Der Mensch als Maßstab

Um Bewohner:innen besser verstehen zu können und für die Zukunft gewappnet zu sein, hat die Karlsruher Volkswohnung GmbH gemeinsam mit dem Berliner Architektur- und Forschungsbüro Kopvol architecture & psychology das Forschungsprojekt „Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ initiiert. Die wissenschaftlich fundierten und praxisbezogenen Ergebnisse sind überraschend.
GEMMA KOPPEN und TANJA C. VOLLMER,
Kopvol architecture & psychology

Die Weltgesundheitsorganisation WHO formulierte bereits 1989 in ihren Health principles of housing, dass eine Wohnung neben ihrem physischen Schutz auch maßgeblich für psychologische Sicherheit, Bindung an Gemeinschaft und Kultur sowie individuelle Ausdrucksmöglichkeiten sorgen sollte. Diese Anforderungen für die psychosoziale Gesundheit sind nicht nur schwer in konkrete Bauformen zu übersetzen, es gab bisher auch kaum empirische Daten, die diese Prämissen gerade im sozial geförderten Wohnungsbau wissenschaftlich hätten begründen können.

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Gegenwärtig führen – neben Wohnraumknappheit und allgemeinen Preissteigerungen – insbesondere Aspekte der Vereinsamung, des Integrationsdrucks, der Verunsicherung durch Globalisierungsfolgen sowie auch gewandelte Arbeitsformen und der durch soziale Medien verstärkte Selbstverwirklichungsdruck zu veränderten psychischen und sozialen Belastungen. Infolgedessen ist die Frage danach, wie Wohnarchitektur konkret zum Erhalt und zur Förderung psychosozialer Gesundheit beitragen kann, dringlicher denn je. Das Forschungsprojekt „Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ suchte Antworten auf diese brisanten Fragen. Gefördert wurde das beispielgebende Projekt 2021 bis 2023 im Rahmen der Wohnraumoffensive Baden-Württemberg.

Unterschiedliche Bedürfnisse

In einer aufeinander aufbauenden sogenannten progredienten Stichprobe wurden bis zu 1.770 Bewohner:innen der Volkswohnung in drei Testbereichen untersucht:

  • Die wohnbezogenen Bedürfnisse. In den Wissenschaftstheorien der modernen Architekturpsychologie gilt die Bedürfnissättigung im Rahmen der Umgebungsgestaltung – neben der Wahrnehmung – als zentraler Faktor der psychosozialen Gesundheit.
  • Die architekturbezogene Gesundheit. Hierbei wurden konkrete Entwurfsmerkmale, wie der Öffnungsgrad der Fassade oder die funktionale Anordnung einzelner Räume und deren Zusammenhang zum Gesundheitserleben und der psychischen Gesundheit der Bewohnenden erfasst.
  • Im dritten und letzten Testbereich wurde darum die psychische Gesundheit mittels standardisierter Tests erhoben.

Die Ergebnisse der Studie klären erstmals auf, dass – neben dem bereits sehr gut erforschten Bedürfnis nach Sicherheit – (nur) vier der bisher in der Literatur zahlreich diskutierten Bedürfnisfelder eine Rolle spielen, wenn es darum geht, über die Wohnarchitektur Bedürfnisse zu befriedigen und damit einen positiven Einfluss auf die psychosoziale Gesundheit auszuüben.

Das Bedürfnis nach Komfort richtet sich eindeutig auf den Wunsch nach effizient gestalteten Wohnräumen mit ausreichend Staumöglichkeiten und kurzen Wegen.

Tanja C. Vollmer
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Innerhalb dieser vier Bedürfnisfelder – Bedürfnis nach Beziehungen, Entwicklung, Zugehörigkeit und Komfort – konnten sich folgende Zusammenhänge nachweisen lassen. Das Bedürfnis nach Privatheit ist deutlich höher als das Bedürfnis nach sozialer Interaktion mit den Hausbewohner:innen. Je besser der Sicht- und Lärmschutz gegenüber den Nachbar:innen gewährleistet ist, desto höher sind das subjektive Wohlbefinden und die gesundheitsbezogene Lebenszufriedenheit.

Das Bedürfnis nach Entwicklung sollte zu gleichen Teilen durch regenerierende und stimulierende Entwurfsmerkmale der Wohnung und Wohnumgebung befriedigt werden. Je eingeengter sich die Bewohner:innen fühlen, desto ungesünder nehmen sie sich selbst und ihr Leben wahr. Das gesundheitsrelevante Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist dann befriedigt, wenn der Wohnraum ausreichend Möglichkeit zum Selbstausdruck, also zur individuellen Gestaltung, bietet und gleichzeitig traditionelle Strukturen, wie beispielsweise klassische Raumaufteilungen, aufweist. Das Bedürfnis nach Komfort richtet sich eindeutig auf den Wunsch nach effizient gestalteten Wohnräumen mit ausreichend Staumöglichkeiten und kurzen Wegen.

Neue Anforderungen

Aus den Ergebnissen lassen sich neue Anforderungen an die Wohnarchitektur im geförderten Wohnungsbau ableiten. In der Publikation stellen wir diese exemplarisch als „Qualitative Raumkonzepte“ vor. Dabei benutzen wir einerseits konkrete und bekannte Raumelemente – wie Loggien oder Wintergärten –, um Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung durchzuspielen.

Buchtipp 
„Der Mensch als Maßstab. Architektur und psychosoziale Gesundheit im bezahlbaren Wohnungsbau“ 
ISBN 978-3- 95853-880-1 Pabst Science Publisher, 2023

Andererseits zeigen wir neue Lösungen beispielsweise für den Umgang mit Raumhöhen und Raumanordnungen auf, die gerade für Familien und auf beschränkter Fläche mehr Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten und hierüber die psychosoziale Gesundheit positiv beeinflussen können. Über die Betrachtung der einzelnen Wohnung hinaus gibt die Studie aber auch Hinweis darauf, dass sich Hausgemeinschaften, die über einen ähnlichen Lebensentwurf verfügen (Single, mit Kindern, berufstätig) von den Bewohnern und Bewohnerinnen als gesünder empfunden werden als gemischte Hausgemeinschaften.

Ein darauf reagierendes Wohnumfeld, das wir „Lebensentwurfstypologien“ nennen, kann die notwendigen geschützten und stützenden sozialen Erholungsräume bieten, setzt aber eine Dynamisierung des Mietvertragsrechts voraus. Für diesen und weitere wichtige wohnungspolitische und immobilienwirtschaftliche Diskurse liefert die Studie eine solide – bislang fehlende – Datenbasis.

Grundrisse der ineinandergreifenden zweigeschoßigen Fünf-Zimmer-Wohnungen in einem konzeptuell adaptierten exemplarischen Bestandsgebäude der 1960er-Jahre. Grafik: Kopvol architecture & psychology / Pabst Science Publishers 2023

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