1990er-Jahren haben einen ungeheuren Aufschwung zur Hebung des Wohnstandards und zur Verbesserung des Bestands gebracht. Sicher lässt sich das nicht so einfach auf die heutigen Anforderungen übertragen, aber die Brücke zwischen den Interessen der Vermieter:innen und Mieter: innen zu bauen, scheint mir bei nüchterner Betrachtung nicht unmöglich, jedenfalls aber unverzichtbar, soll die Kluft zwischen Opfern des Wandels und denen, die etwas dagegen tun können, nicht weiter aufgehen.

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Weniger ist mehr

St. Pölten wächst und benötigt wie ganz Österreich dringend mehr Wohnungen – viele sehnen sich danach, dass „einfacher gebaut“ wird, um leistbaren Wohnraum rascher zur Verfügung stellen zu können.
St. Pölten wächst und benötigt wie ganz Österreich dringend mehr Wohnungen – viele sehnen sich danach, dass „einfacher gebaut“ wird, um leistbaren Wohnraum rascher zur Verfügung stellen zu können.

Mit dem Thema des 80. Symposiums zur Zukunft des Wohnens „Wieder einfach bauen?“ trafen die Organisatoren, das Fachmagazin WohnenPlus in Kooperation mit der Tageszeitung Der Standard, offensichtlich genau den Nerv der Bauträger, wie auch der planenden und ausführenden Bauwirtschaft. Eine zentrale Botschaft gab es: Einfacher bauen muss das Ziel sein, trotz Komfort und Qualität: Weniger ist mehr.
GISELA GARY

Wenn es über 100 Teilnehmer bis nach St. Pölten schaffen, kann das nur als Bestätigung für das richtige Thema gelten. Der Saal der Hypo Niederösterreich war bestens gefüllt. „Einfacher bauen, weniger Vorschriften, nach dem sehne ich mich schon seit Jahren“, schmunzelt eine Architektin aus Krems in der Hoffnung auf Antworten. Die lieferten einerseits die Expert:innen aus der Praxis wie auch aus Planung und Politik. Michael Swoboda, Leiter Großwohnbau der Hypo Niederösterreich, und Wolfgang Viehauser, Sprecher des Vorstands, begrüßten die Gäste in „ihrem“ Haus.

Die Eröffnung begannen die beiden Herren gleich mit einer Zusage: „Ja, wir sind davon überzeugt, es muss wieder einfacher gebaut werden. Und wir können das ermöglichen, leistbarer Wohnraum als zentrales Element steht bereits in unserer Gründungsurkunde.“

Swoboda ergänzt: „Die GBV sind wichtige Partner für uns. Besonders ist, dass es die GBV sind, die Wohnraum für alle Generationen schaffen, denn auch kleine Gemeinden brauchen die Durchmischung.“ Obwohl das Bankengeschäft um rund 50 Prozent eingebrochen ist, zeigten sich Swoboda und Viehauser optimistisch.

Michael Swoboda, Leiter Großwohnbau der Hypo Niederösterreich, und Wolfgang Viehauser, der Sprecher des Vorstands, eröffneten mit viel Optimismus das 80. Symposium zur Zukunft des Wohnens.

Fabian Blomeyer von der Bayerischen Architektenkammer präsentierte in seiner Keynote die Lösung für einfacheres Bauen: Den Gebäudetyp E – von der Idee zum Gesetz: „Wir konnten das wirklich rasch zu Papier bringen. Rund zehn Prozent der Regelungen sind technische Baubestimmungen – 90 Prozent sind sogenannte anerkannte Regeln der Technik, da können wir einiges weglassen. Rund 3.000 Normen gibt es im Bauwesen und jedes Jahre kommen neue dazu. Bauen ist systemisch kompliziert und teuer geworden. Der Gebäudetyp E erlaubt mehr Freiheit bei der Planung und Genehmigung.“

Aktuell wurden 19 Pilotprojekte definiert, zuvor muss jedoch die neue deutsche Bundesregierung den Gebäudetyp E offiziell als Gesetz anerkennen und die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen unter definierten Voraussetzungen zulassen. Zwei Hürden, Blomeyer hofft, diese mit Ende des Jahres aus dem Weg geräumt zu haben.

Fabian Blomeyer, Geschäftsführer Recht und Verwaltung der Bayerischen Architektenkammer, beeindruckte die Teilnehmer mit den Details zum Gebäudetyp E.

Für ihn ist klar: „Das Bauen muss wieder an seinen Kern zurückgeführt werden, es muss günstiger und einfacher werden.“ Er führte einige Beispiele an: „Risse sind kein Risiko für die Statik, sondern ein rein optischer Mangel. Aber auch Fussbodenaufbauten können einfach schlanker werden. Laubengänge sind eine Lösung für weniger aufwendigen Brandschutz, oder wir können auch auf Puffer bei der Heizlastberechnung verzichten.“ Das Publikum applaudierte euphorisch – und reagierte auf seine Keynote mit einer Vielzahl an Fragen und großem Interesse.

Nutzer:innen im Zentrum

Keine Einigkeit, dafür ein umso regerer Schlagabtausch herrschte in der Expert: innendiskussion zwischen Christof Anderle, leitender Projektentwickler bei Wien-Süd, Walter Bäuml, Technischer Bereichsleiter Strabag, Katharina Fröch, Fröch Architekten ZT GmbH und Vorsitzende der Sektion Architekten in der Bundeskammer der Ziviltechnikerinnen, sowie Isabella Stickler, Alpenland. Katharina Fröch bestätigte, dass einfacher zu bauen bereits in schlanken Konstruktionen möglich wäre – und ja, mit Laubengängen erspare man sich aufwendigen Brandschutz.

Walter Bäuml definiert einfaches Bauen als leistbaren Wohnraum: „Wir müssen das Bauen gesamt betrachten – vom Grundstück bis zum Bau und Betrieb. Wir versuchen, das Thema mit seriellem Bauen zu beantworten. Das ist unser einfaches Bauen, bei dem wir rund zehn Prozent mehr Fläche bei niedrigeren Baukosten schaffen.“ Isabella Stickler sieht das als einen Weg, aber sicher nicht für alle Bauaufgaben, und den Bestand will sie ebenso miteinbeziehen: „Wir haben zwingende Bauvorschriften, aber alles darüber hinaus müssen wir abspecken. Der Knackpunkt ist aber die Rechtssicherheit – die verlangen jeder Bauherr und auch die Bewohner:innen.“

Christof Anderle führt den Wohnbau Theresienfeld als Best Practice an: „Einfach zu bauen heißt, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren und das haben wir dort gemacht, mit Wärmepumpe, Photovoltaik, Bauteilaktivierung und einfachen, flexiblen Grundrissen haben wir zwar keinen Lowtech-Bau errichtet, aber sehr einfach und technisch abgespeckt gebaut – dennoch stehen die Nutzer:innen im Zentrum.“

Stickler sieht den Gebäudetyp E für den Bestand als rasch umsetzbare Lösung und betont zugleich, dass die Wohnbauförderung mit Themenschwerpunkten definiert werden sollte.

Spannende Diskussion der Expert:innen: Fabian Blomeyer, Christof Anderle, Wien-Süd, Moderatorin Franziska Leeb, Isabella Stickler, Alpenland, Walter Bäuml, Strabag, Katharina Fröch, Vorsitzende der Sektion Architekten in der Bundeskammer der Ziviltechnikerinnen

Zu viele Regulative

Der politischen Debatte stellten sich Sven Hergovich, Landesrat für Kommunale Verwaltung und Baurecht, SPÖ Niederösterreich, und Selma Arapović, Sprecherin für Wohnen, Stadterneuerung und Stadtentwicklung, NEOS. Der Wohnbau ist zu kompliziert, und ja, es gibt zu viele Regulative, dieser Aussage stimmten beide Politiker zu, Arapović ergänzt: „Dazu kommen noch die neun Bauordnungen und neun Wohnbauförderungen und laufende Ergänzungen der Bauordnungen.“ Hergovich räumt ein, dass es auch durch die EU einen gewissen Änderungszwang der Bauordnungen gibt.

Die OIB-Richtlinien wurden ja auch nach jahrelangen Diskussionen vereinheitlicht: „Aber der Leidensdruck in der Politik muss schon sehr hoch sein, bis etwas geändert wird“, schmunzelt Arapović. Einig waren sich beide, dass die Sicherheit bei einer Vereinfachung der Regeln oder der Vereinheitlichung der Bauordnungen nicht verloren gehen darf.

Politische Debatte: Sven Hergovich, Landesrat für Kommunale Verwaltung und Baurecht, SPÖ Niederösterreich, und Selma Arapović, Sprecherin für Wohnen, Stadterneuerung und Stadtentwicklung, NEOS

„Aber wir könnten z. B. die Wohnbauförderung für bestimmte Leistungen verdoppeln – wenn leistbarer Wohnraum geschaffen wird, oder für Sanierungen“, so Hergovich. Und natürlich könnten Bundesländer wie Wien und Niederösterreich dabei vorpreschen – und sich auf eine gemeinsame Bauordnung und eine Wohnbauförderung einigen.

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Tischfrage

Fotos: Oreste Schaller

Wieder einfach bauen! Welche Ansätze ermöglichen es uns, ohne Abstriche bei Komfort und Ökobilanz, den Planungs- und Bauprozess zu verwirklichen?

„Wir wollen ganzheitliches Denken forcieren, Themen im Rahmen der Zeit ändern – denn Gesetze können Möglichkeiten zur Vereinfachung bringen.“

Horst Kottbauer, AMM Architektin Mautner Markhof

„Wir müssen hinterfragen, was Komfort überhaupt ist. Das bedeutet doch für jeden etwas anderes und der Anspruch an Komfort ändert sich auch laufend. Wir empfehlen diesbezüglich auch, mit dem Vollkaskodenken aufzuhören.“

Katharina Fröch, Fröch Architekten ZT GmbH und Vorsitzende der Sektion Architekten in der Bundeskammer der Ziviltechnikerinnen

„Wir müssen die Gebäude im Lebenszyklus betrachten – und in Quartieren denken.“

Wolfgang Kurz, Architekt, Kurz Architekten

„ Für uns ist die Antwort einfach: Eine Bauordnung und eine Wohnbauförderung für Österreich.“

Doris Molnar, Vorstandsdirektorin, Immobilienmanagement und Wohnungsagenden, Gedesag

„Der Gebäudetyp E ist für den Bestand eine gute Sache. Dann würden wir die Wohnbauförderung dafür erhöhen, dann sind auch günstigere Mieten möglich. Ein Gebäude besteht aus rund 5.000 Bauteilen – wir könnten es auf 1.500 Teile reduzieren.“

Robert Korab, Projektentwickler

„In der Vorfertigung liegt ein großes Potenzial. Doch die Planung braucht mehr Zeit – dafür müssen die Baubewilligungen rascher erfolgen. Einfach ist zugleich auch meist günstig – und nachhaltig.“

Clemens Hörl, BWM Architekten

„Die Nutzer:innen müssen eingebunden werden, die soziale Komponente ist wichtig. Die Flächenwidmung ist zugleich gefordert – mehr Standardisierung, aber auch mehr Flexibilität.“

Laura Scharf, Arwag Holding

„Leistbares Wohnen muss auch auf den Lebenszyklus gerechnet werden. Komfort und diverse Schutzziele wie Brandschutz müssen transparent kommuniziert werden.“

Maximilian Karger, Kallinger Projekte
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„Die Wärmepumpe ist alternativlos“

Fotos: Marius Höfinger, Ochsner Wärmepumpen
Fotos: Marius Höfinger, Ochsner Wärmepumpen

Zu Besuch bei Kari Ochsner, Firmenchef in fünfter Generation von Ochsner Wärmepumpen in Haag: Es wird keine Energiewende ohne Wärmewende geben, und es wird sicher keine Wärmewende ohne Wärmepumpe geben.
MAIK NOVOTNY

Kari Ochsner hat viel zu tun in diesen Tagen. Zwischen Auslandsreisen ist er gerade wieder in seinem Büro am Stammsitz des Wärmepumpen-Herstellers in Stadt Haag. Sein Hund, ein stattlicher Rhodesian Ridgeback namens Tupac, logiert neben dem Schreibtisch des Firmenchefs auf einer Decke. Seit fast 50 Jahren werden hier Wärmepumpen produziert. Damit war man der Zeit voraus, heute in Zeiten des Green Deal und der Energiewende hat die Welt aufgeholt. Im Gespräch spricht Kari Ochsner, der 2023 zum Präsidenten der Industriellenvereinigung Niederösterreich gewählt wurde, über die Akzeptanz von erneuerbaren Energiequellen.

Die Firma Ochsner hat sich bereits Ende der 1970er-Jahre auf Wärmepumpen spezialisiert, im Rückblick scheint dies eine weitsichtige Entscheidung. Was war damals der Impuls?

Ochsner produziert seit mehr als 110 Jahren Komponenten für die Heizungsindustrie. Mein Vater hat dann auf der ETH Zürich studiert, und war dort von einem Wärmepumpen-Projekt fasziniert, vor allem vom Carnot- Prozess, der ihrer Funktion zugrunde liegt. Er hat dann begonnen, Wärmepumpen industriell zu fertigen. Heute würde man das Start-up nennen. Natürlich hat Ende der 1970er-Jahre keiner gewusst, was eine Wärmepumpe ist und was man da wohin pumpt. Man musste sehr viel Aufklärungsarbeit leisten.

Wo stehen wir heute im Vergleich dazu?

Die Wärmepumpe ist die effizienteste Heiztechnik und die einzige, die heizen und kühlen kann. Sie nimmt 75 Prozent ihrer Energie aus der Umwelt – aus Grundwasser, Boden oder Luft. Wir bei Ochsner haben uns immer konsequent auf die Wärmepumpe konzentriert, mit dem Gesamtspektrum der Anwendungen von zwei Kilowatt bis 2,5 Megawatt. Wir können vom kleinen Schrebergarten in Wien bis zu einem Flughafen oder einem Einkaufszentrum alles heizen und kühlen.

Wie teilt sich bei Ihren Aufträgen das Verhältnis Sanierung zu Neubau auf? Gibt es hier Veränderungen?

Grundsätzlich war das immer
50/50. Nachdem das Neubauvolumen
jetzt auf Basis der aktuellen Zinslage
zurückgeht, ist der Anteil an den Sanierungen
deutlich höher. Neben dem
Gewerbebau nimmt hier auch der Geschoßwohnbau
deutlich zu.

Die Stadt Wien hat mit der Dekarbonisierungs- Initiative „Raus aus Gas“ eine Mammutaufgabe vor sich, bei der Wärmepumpen-Technologie eine große Rolle spielt.

Wir betreiben gemeinsam mit dem Austrian Institute of Technology (AiT) ein Forschungsprojekt zum Thema Gasthermenersatz durch Wärmepumpen in Wien. Die Grundlagenforschung ist abgeschlossen, jetzt gehen wir in die Anwendung. Wir können heute schon sehr viele Wohnbauten in Wien umrüsten. Aber für kleine Einheiten und Etagenlösungen wird es wahrscheinlich noch um die drei Jahre dauern.

Hohe Nachfrage: Fertigung in der Werkshalle bei Ochsner Wärmepumpen

Welche Rolle spielen Forschung und Entwicklung bei Ihnen, und in welchem Bereich gibt es das größte Innovationspotenzial?

Forschung und Entwicklung haben Ochsner seit eineinhalb Jahrhunderten vorangebracht. Auch bei der Wärmepumpe ist die Reise noch lange nicht abgeschlossen. Da geht es um Effizienz, aber auch um das Thema Schall, gerade bei Luft-Wasser-Wärmepumpen im Wohnbau. Es geht um die Lebensdauer, und um das ganze Themenfeld Smart Grid, Regelung, Batteriespeicher und intelligente Netze. Hier kann die Wärmepumpe in Zukunft sehr viel zur Glättung der Netze beitragen. Dabei kommt heute schon Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Wir entwickeln App- Steuerungen mit Predictive Maintenance, bei denen die Maschinen sich proaktiv melden, wenn sie nicht im idealen Zustand laufen. Und natürlich forschen wir auch, was Temperaturen und Kältemittel betrifft.

Die Dekarbonisierung hat den Energie- und Wohnsektor in Bewegung versetzt. Es gibt neue Player:innen und Zuständigkeiten, es gibt Energiegemeinschaften und -nachbarschaften, Bauträger:innen werden Energieanbieter: innen. Wie spüren Sie das als Hersteller? Erklären Sie Hausverwaltungen, wie die Anwendung funktioniert?

Ja, weil immer noch zu wenig bekannt ist, dass sich unsere Wärmepumpen besonders durch ihre Performance auszeichnen. Außerdem gibt es beim Wohnbau noch hartnäckige Vorurteile, was die Wärmepumpe betrifft. Das eine ist: Das geht ja nur für im Einfamilienhaus. Das zweite: Das geht nur mit Fußbodenheizung. Das dritte: Es ist sowieso zu teuer. Und alle drei stimmen einfach nicht mehr.

Es wird oft debattiert, ob es genug Fachkräfte für die Bau- und Energiewende und für die Sanierung gibt. Was ist Ihre Erfahrung?

Wir haben ein sehr gutes Partner: innen-Netzwerk und dadurch genug Handwerker:innen, die unsere Wärmepumpen installieren können. Aber dass die Energiewende auch mehr Fachpersonal brauchen wird, ist klar. Es werden aber auch woanders Kapazitäten frei, beispielsweise können Mechaniker: innen aus der Autoindustrie, deren Jobs durch die Elektromobilität wegfallen, ihre Fähigkeiten für die Wärmewende einbringen. Das Problem, dass wir da nicht genug Fachkräfte hätten, um das umzusetzen, sehe ich nicht.

Gibt es von Ihrer Seite Wünsche, was politische und gesetzliche Rahmenbedingungen und Förderungen auf Österreich- oder EU-Ebene betrifft, oder sind Sie zufrieden mit der Lage?

Ich wünsche mir, dass die Wärmepumpe politisch entideologisiert wird. Dass sie die Heizenergie der Zukunft ist, wird selbst von jenen, die früher Öl und Gas verkauft haben, bestätigt. Der zweite Wunsch ist, dass der elektrische Strom als Leitenergie zu fairen Preisen für die Industrie und die Endverbraucher: innen zur Verfügung steht. Der Netzausbau ist ein Generationenprojekt, da geht es um kritische Infrastruktur. Hier muss der Staat dazu beitragen, dass diese Zukunft sichergestellt wird.

Derzeit sind zahlreiche Modelle für faire Strompreise in Diskussion. Haben Sie ein bevorzugtes Modell?

Der Strompreis ist natürlich eine Frage der sozialen Gerechtigkeit und darin liegt auch eine große Chance. Wenn ich ein Einfamilienhaus habe und dort eine PV-Anlage installieren kann, aber als Mieter:in in Wien zahle ich bei der Förderung von Solaranlagen mit, dann ist das nicht immer nur fair. Wenn aber der Strommarkt seine Spitzen abgeben kann, werden alle profitieren, weil jeder Haushalt selbst entscheiden kann, wann er den Strom verbraucht und wann nicht. Das ist positiv für die soziale Komponente, egal, ob Eigentümer:in oder Mieter:in.

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