Mehr Höhe, mehr Masse, weniger Variation: Viele Architekt:innen kritisieren den Verlust von Spielräumen und Qualitäten im Wohnbau, bedingt durch den steigenden Kostendruck. Doch es gibt auch Optimismus und Hoffnungsschimmer.
— MAIK NOVOTNY
Höflich und respektvoll, aber doch deutlich in seiner Kritik war der Kommentar eines deutschen Architekten zum Bericht über einen aktuellen Wiener Wohnbau auf der Online-Plattform baunetz.de. Die Gebäudetiefe, die Höhe und die serielle Reihung einseitig belichteter Wohnungen hätten sicher Vorteile, was die energetische Kompaktheit, die Erstellungskosten und die Planungsökonomie anginge. Dies werde allerdings mit langen, innen liegenden Erschließungsfluren erkauft: „Wir hätten in keinem Wettbewerb für geförderten Wohnungsbau in Bayern damit eine Chance.“
„Jegliche Individualität wird wegökonomisiert, jedes interessante Detail eingespart.“
Sabine Pollak
Eventuell ließe sich das aufgrund der aktuellen Baukosten nicht vermeiden, subjektiv beurteilt seien solche Räume jedoch „nicht wünschenswert“, meint der Architekt.
Baufelder mit 20 Meter Tiefe und 35 Metern Höhe (also exakt ein Millimeter unter der Hochhausgrenze der Wiener Bauordnung), früher die absolute Ausnahme, sind in aktuellen Bebauungsplänen in Wien inzwischen die Regel. Das ist in manchen Fällen, wie beim Areal der ehemaligen Theodor-Körner- Kaserne in Wien-Penzing, aufgrund der Lage am Rand eines ausgedehnten Parks mit guter Wohnqualität umsetzbar.
In anderen Fällen sind Architekten zu besonderer Grundriss-Akrobatik gezwungen, wie StudioVlayStreeruwitz in ihrem (preisgekrönten) Wohnbau in Floridsdorf mit einem 20-Meter-Baufeld direkt an der Autobahn zeigt, zu der hin gar keine Aufenthaltsräume zulässig waren. In vielen anderen Fällen muss man sich mit einseitig belichteten und belüfteten Regelgrundrissen begnügen, in den unteren Geschoßen oft zusätzlich verschattet durch einen benachbarten 35-Meter-Baublock.
„Durch diesen fehlenden Spielraum werden die entstehenden Lebensquartiere vor allem der Vielfalt beraubt.“
Maria Megina
Kostendruck spürbar
Dies scheint aufgrund des enorm gestiegenen Kostendrucks bei gleichzeitig geforderter Leistbarkeit des Wohnens unvermeidlich, macht aber immer mehr Wiener Architekt:innen Sorgen. „Heute ist alles konform geworden“, klagt Sabine Pollak vom im Wohnbau erfahrenen Büro Köb & Pollak.
„Alle Grundrisse schauen gleich aus, alle Wohnbauten haben dieselben Farben, dieselben Fenster, dieselben zueinander versetzten Balkone. Jegliche Individualität wird wegökonomisiert, jedes interessante Detail eingespart. Mittelgangerschließung ohne Fenster und Plastikfenster waren jahrelang ein No-Go, jetzt geht es plötzlich wieder. Es ist wie DDR-Plattenbau, nur eben mit Wärmedämmung. Das nimmt uns Architekt:innen die Freude am Wohnbau, und wenn wir keine Freude daran haben, haben die künftigen Bewohner: innen wahrscheinlich auch keine.“
Auch Architektin Maria Megina vom Büro Dietrich Untertrifaller konstatiert eine deutliche Erhöhung der gewidmeten Dichte, die wenig Luft für einen freieren Umgang mit Bauvolumina lässt. „Durch diesen fehlenden Spielraum werden die entstehenden Lebensquartiere vor allem der Vielfalt – in Wohntypologien, Erschließungen, Außenräumen und oft auch der gewerblichen Nutzungen – beraubt.“ Der enorme Baukostenanstieg seit 2020 verschärfe diese Situation noch – im geförderten und mehr noch wie im frei finanzierten Sektor.
„Die Ambitionen der Planer:innen im Einsatz von ökologischen und kreislauffähigen Baustoffen und Bauweisen werden oft spätestens mit der Vergabe der Bauleistungen an die Ausführenden erstickt und in Wärmedämmverbundsysteme eingepackt. Das Ergebnis sind überhitzte und oft über das Maß des Erträglichen versiegelte Außenräume und einseitig orientierte Wohnungen, die in zwei oder drei Wohnungstypen den Alltag in starre Zuschreibungen des Schlafens oder Fernsehens kleinstsegmentieren und sicher im Gipskarton verschließen sowie lange Gänge mit obligatorischen grauen Bodenfliesen, die maximal durch ein paar aus dem Raster springende runde Plastikleuchten aufgelockert werden.“
Stiefkind Freiraum
An welchen Qualitäten wird besonders gespart? Darin sind sich die Architekt: innen weitgehend einig: An Kubikmetern Luft in und zwischen den hochverdichteten Blöcken, an der Fassade, wo nach vielen Aushandlungen oft nur verzinktes Balkongeländer und beigefarbener Vollwärmeschutz übrig bleiben, und im Freiraum – auch wenn dieser und die Leistung von Landschaftsplaner: innen heute deutlich mehr Wertschätzung genießen als noch vor zehn Jahren. Das ist auch den Bauträgern bewusst.
„Das förderbasierte System des gemeinnützigen Wohnbaus in Wien verfügt über zahlreiche bewährte Mechanismen zur Qualitätssicherung, deren gebaute Umsetzung auch genau kontrolliert wird.“
Gregor Puscher
„Der Freiraum ist immer das Stiefkind“, sagt Siegfried Igler, Geschäftsführer Neues Leben. Bei der Wohnanlage Kapellenhof in Wien-Donaustadt, die gemeinsam mit Migra und Wogem realisiert wurde, sei im Nachhinein bedauerlich, dass beim großen grünen Innenhof (Planung: Carla Lo) zu stark gespart werden musste, zumal die Baukosten im Jahr 2017 nach heutigen Maßstäben vergleichsweise gering gewesen seien. Die starke Verhandlungsposition der Baufirmen in der damaligen Goldgräberstimmung hätten die Quadratmeterpreise zusätzlich in die Höhe getrieben.
Dabei sind die Qualitäten des geförderten Wohnbaus in den Bauträgerwettbewerben recht genau beschrieben, und die Einführung des Qualitätsbeirats lässt auch auf Besserung hoffen. „Das förderbasierte System des gemeinnützigen Wohnbaus in Wien verfügt über zahlreiche bewährte Mechanismen zur Qualitätssicherung, deren gebaute Umsetzung auch genau kontrolliert wird“, sagt Gregor Puscher, Geschäftsführer des wohnfonds_wien. „Was die Finanzierung betrifft, hat die Stadt Wien hier erst vor Kurzem die Förderung erhöht, um den Bauträgern die Umsetzung von Qualitätsstandards weiterhin zu ermöglichen.“
Denken im Lebenszyklus
Auch Architektin Maria Megina konstatiert neben der Kritik positive Entwicklungen bei den jüngsten Wettbewerbsverfahren. „Zum einen eine merkliche Zunahme der Strukturwidmungen, die das städtebauliche Agieren wieder stärker auf die Gebäudeebene führen, das kreislauffähige Bauen sowie die Intensivierung der Qualitätsgremien und ihre Begleitungen der Planungs- und Bauprozesse sind stark im Steigen. Das stimmt uns Architekturbüros optimistisch.
Wir können die Schere zwischen unseren Pflichten, gesunde und gebende Räume zu schaffen, und den Möglichkeiten der Baurealität etwas schließen.“ Eine große Chance sieht sie in einem Denken in Lebenszykluskosten, wie es in vielen anderen Bauaufgaben zum Alltag gehört.
„Es muss uns schnellstmöglich gelingen, unsere Konstruktionen so zu errichten, dass sie komplett in ihre Bestandteile zerlegt und zum Materiallager für künftige Bauten werden können. Dann haben wir eine Chance, den Kostendruck herauszunehmen und gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern.“ So könnte die Ökologie – eine der vier Säulen des Wiener Wohnbausystems – den benachbarten Säulen Ökonomie und Architektur stützend beistehen. Mit einer besseren Qualität für das ganze Konstrukt.