Energieautark, essbar und …

Erdwärme heizt und kühlt, der Wind liefert den notwendigen Strom, wohl proportionierte Bauten den Rahmen für ebensolche Freiraumsequenzen und die Gärten jede Menge Obst, Gemüse und Kräuter. Vor fünf Jahren wurde die Siedlung MGG22 in der Wiener Mühlgrundgasse fertiggestellt. Ein Lokalaugenschein mit den Initiatoren.
FRANZISKA LEEB

Der Herbst ist längst in die Stadt gezogen, und es ist regnerisch und kühl. Daher huscht nur hin und wieder jemand über die Siedlungsplätze. Zwei junge Frauen ernten noch die letzten Früchte. Eine Indianerbanane war noch übrig. Sie ist weniger eine Banane als eine Art Papaya und dass man sie roh essen oder zu Marmelade verarbeiten kann, darüber klärt eine hübsch gestaltete Infotafel auf, auf der verzeichnet ist, was hier alles wächst, wann es blüht und wie es zu verwenden ist. Vom Apfelbaum bis zur Zwergfeige, von der Berberitze bis zum Szechuanpfeffer, vom Fenchel bis zum Waldmeister – alle Bäume, Sträucher, Hecken und Kräuter, die hier in Hülle und Fülle gepflanzt wurden, liefern Essbares.

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Was nach ländlicher Idylle klingt, täuscht. Denn davon, dass die heutige Wiener Katastralgemeinde Stadlau einmal ein Marchfelder Bauerndorf war, merkt man heute nicht mehr viel. Im historischen Zentrum beim alten Bahnhof zeugen die letzten Hakenhöfe von der ländlichen Vergangenheit. Südlich davon ist der neue Bahnhof als Umsteigeknoten zwischen Regionalzügen, Schnellbahn und der nach Aspern verlängerten U-Bahn ein monströses Brückenbauwerk, das mit den Gleisanlagen und der daran angeschmiegten Südosttangente gigantische Flächen beansprucht. Kein Bahnhofvorplatz, der diesen Namen verdient, nur Asphaltwüste zwischen Brückenpfeilern und viele neue Siedlungen an der Kante zum Landschaftsschutzgebiet des Wiener Wald- und Wiesengürtels.

Dreier-Allianz

Dem Landwirt Manfred Pfeffer wurden vor etlichen Jahren nach und nach die Pachtgründe, die er bewirtschaftete, gekündigt. Was an eigenem Land blieb, war zu wenig, um eine Familie zu ernähren und als rundherum die Siedlungen in die Höhe schossen, war auch für Herrn Pfeffer klar, dass er ein neues Standbein braucht. Auch Norbert Mayr wechselte beruflich die Seiten. Dem Architekturhistoriker und Publizisten wurde ein 1.000 Quadratmeter großes Grundstück aus Familienbesitz und damit die Verantwortung übertragen, etwas Nützliches damit anzufangen.

Also machten sich der Architekturkritiker und der Bauer daran, einen Bauträger zu finden, mit dem sie ein sinnvolles Wohnprojekt entwickelten konnten und fanden in Direktor Johann Gruber von der Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Neues Leben einen Mitstreiter, der auch willens war, hier etwas Besonders zu wagen. Neues Leben erwarb noch einen Flurstreifen von der Stadt, für einen Teil der Privatgründe wurde ihm das Baurecht erteilt, Mayr agierte bei zwei Häusern selbst als Bauherr. Die Grundbesitzer:innengruppe verständigte sich darauf, die Flächen so aufzuteilen, dass eine sinnvolle Siedlungsstruktur entstehen kann. Der gemeinnützige Bauträger Neues Leben erwarb das Stadt-Grundstück, für einen Teil der Privatgründe wurde ihm das Baurecht erteilt.

Der Gemeinschaftsgarten steht allen Bewohner:innen zur Verfügung.

Drei Grundstücksbesitzer:innen, dazu drei Architekturbüros – in dieser Konstellation braucht es ein gemeinsames Zielbild. Früh war die Idee eines Gemeinschaftsgartens geboren und man verständigte sich auf ein gemeinsames Siedlungskonzept und eine einheitliche Architektursprache. Jetzt, wo alles eingewachsen ist und die Bewohner: innen die Anlage in Beschlag genommen haben, nimmt man den Unterschied noch weniger wahr. Thaler Thaler Architekten (Norbert Thaler, Ursina Thaler-Brunner), Sophie und Peter Thalbauer Architektur sowie Architekt Alfred Charamza setzten auf schlichte Baukörper, die sich einfachen Kategorisierungen wie Zeile oder Punkthaus entziehen und so angelegt sind, dass sie Platzbildungen ermöglichen. Drei quadratische Plätze liegen von winkelförmigen Gebäuden, Wegen und Durchgängen umspült in der Mittelachse.

Im Zusammenspiel mit den beiden zur Mühlgrundgasse hin offenen Plätzen entstanden wohlproportionierte Freiraumsequenzen. Die mit Obstbäumen bepflanzten Plätze mit ihren unversiegelten sandigen Oberflächen sind wie Podien von den Wegen abgesetzt. Bei unserem Besuch wirken sie wie private Gärten, die wegen Kälteeinbruchs fluchtartig verlassen wurden und darauf warten, dass beim nächsten Sonnenschein jemand kommt und die verschiedenfarbigen Tische und Stühle wieder schön arrangiert.

Mediterrane Pracht

Ivan Blagojevic, heute Prokurist bei Neues Leben, trat erst ins Unternehmen ein, als die Siedlung schon in Bau war und sah sie erstmals bei der Übergabe an die Mieter:innen: „Ich war überwältigt vom mediterranen Flair. Das viele und vielfältige Grün und das Verhältnis von Bauvolumen und Freiraum hat mir von Anfang an sehr gefallen.“

Trotz zahlreicher Erdgeschoßwohnungen wird man beim Durchschlendern nicht zur Voyeurin wider Willen, weil mit dicht bewachsenen Rabatten zaunlos ausreichend Distanz zu den privaten Terrassen hergestellt wird. Beraten vom Permakulturspezialisten Siegfried Tatschl wurden sie nach dem Motto „Essbare Stadt“ bepflanzt. Rankhilfen und eine moderierte Mieter: innenbetreuung halfen mit, dass das Konzept auf den privaten Freiflächen nach eigenem Gutdünken fortgesetzt wurde. Nicht alle haben das Angebot gleichermaßen angenommen, aber auf den Balkonen sprießt und rankt es üppiger als anderswo.

„Die Pflanzen machen mehr Arbeit als es aussieht“, erklärt Manfred Pfeffer, der nicht nur Baurechtsgeber ist, sondern sich auch um die Pflege der Anlage kümmert. Mehrere hundert Stunden gehen jährlich für die fachgerechte Grünraumbetreuung drauf. Ursprünglich wollte ich mehr Zäune, weil ich Vandalismus befürchtet habe“ gesteht Herr Pfeffer. „Im Nachhinein muss ich sagen, es ist gut aufgegangen mit dieser Offenheit, es kommen ja viele Leute von außen.“

Mit den Leuten von außen meint er nicht die Bande, die im Sommer zweimal in die Tiefgarage eingebrochen ist und ungeschickt genug war, sich von der Überwachungskamera ablichten zu lassen.

Grünräume wirken ansteckend: Auch die Bewohner:innen pflanzen eifrig auf und rund um ihre Balkone.
Fotos: Florian Albert

Energiewende-Vorreiter

Attraktiver als für Dieb:innen ist die Anlage für Wohnbauexpert:innen. Nicht nur wegen der Architektur und der kulinarisch attraktiven Bepflanzung , sondern auch wegen dem Energiekonzept, bei dem man eine Vorreiterrolle eingenommen hat. Denn hier wurde ein Modellprojekt für den Weg in eine CO₂-neutrale und klimawandelresiliente Zukunft umgesetzt. Die Wohnungen werden mit Erdwärme nicht nur geheizt, sondern im Sommer auch mittels Bauteilaktivierung gekühlt. Eine Besonderheit ist die Kooperation mit der WEB Windkraft. Wenn Überschussstrom aus der Windkraft vorhanden ist, wird er genutzt, um die Wärmepumpen zu betreiben und den Temperaturspeicher in der Heizperiode maximal zu befüllen.

„Am Anfang, in der Eingewöhnungsphase, gab es wegen dem neuartigen Wärmesystem natürlich etwas Widerstand“, erinnert sich Ivan Blagojevic. „Die Leute haben es vermisst, die Temperatur raumweise selbst steuern zu können.“ Mittlerweile hätten sich alle daran gewöhnt, dass man keinen Heizkörper aufdrehen kann, der nach fünf Minuten heiß wird. „Wir führen hier die Leitungen relativ zentral in der Decke und nicht oberflächennah“, erklärt Neues Leben-Projektleiter Alexander Tschirch, „dadurch ist das System noch träger, dafür kann man kurzfristige Temperaturschwankungen besser abfangen.“

Die Wärmepumpen und 30 Tiefensonden sind im Besitz der Bauträger: innen. Die Salzburger Firma GRT betreut die Mess- und Regeltechnik und Haustechniker Kuster konzipierte die Bauteilaktivierung und verantwortet das Monitoring. Abgesehen von den behördlich vorgeschriebenen Datenerhebungen betreffend der Energieentnahme aus dem Boden werden noch viele weitere Daten gesammelt und ausgewertet. Etwa 30 Wohnungen sind mit Sensoren ausgestattet, die alle Temperaturen erfassen.

„Wichtig ist, dass die Bewohner:innen mitspielen und das System verstehen“, so Herr Blagojevic. Dazu gehört auch, im Sommer nur in der Nacht zu lüften, da ansonsten eine hohe Luftfeuchtigkeit in den Wohnungen entsteht. „Die Entscheidung für dieses Tiefensonden-System ohne Back-up war keine leichte“, erinnert sich Alexander Tschirch, „Aber wir haben unserem Experten Harald Kuster vertraut, dass es funktioniert – und das tut es.“

„Wichtig ist, dass die Bewohner:innen mitspielen und das System verstehen.“

Ivan Blagojevic

Mayr, der auf seinen Häusern in der Zwischenzeit sogar Photovoltaik nachgerüstet hat, kann sich einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen: „Was andere immer noch erforschen, haben wir längst in die Praxis umgesetzt.“ Es sei jedenfalls super gewesen, dass Neues Leben von Anfang an beim Thema Erdwärme und Bauteilaktivierung mitgezogen hat. Skurril sei es aber gewesen, dass mehrmals die Fernwärmeleute angeklopft hätten und ihr Angebote für die Anschlusskosten immer wieder nach unten korrigiert haben. Aus der Bewohner:innenschaft gibt es jedenfalls ein paar deutliche Signale pro Energie- und Klimawende: Es entstehen erste private Balkonkraftwerke und auf einem Laubenganggeländer verkündet ein Transparent von Scientist Rebellion „Fossile Subventionen töten“.

MGG22 – Siedlungssteckbrief
Die Siedlung in der Mühlgrundgasse in Wien-Stadlau ist ein Pionierprojekt. Erstmals im geförderten Wohnbau wurde hier die thermische Bauteilaktivierung zum Heizen und Kühlen in Kombination mit Windenergie eingesetzt. Das Bepflanzungskonzept in der Anlage folgt dem Konzept der „Essbare Stadt“. Zusätzlich steht im angrenzenden Wald- und Wiesengürtel ein ca. 2.500 m² großer Gemeinschaftsgarten für die Bewohner: innen und die Nachbarschaft bereit, der vom Verein „Gemeinschaftsgarten Stadtgemüse 22“ betrieben wird.
- Bauherr: Neues Leben, 120 Mietwohnungen
- Bauherr: M2plus Immobilien GmbH, 40 frei finanzierte Mietwohnungen
- Architektur: Thaler Thaler Architekten (Stiege 1 + 2), Sophie und Peter Thalbauer Architektur (Stiegen 3–7), Architekt Alfred Charamza (Stiegen 8–10)
- Freiraumplanung: Rajek Barosch Landschaftsarchitektur
- Energiekonzept: FIN – Future is Now Kuster Energielösungen GmbH
- Sozialplanung: wohnbund:consult
- Stromanbieter: WEB Windenergie AG
www.mgg22.at

Räume für Gemeinschaft

Weil es draußen kälter wird, wechseln wir in die Waschküche mit angeschlossener Bibliothek. Man hätte den Platz auch für eine Erdgeschoßwohnung nutzen können. „Damit hätte die Anlage aber etwas verloren“, ist Ivan Blagojevic überzeugt. Der Raum wird offensichtlich gern genutzt und ist gut in Schuss. Das raumhohe Regal – „Bücher für Erwachsene bitte nur in die höheren Etagen abstellen“, ersuchen die Nutzungsregeln – ist gut gefüllt.

Aufgewärmt gehen wir weiter zum mit der Wohnanlage mitfinanzierten Gemeinschaftsgarten, der im Süden auf öffentlichem Grund anschließt. Nach anfänglicher Starthilfe wird er autonom von einem Verein betrieben und etwa zur Hälfte von Bewohner:innen der Anlage, zur Hälfte von Personen aus der Nachbarschaft genutzt. Meine vier Begleiter:innen nutzen unseren Spaziergang, um neue Pläne zu schmieden. Denn auch wenn Mayrs M2plus ihre beiden Häuser selbst verwaltet, arbeitet man weiterhin gut und gerne zusammen.

Der Fair-Teiler-Kühlschrank, der im Foyer in einem der Mayr-Häuser bereitsteht, um überschüssige Lebensmittel kostenlos anderen anzubieten, hat unter der Obhut eines Mieters, der sich darum kümmert, während der Urlaubszeit schon gut funktioniert. Er könnte noch einen prominenteren und besser zugänglichen Platz im öffentlichen Raum finden. Zur Erhöhung der Biodiversität in Zukunft noch Stadtimkerei anzusiedeln, fänden die Herren auch attraktiv. Ob das risikolos für die Bewohner:innen ist, darüber muss man sich noch mit Fachleuten beraten.

Das ausgetüftelte Energiekonzept nützt die Kraft der Erde, der Sonne und des Windes.

Mehr geht immer, auch was die Beteiligung der Bewohner:innenschaft angeht. In der Essbaren Stadt wird nicht in dem Ausmaß geerntet, in dem man es sich erhofft hat. „Die Mehrzahl lebt ihr Leben, die Enthusiasten sind im Gemüsegarten draußen“, konstatiert Herr Pfeffer. „Es ist ein guter Mix und das ist gut so“, ist Ivan Blagojevic zufrieden.

Der Grünraum kann sich noch weiterentwickeln, ist man sich einig. Vielleicht tragen dazu auch die Journalismus- Stipendien für das Vermitteln des Klima- und Umweltnotstands bei, die M2plus und Neues Leben jährlich vergeben. Aus 21 Einreichungen vergab die Jury heuer 5.000 Euro an die freie Journalistin Marie Anna Kermer für ihr Vorhaben, auf der Biodiversitätskonferenz 2025 in Kolumbien die Ausgestaltung der 30×30-Ziele mitzuverfolgen und die Unterstützung beim Biodiversitätsschutz durch die Bevölkerung des artenreichen Gastgeberlands zur recherchieren.

Die Bewohner:innen identifizieren sich bereits mit der fossilfreien Energieversorgung in ihrem Wohnprojekt.

Ebenso 5.000 Euro erhielten Anna Stockhammer und Katrin Fischer von der Kleinen Zeitung, die mit einer Rechercheidee zu den bereits direkt spürbaren Folgen des Klimawandels in der Südsteiermark, welche in den letzten Jahren stark von Überflutungen betroffen war, punkteten. Zusätzlich stellten die Stiftenden noch 2.500 Euro für die umfangreiche Recherche von Lucia Steinwender zum Lithiumabbau am Balkan und die damit verbundenen regionalen Probleme für die Biodiversität und die Bevölkerung bereit.

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