Über den Wolken von Autobahn und Arena

Vor knapp zwei Jahren wurde neben der Südost-Tangente das Hochhaus-Ensemble The Marks fertiggestellt. Wie wohnt es sich in den 20. und 30. Stöcken mit Blick auf Wien? Ein zum Teil, aber nicht nur herzerwärmender Lokalaugenschein an einem kalten, kalten Wintertag.
— WOJCIECH CZAJA

Ein Wind, ein Sauwetter, eine Eiseskälte bis ins Mark hinein. „Und vor wenigen Tagen“, sagt Theodor Siniša, „hat es uns sogar die Pflanzen am Balkon umgeweht, und das Spielzeug von unserem Kleinen, das das ganze Jahr über draußen im Freien ist, hat es durcheinandergewirbelt und zum Teil in ganz St. Marx verstreut. Da merkt man erst, wie hoch oben man ist.“ Gemeinsam mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn, der wie in einer Luxuskutsche dick eingepackt im Kinderwagen drinsitzt, bewohnt der 34-jährige IT-Consulter eine 70-Quadratmeter-Wohnung im 22. Stock, mit direktem Blick auf die Wiener Innenstadt.

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„Als meine Frau schwanger wurde, war klar, dass wir in eine größere Wohnung umziehen müssen. Wir haben uns um eine Genossenschaftswohnung beworben, waren ein paar Monate lang auf der Vormerkliste, und plötzlich kam eines Tages das Angebot, dass wir uns eine Wohnung im Hochhaus anschauen können. Damit rechnet man nun wirklich nicht, wenn man sich für ein Wohnticket anmeldet.“ Die Lage sei sehr speziell, sagt Siniša, aber wenn einem das Urbane liege, gewöhne man sich schnell an das Grundrauschen unten auf der Südost- Tangente. „Ich kann mich noch an das Autohaus Forstinger erinnern, das hier früher mal stand, und an den großen Parkplatz davor. Und nun ist das alles weg, und auf einmal stehen hier drei riesige Türme mit insgesamt 1.200 Wohnungen. Unglaublich, was Stadtplanung alles schaffen kann, wenn man sich das einmal vergegenwärtigt.“

Die Geschichte der drei Wohntürme unter dem Titel The Marks, damals noch als Projektentwicklungsgebiet MGC Plaza firmierend, reicht bis ins Jahr 2013 zurück. Auf Basis eines kooperativen Planungsverfahrens wurde damals ein städtebaulicher Realisierungswettbewerb ausgeschrieben, den das StudioVlayStreeruwitz für sich entscheiden konnte. Damit ging der höchste der drei Türme mit 126 Metern Bauhöhe fix an das Siegerbüro. Das zweitplatzierte Büro RLP Rüdiger Lainer + Partner lieferte den Entwurf für den 114 Meter hohen Turm, die drittplatzierten BEHF Architekten schließlich bekamen den Zuschlag für den dritten Tower mit 108 Meter Höhe.

Vertraglich festgehalten

2016 haben die vier Bauträger Buwog, ÖSW, wbv-gpa und Neues Leben die 1,45 Hektar große Liegenschaft gekauft und mit der Stadt Wien einen städtebaulichen Vertrag abgeschlossen, in dem zentrale Kriterien zu den Themen Architektur, Freiraum, Mobilität und soziale Nachhaltigkeit festgehalten wurden. Bestandteil des Vertrags waren zudem ein gemeinsamer, dreigeschoßiger Sockelbereich mit Gewerbeflächen und offener Fahrradgarage, eine kooperative, bauplatzübergreifende Freiraumplanung durch Rajek Barosch Landschaftsarchitektur sowie eine Quote von zumindest 40 Prozent leistbarer Wohnungen nach dem Modell der Wohnbauinitiative (WBI). Im Frühjahr 2020 war Spatenstich.

Heute präsentieren sich die drei Türme als heterogenes Ensemble mit einem gemeinsamen Vorplatz in der Mitte: Die Buwog baute mit BEHF den Helio Tower mit streng kariertem Betonraster und gläserner Loggienstruktur, das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW) errichtete mit RLP den Q Tower mit zweifarbigen Balkonlamellen in Bronze- und Goldoptik samt dahinter liegendem Pfirsichputz, und wbv-gpa und Neues Leben zogen als Joint Venture the one hoch, ein Höhensuperlativ mit einer starken, expressiven Balkonlandschaft. „Das ist das höchste Wohnhochhaus, das die Gemeinnützigkeit je auf die Beine gestellt hat, ein 120-Millionen-Euro-Projekt mit 402 Wohnungen in Summe“, sagt Siegfried Igler, Geschäftsführer Neues Leben. „Im Sinne der öffentlichen Verantwortung war für die wbv-gpa und uns daher von Anfang an klar, dass wir das Risiko aufteilen müssen.“

Halbe-halbe-Zusammenarbeit

the one umfasst 178 Mietwohnungen und 224 frei finanzierte Eigentumswohnungen, wobei die Aufteilung zwischen den beiden Wohnbauträgern nach dem Modell A-B-A-B stockweise alteriert. Einen Unterschied zwischen wbv-gpa und Neues Lebens gebe es nicht, meint Igler, lediglich bei den Eigentumswohnungen habe man im Bereich Holzboden, Verfliesung, Sanitärausstattung und Klimaanlage in den obersten zehn Etagen etwas variiert. „Das, was der Markt halt so verlangt, wenn man im höherpreisigen Segment unterwegs ist“, meint Igler. „Und es war eine sehr gute Halbe-halbe-Zusammenarbeit, die sich bis heute bewährt hat – von der Errichtung über den Vertrieb bis hin zur Hausverwaltung.“

Siegfried Igler zu Besuch im 38. Stock. Nicht sehr lauschig heute.

Auch für Architektin Lina Streeruwitz, Partnerin im StudioVlayStreeruwitz, war die Kooperation mit zwei Bauträgern kein Nachteil. „Es war schön zu sehen, dass sowohl Siegfried Igler als auch Michael Gehbauer jeweils ihre Schwerpunkte und ihre persönlichen Steckenpferde hatten“, so Streeruwitz. „Und natürlich waren einige Planungsund Kommunikationsschritte die doppelte Arbeit, weil wir gleich zwei Adressaten und Entscheidungsträger hatten, aber dafür hat der Turm auch doppelt so viel Qualität.“ Besonders stolz ist die Architektin auf den Sauna- und Wellnessbereich im dritten Stock, auf den vorgelagerten Outdoor-Pool samt Sonnendeck sowie auf die 18 Meter hohe Lobby im Eingangsbereich.

Und genau die ist, wie sich bei der Vor-Ort-Begehung herausstellt, auch die Achillesferse des Projekts. Während man im Helio Tower mit einer offenen, einladenden Ästhetik in einer Mischung aus Volksgarten-Pavillon und Gummibaum-Dschungel willkommen geheißen wird, und während der Q Tower freundlich Hallo sagt mit viel Licht und Luft und Holz und einer goldfarbenen Wendeltreppenskulptur, muss man im Foyer von the one schon viel energetischen Anlauf nehmen, um den Raum unbeschadet zu passieren. Atemberaubend spannen sich über einem die Stege durch den Canyon, vom Stiegenhauskern bis zur Fassade und zu den Gemeinschaftsräumen, doch die düsteren Oberflächen aus Stein, Metall, Beton und dunkler Wandfarbe sind leider alles andere als einladend. Da helfen auch der Glastisch und die drei schwarzen Lederfauteuils nicht weiter.

Rendezvous auf der Laufbahn: Neues-Leben-Chef Siegfried Igler, Architektin Lina Streeruwitz und Hausverwalterin Sanja Boskovic

1:0 für Turm gegen Lobby

Die Wahrnehmung deckt sich auch mit jener der Bewohner:innen vor Ort. Wen auch immer man fragt an diesem eiskalten Wintertag, herrscht scheinbar einstimmige Einigkeit: Von außen betrachtet finden alle the one am schönsten, am spannendsten, am besten eingebettet im urbanen Gefüge, und auch am stimmigsten im Dialog mit dem Sockelbauwerk und der offenen Fahrradgarage rundherum, doch bei den Innen- und Willkommensräumen haben der Q Tower und Helio Tower eindeutig die Nase vorn. Es sind auch die einzigen Lobbys, in denen die Leute kurz stehen bleiben, mit dem Amazon- Päckchen und den Supermarktsackerln in der Hand, und mit ihren Nachbar:innen für ein halbes Minütchen ins Plaudern kommen.

Doch dafür, erzählt Sanja Boskovic, Hausverwalterin bei Neues Leben, sei man stolz darauf, dass in einem der Gemeinschaftsräume sogar schon mal eine Hochzeitsfeier stattgefunden hat. Das erlebe man im sozialen Wohnbau auch nicht alle Tage. Und auch der Pool – der einzige im ganzen Quartier The Marks – sei eine soziale Errungenschaft, für die man den einen oder anderen Nachteil gerne in Kauf nehme. Oder, wie Architektin Streeruwitz meint: „Ja, das haben wir schon paarmal gehört, dass die Leute die anderen Lobbys viel schöner finden. Aber damit kann ich leben. Doch dafür gibt es einen Swimmingpool, um den sich wbv-gpa und Neues Leben wirklich intensiv bemüht haben.“

Die Macht der Matrize

Kompromisse musste man im Planungsprozess auch bei der Fassade eingehen, besser gesagt bei den umlaufenden Loggien und Balkonbändern, die – ähnlich dem Q Tower – im Entwurfsstadium noch mit perforierten Metall- Elementen verkleidet waren. „Die Metall- und Fassadenbauer haben davon dringend abgeraten“, erzählt Siegfried Igler. „Sie haben befürchtet, dass es bei den Paneelen aufgrund der Fallwinde und der hohen Windgeschwindigkeiten hoch oben zu Vibrationen und Geräuschentwicklungen kommen könnte. Also mussten wir diese Option wieder ad acta legen.“

Aus der Not wurde eine mehr als schöne Tugend geboren: Während der obere Bereich der Brüstung verglast ist, hat StudioVlayStreeruwitz in den massiven Balkonsockeln nun ein serielles 3-D-Relief entwickelt, indem in die Schalungstafeln Matrizen mit rund vier Zentimeter breiten, vertikalen, prismatischen Graten eingearbeitet wurden. Mit Erfolg: Das Vor- und Zurückspringen der privaten Freiräume und das abwechslungsreiche Licht- und SchatSchattenspiel an der Oberfläche haben dem Einserturm nicht umsonst ein Platzerl am Siegerpodest der Schönheit beschert.

Auch bei den Farben im Stiegenhaus mussten die Architekt:innen ihr ursprüngliches Gestaltungskonzept in Rücksprache mit den Bauträgern noch mal überarbeiten. „Wir hatten uns zu Beginn an der Klaviatur der Farben von Le Corbusier angelehnt“, erzählt Lina Streeruwitz. Doch genau das, so Michael Gehbauer, Geschäftsführer der wbv-gpa, sei nicht wirklich realistisch gewesen.

„Das hat einerseits mit Aspekten von Pflege, Reinigung und Ausbesserungsarbeiten zu tun. Andererseits berufen wir uns hier auch auf unsere langjährige Erfahrung als Wohnbauträger: Farbe ja, aber bitte nicht im unmittelbaren Bereich vor der Wohnung, denn irgendwo fängt die Privatsphäre der Bewohner:innen an!“ Die Farbe reduziert sich nun auf den Vorbereich der Lifte, dafür gibt es, verteilt im ganzen Haus, ein Kunst-am-Bau- Projekt von Katrin Plavček.

Hier zu laut, dort einsame Stille

So weit alles super in The Marks? Fast! „Wie überall, wo auf engstem Raum 3.000 Menschen leben“, meint Siegfried Igler, „kommt im gesellschaftlichen Durchschnitt schon ziemlich viel zusammen. Mal sind Drogen im Spiel, mal gibt es einen Schuss in einer Wohnung, und dann die Sache mit den Lärmbeschwerden zur benachbarten Arena, die vor allem von den Bewohner: innen des Helio Tower ausgegangen sind.“ Einige Mieter:innen und Eigentümer:innen hätten sich von den Konzerten des benachbarten Kulturzentrums, das hier bereits seit 1977 zuhause ist, so stark belästigt gefühlt, dass sie vor Gericht gezogen sind. Fazit: Mit einer 600.000-Euro-Förderung der Stadt Wien bekam die Arena eine Schallisolierung und eine neue Soundanlage.

Theodor Siniša, Jennifer Lippl und Felix Putzke wohnen allesamt jenseits der 50-Meter-Höhenmarke und genießen die exotische Lage von The Marks mit Blick auf die Stadt.

„Das ist eigentlich schon lächerlich“, meint Jennifer Lippl. Seit wenigen Tagen teilt die 36-Jährige ihre 48-Quadratmeter- Wohnung im 18. Stock im Q Tower mit einem drei Monate alten Hund aus dem Tierheim. „Die Leute wissen ja, wo sie herziehen. Sie haben eine viel befahrene A23 vor der Haustür, und auch eine Arena, die seit fast 50 Jahren eine Kulturinstitution hier vor Ort ist. Natürlich hört man bei offenem Fenster die Musik bis hierher, na und? Wen das stört, der ist anderswo in Wien besser aufgehoben.“ Die Shop-Managerin schätzt The Marks aber vor allem aufgrund der guten Nachbarschaft. „Hochhäusern wird immer eine gewisse Anonymität vorgeworfen, aber die gibt es bei uns im Haus nicht wirklich. Wir sind gut vernetzt und fangen immer wieder einen Tratsch an, wenn wir uns über den Weg laufen.“

Und während es in fünf Minuten Gehdistanz mitunter zu laut ist, herrscht im Sockel von The Marks teilweise leider immer noch Stille. Im Rahmen des städtebaulichen Vertrags hatten sich die vier Bauträger dazu verpflichtet, im dreigeschoßigen Sockel Gewerbeflächen zu errichten. Zu ebener Erde gibt es einen Supermarkt, ein Fitness-Studio, einen Modeladen, einen gewerblichen Vermieter von Kurzzeitwohnungen und zwei asiatische Kettenlokale, einmal für den stilvollen Genuss und einmal fürs schnelle Essen. Und sogar ein 24-Stunden-Automatenladen namens Marktzeit mit regionalen, nachhaltigen Lebensmitteln hat sich hier eingemietet. Doch in den Obergeschoßen sieht die Sache leider anders aus. Ein Teil der 2.500 Quadratmeter Gewerbefläche steht immer noch leer.

Eckig im Kreis laufen

„Wir suchen eifrig nach Mieter:innen, und es gab bereits einige ernsthafte Interessent: innen, aber das ist hier draußen nicht so einfach, wie sich das die Stadt Wien im städtebaulichen Vertrag vorgestellt hat“, sagt Igler. „Wir haben es hier mit einem aufstrebenden Stadtteil zu tun, und für eine erfolgreiche Vermietung von so vielen Gewerbeflächen fehlt die kritische Masse. Ich bin voller Hoffnung, aber ich fürchte, das wird noch ein bisschen dauern.“ Umso erfreulicher fällt auf, wie in einem höchst informellen Rahmen so manche Raumressourcen clever genutzt werden: Im Sockelbereich des Helio Tower gibt es einen Kindergarten, der einen Gemeinschaftsraum im 3. Geschoß untertags einfach mitnutzt, während er am Wochenende und in den Abendstunden der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Die Fahrradgarage im Sockel des Wohnprojekts war Bestandteil des städtebaulichen Vertrags. Noch wird das Angebot eher zaghaft angenommen.

„Ja, es gibt noch einen gewissen Leerstand, aber ich denke, das ist bei so jungen Projekten keine Seltenheit“, sagt Felix Putzke, der eine Wohnung im 30. Stock des Helio Towers bewohnt. „Für mich passt es gut, denn die wichtigsten Dinge des Alltags hat man ums Eck, ob das nun Supermarkt, Fitness- Center oder eine rasche Möglichkeit zu essen ist. Der Rest wird sich noch entwickeln.“ Putzke, der gerade heimgekommen ist, am Weg zum Postkasten, in der Hand ein volles Einkaufssackerl, findet das Projekt The Marks durchwegs gelungen. Einen Kritikpunkt aber möchte er unbedingt noch loswerden.

„Es ist ein tolles Projekt an einem ungewöhnlichen Ort, der vor einigen Jahren wohl noch ein Tabu gewesen wäre: Wohnen direkt neben der Autobahn! Aber so sieht man, was alles Großartiges entstehen kann, wenn Bauträger: innen und Stadt an einem Strang ziehen. Echt aufregend, hier zu wohnen. Bloß eines ist echt eine schwache Leistung.“ Und zwar? „Die gummirote Laufstrecke im dritten Stock, wo man eckig im Rechteck laufen soll, das ist einfach nur ein billiger Marketing-Gag. Ich habe hier in den zwei Jahren noch nie irgendwen laufen gesehen. Keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat, aber das funktioniert nur am Rendering.“

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