Versuchsbau „Flexibles Wohnen“

Die Architekten der Werkgruppe Linz entwickelten in den 1970er-Jahren ein flexibles Bausystem und realisierten einen Versuchsbau. Wie haben sich die Ideen rund um Mitgestaltung und Flexibilität in mehr als 40 Jahren Bewohnung bewährt?
REBEKKA HIRSCHBERG*

Linz, 1978. Der Versuchsbau „Flexibles Wohnen“ ist fertiggestellt, elf Familien und Paare ziehen in das Haus mit der ungewöhnlich verspielten Fassade im Haselgraben ein. Diesem Moment geht ein fast zehn Jahre langer Entwurfsund Entwicklungsprozess voraus. Die Ziele waren, mehr Mitgestaltung, mehr Flexibilität, Wohnen für unterschiedliche Lebensphasen und attraktive Alternativen zum Einfamilienhaus zu schaffen, um der Zersiedelung entgegenzuwirken. Die Themen, mit denen sich die Architekten der Werkgruppe Linz, wie auch der internationale Architekturdiskurs damals beschäftigten, sind heute wieder hochaktuell. 50 Jahre nach der Entstehung der experimentellen Wohnbauten aus den 1970er- Jahren ist ein guter Zeitpunkt, um die Entwurfsgedanken zur Flexibilität, Anpassung und Aneignung in der Bewohnung zu betrachten und die Frage zu stellen: Was kann man aus den Ideen und Erfahrungen im Versuchsbau für zukünftige Projekte lernen?

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Vom Forschungsprojekt zum Versuchsbau

Skizze: Rebekka Hirschberg

Mit dem neuen Wohnbauförderungsgesetz 1968 lancierte das Bundesministerium für Bauten und Technik das Programm zur Wohnbauforschung: Ein Prozent aller Fördermittel waren ab nun für die Forschung zweckgebunden. „Österreich hat die Notwendigkeit einer kontinuierlichen und gezielten Wohnbauforschung als öffentliches Anliegen erkannt“, heißt es in der Einleitung zum ersten Forschungsbericht. Die gröbste Wohnungsnot nach dem zweiten Weltkrieg war beseitigt, nun galt es, die Qualität des geförderten Wohnungsbaus zu verbessern.

In den folgenden 20 Jahren wurden 742 Forschungsprojekte durchgeführt und 37 Demonstrativbauten errichtet. Dazu zählen auch das Bausystem und der Versuchsbau „Flexibles Wohnen“, entwickelt in drei Forschungsprojekten der Werkgruppe Linz zwischen 1968 und 1978. Die vier jungen Architekten – Helmut Frohnwieser, Heinz Pammer, Edgar Telesko und Helmut Werthgarner – wollten ein Bausystem entwickeln, das sich den Bedürfnissen der Bewohner und deren Lebenszyklus anpasst. Die Architekten unterschieden dabei zwischen externer und interner Flexibilität – Wohnungen sollten sowohl in ihrer Ausdehnung als auch in der Konfiguration veränderbar sein. Sie entwarfen ein Raster und eine tragende Skelettstruktur aus Beton, in welche verschiedene nichttragende Module für die Adaptierbarkeit der Wohneinheiten eingebaut werden konnten.

Ein Beispiel dafür ist das außen liegende Treppenelement, welches auch im Laufe der Zeit ermöglichen sollte, Wohnflächen auf verschiedenen Geschoßen miteinander zu verbinden. Die Werkgruppe Linz kooperierte mit der Abteilung Systembau der Voest Alpine und der Eigenheim, eine der beiden gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften des Unternehmens, um das Projekt umzusetzen.

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Flexibilität in der Praxis

Alle Bewohner konnten die Grundrisse ihrer Wohnung an ihre Bedürfnisse anpassen. Manche veränderten nur Details wie ein weiteres Fenster oder einen größeren Balkon, eine Familie drehte den gesamten Entwurf um. Als Resultat gleicht keine Wohnung der anderen. In den mehr als 40 Jahren der Bewohnung wurden die Möglichkeiten der internen Flexibilität in vier von elf Fällen genutzt. Dafür erwiesen sich die nichttragenden Wände als essenziell. Zwei Familien legten nach Auszug der Kinder die relativ kleinen Kinderzimmer zu einem größeren Raum zusammen, der durch seine Proportionen mehr Flexibilität in der Nutzung ermöglicht.

Die externe Flexibilität wurde hingegen kaum genutzt. Nur in einem Fall wurde eine Garçonnière mit der angrenzenden Wohnung verbunden. Stattdessen arrangierten mehreren Familien, deren Lebenssituation sich änderte, einen aufwendigen Wohnungswechsel: Eine Familie zog in die neu errichtete Nachbarsiedlung und drei weitere Familien rotierten nach. Der Wohnungswechsel war leichter umzusetzen als bauliche Veränderung der Wohnungen. In der Entwurfsphase war die externe Flexibilität von größerer Bedeutung – das Wohnungsangebot konnte zu einem späten Planungszeitpunkt an die Gruppe der Interessenten angepasst werden.

Außergewöhnliche Hausgemeinschaft

Die Architekten der Werkgruppe Linz hatten ein System für flexibles Wohnen geplant, dessen Versuchsbau sich eher ungeplant zu einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt entwickelte. Durch die Besprechungen vor dem Einzug bildete sich schon früh eine stabile Hausgemeinschaft. Die elf Haushalte organisierten und übernahmen viele Aufgaben selbst – von der Reinigung der Gänge, der Wartung der Heizungskessels, der Gartenpflege bis zum Befüllen der inzwischen dreibändigen Hauschronik.

Die Kinder spielten im angrenzenden Wald, im Garten oder auf den Gängen, die Türen waren nie versperrt. Der wichtigste Raum im Haus, da sind sich alle einig, ist der 35-Quadratmeter- Partykeller, in dem viele gemeinsame Feste, Turnunterricht oder sogar Konzerte veranstaltet wurden. Dies zeigt deutlich, dass es nicht nur Flächen für Begegnung braucht, sondern auch für die Organisation der Bewohnerschaft, um diese Räume zu bespielen. Heute sind diese Aktivitäten etwas eingeschlafen, die Kinder sind schon lange ausgezogen. Den Empfehlungen für eine altersmäßig durchmischten Bewohnerschaft wurde nicht nachgegangen, was auch daran lag, dass alle Bewohner bei der Voest arbeiteten. Der Lebenszyklus der Haushalte verlief relativ parallel und der Altersschnitt der Bewohnerschaft liegt heute bei über 70.

Erkenntnisse

In mancher Hinsicht befinden wir uns heute an einem ähnlichen Punkt wie vor 50 Jahren: Wohnbauten werden größtenteils standardisiert gebaut und die Zersiedelung schreitet weiter ungeordnet voran. Gleichzeitig fordern gesellschaftlich aktuelle Themen wie soziale Vereinsamung, wirtschaftliche Ungleichheit und die Klimakrise zu einem Umdenken in der Wohnbauproduktion auf.

Das Bausystem „Flexibles Wohnen“ hat gezeigt, dass es mehr soziale Strukturen als bauliche Module für ein anpassbares Wohnumfeld braucht. Dazu zählt eine frühe Einbindung der Bewohnerschaft, die Identifikation und das Verantwortungsgefühl für das Gebäude fördert, aber auch Begegnungsräume für die Bildung einer Hausgemeinschaft. Und nicht zuletzt, dass auch ein System mit bereits erstellten Rahmenbedingungen unter geringerer Mitwirkung der Bewohnerschaft in der Planung als das bei vielen Baugruppen der Fall ist, zu einem erfolgreichen Gemeinschaftshaus werden kann. So könnten die Vorteile gemeinschaftlichen Wohnens – wie geteilte Ressourcen, Mitbestimmung, ein sicheres soziales Umfeld und nachbarliche Unterstützung – einem größeren Anteil der Bevölkerung ermöglicht werden.

*Rebekka Hirschberg hat den Versuchsbau für ihre Masterarbeit „Wohnbauforschung im Versuchsbau. 50 Jahre Flexibles Wohnen in Linz“ im Jahr 2020 mehrfach besucht und ausführliche Interviews mit den Bewohnern geführt.

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