Die serbische Hauptstadt ist im Umbruch. Überall wird gebaut, aber leistbarer Wohnraum ist Mangelware. Der Verein für Wohnbauförderung, VWBF, erforschte im Rahmen einer Studienreise die Wohnbausituation.
FRANZISKA LEEB
Nicht alle Bauten der Architektin Jelisaveta Načić (1878–1955) sind so heruntergekommen wie die zweigeschoßigen Häuser der Siedlung an der Straße Venizelosova. Ihre 1909 bis 1911 entstandene Arbeiter:innensiedlung im Stadtteil Dorćol gilt als der erste mit öffentlichen Geldern finanzierte Wohnbau des Balkans und ist nationales Kulturgut. Angesichts des Zustands der Siedlung ist es kaum zu glauben, aber trotz der bröckelnden Fassaden, denen man ansieht, dass jahrzehntelang nur das Notwendigste, und das nicht fachgerecht, repariert wurde, lassen sich immer noch gut proportionierte Architektur und die Wohnlichkeit des Ensembles erkennen.
Ein paar Klimageräte hängen an der Fassade, weniger als an anderen Bauten in der Stadt, vielleicht ein Indiz dafür, dass sich die Menschen, die hier wohnen, das Klimatisieren der Wohnungen nicht leisten können. Dabei ist es überlebenswichtig geworden, Stadt und Wohnungen abzukühlen. Der Sommer 2024 mit einer wochenlangen Hitzewelle mit Temperaturen über 40 Grad war der heißeste in der Messgeschichte des Landes.
Drei Gehminuten von der ursprünglich für Arbeiter der kommunalen Dienste der Stadt errichteten Siedlung liegt das Quartier Novi Dorćol. Hier ist es dank moderner Klimaanlagen wohl auch in den Tropennächten erträglich. Auf dem ehemaligen Industrieareal entstanden Zwölfgeschoßer mit gläsernen Balkonen und steinernen Fassaden. Dazwischen Grünflächen, Spielplätze und Wasserelemente. Hin und wieder wurden Teile der Industriebauten integriert oder es blieben Fragmente alten Ziegelgemäuers stehen. Alles Eigentumswohnungen um einen Durchschnittspreis von rund 4.500 Euro pro Quadratmeter. Etliche davon finden sich als Ferienwohnungen auf Plattformen wie Airbnb oder Booking.com.
Fast alles privatisiert
Die beiden benachbarten Siedlungen veranschaulichen gut die Probleme des Belgrader Wohnungsmarkts, der voneiner Eigentumsquote von etwa 95 Prozent gekennzeichnet ist. Nach dem Zerfall Jugoslawiens konnten Mieter:innen ihre Wohnungen mit Abschlägen von bis zu 90 Prozent des Marktwerts erwerben. Bis dahin waren die Wohnbauten im Eigentum von Fabriken, Unternehmen oder Ministerien, deren Wohnbaufonds über monatliche Gehaltsabzüge dotiert wurden, womit den Beschäftigten günstige Wohnungen zur Verfügung gestellt werden konnten.
Den zu Eigentümer:innen gewordenen ehemaligen Mieter:innen fehlt es nun an Budget sowie Know-how für notwendige Sanierungen und nicht alle bewohnen ihr Eigentum selbst, sondern vermieten sie zu den höchstmöglich zu erzielenden Preisen.
Sanierungsbedürftige Ikonen
Novi Belgrad, mit etwa 210.000 Einwohner: innen der größte Stadtbezirk, entstand als städtebauliches Megaprojekt nach den modernistischen Ideen der Charta von Athen in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre auf einer Fläche von 41 Quadratkilometern auf einem bis dahin unbebauten Gebiet am linken Ufer der Save.
Gegliedert in 72 Blöcke, die um großzügige Grünzonen angelegt sind, waren die bekanntesten Architekten des Landes mit der Planung von Regierungsgebäuden, Wohnbauten, Schulen und Freizeiteinrichtungen betraut. Das Grün als auch der soziale Anspruch geraten zusehends unter Bedrängnis durch neue Wohn- und Büroprojekte.
Eines davon ist West 65, das sich seit 2021 in Form einer sechsgeschoßigen Blockrandbebauung und eines 155 Meter hohen Turms über einem Einkaufszentrum im Block 65 der ex-sozialistischen Musterstadt breitmacht. Konzipiert und beworben als Luxusresidenz, entspricht die ausgeführte Qualität nicht den exorbitanten Verkaufspreisen wie zahlreiche Zeitungsberichte darlegen. Ein weiteres – nur notdürftig saniertes – Wahrzeichen der Stadt sind auch die drei um einen runden Platz angeordneten Wolkenkratzer der Rudo- Siedlung im Stadtbezirk Zvezdara.
Osttor werden die ob ihrer Lage genannten abgetreppten Türme genannt. Geplant hat die zwischen 1972 und 1980 entstandenen Türme die Architektin Vera Ćirković, die sich außer mit großvolumigen Wohnbauten zudem mit mehreren innovativen Bildungsbauten einen Namen gemacht hat.
Problem am Wasser
Das größte Prestigeprojekt der Gegenwart ist zugleich der größte Sündenfall. Belgrade Waterfront auf dem Areal des aufgelassenen alten Bahnhofs an der Save ist das größte Stadtentwicklungsprojekt seit Novi Belgrad. Es verändert die Stadt tiefgreifend und ist ein Lehrbeispiel dafür, was eine investor: innengetriebene Stadtentwicklung anrichten kann.
Es handelt sich um ein Joint Venture zwischen der Republik Serbien und dem in Abu Dhabi ansässigen Investor Eagle Hills, das erst durch das Außerkraftsetzen geltender Bauvorschriften durch die serbische Regierung möglich wurde.
Großprojekte ante portas
Das seit 2015 in Umsetzung befindliche Projekt steht seit Anbeginn unter heftiger Kritik seitens Stadtplaner:innen und NGOs, verhindern konnten sie es nicht. Es bringt Belgrad nicht näher ans Wasser, sondern schneidet es davon ab und kappt Verbindungen aus der Altstadt zum Fluss. Symbol der neuen Stadt ist der 168 Meter hohe Belgrade Tower von Skidmore, Owings and Merrill. Zwischen ihm und der Gazela- Brücke erstreckt sich das größte Einkaufszentrum Südosteuropas. Ansonsten dominieren Apartmentblöcke mit Eigentumswohnungen. Der erste Abschnitt auf einer Fläche von 177 Hektar ist fast abgeschlossen, 331 Hektar sollen es insgesamt werden.
Das Gelände für die Expo 2027 wird nächst dem Flughafen nach Plänen der spanischen Fenwick Iribarren Architects entwickelt, die heutige Messe soll dorthin abgesiedelt werden. Parallel dazu herrscht eine große Diskussion über die Nachnutzung der architektonisch bedeutenden Hallen des bisherigen Messegeländes an der Save.
Verständnis für Nachhaltigkeit
In Serbien fehle es noch an einem breiten Verständnis für Nachhaltigkeit, erklärt die in Belgrad aufgewachsene und jetzt in Österreich tätige Architektin Violeta Vujovic-Salhofer, was nicht heiße, dass es nicht Menschen gibt, die sich damit auseinandersetzen. Auch Privatinitiativen, die wieder Wohnungsgenossenschaften aufbauen wollen, gäbe es: „Aber es fehlen gesetzliche Grundlagen dafür und die Offenheit der Gesellschaft.“
Spätestens 2027 lohnt es sich, Nachschau zu halten. Die Stadt im Umbruch wird eine andere sein.
Es braucht Optimierungen
Vor dem Eindruck der Umstände in Serbien erhalten die wohnpolitischen Forderungen des Obmanns des Verbands der gemeinnützigen Bauvereinigungen GBV Klaus Baringer und des VWBF-Obmanns Michael Gehbauer zusätzliche Kontur.
Er sei dem Schicksal dankbar, in einem Land zu leben, wo das System des gemeinnützigen Wohnbaus gut funktioniert, schickt GBV-Obmann Klaus Baringer voraus. Es brauche aber auch in Österreich Optimierungen, um weiterhin den sozialpolitischen Auftrag zu erfüllen und wichtige Auftraggeberschaft der Bauwirtschaft zu bleiben. Dabei gehe es nicht um Einmalspritzen, sondern einen verbesserten strukturellen Ansatz, der mit der neuen Bundesregierung in Angriff genommen werden muss. „Das ganze System muss effektiver werden, die wichtigsten Forderungen daher: Wiedereinführung der Zweckbindung, mehr öffentliche Mittel für den Wohnbau und zentrale Ansprechpartner:innen auf Bundesebene.“
Weder Baringer noch VWBF-Obmann Michael Gehbauer können einer Erhöhung der Eigentumsquote im Wohnbau viel abgewinnen. Derzeit beträgt sie 48 Prozent. Um sie bis 2030 auf 60 Prozent zu heben, wie im ÖVP-Wahlprogramm vorgeschlagen, müssten innerhalb von fünf Jahren 500.000 Wohnungen im Eigentum geschaffen werden. Dazu müsste die Neubauleistung von 60.000 auf 100.000 Wohnungen pro Jahr erhöht werden. „Wie soll sich das ausgehen?“ Oder man privatisiert die Hälfte der gemeinnützigen Wohnungen. „ Ich glaube nicht, dass die Mieter:innen dazu imstande sind, aber wir sind auch nicht dazu bereit.“
Wenn man für Eigentümer:innen günstige Kredite bereitstellen möchte, dann müsse es ohne Weiteres auch möglich sein, Bundeskredite für die Erstellung von geförderten Mietwohnungen anstelle der Bankenfinanzierung bereitzustellen. „Jeder Zehntelprozentpunkt, der die Finanzierung günstiger macht, hilft, den Preis von Mietwohnungen zu senken.“
Der Katalog an Wohnbauthemen für die bevorstehende neue Legislaturperiode ist jedenfalls lang. Neben den drei wichtigen Forderungen gäbe es noch weitere komplexe Themen zu lösen, so Baringer, darunter die Frage, wie viel noch neu gebaut werden muss oder ob überhaupt noch neu gebaut werden dürfe.