Gemischte Gefühle

Für Südtiroler Umsiedler wurden in den 40er Jahren 4.522 Wohnungen in Tirol gebaut. Die Mehrzahl der Siedlungen errichtete die Neue Heimat Tirol, NHT. Das 2005 begonnene Restrukturierungsprogramm ist inzwischen weit fortgeschritten – bis 2035 soll es abgeschlossen sein.
HANNES SCHLOSSER

Bis heute sind die auf 17 Tiroler Gemeinden verteilten Siedlungen das Herzstück im Wohnungsbestand der NHT. Vor allem in den kleineren Gemeinden war der typische Bautyp bei den Südtiroler Siedlungen einstöckig, prägnant war auch der äußerst großzügiger Umgang mit den zur Verfügung stehenden Flächen. Baudichten unter 0,4 und ein Wärmebedarf von 170 bis 220 kWh/m²/Jahr sind zwei Kennzahlen, die in der Regel Abriss und Neubau naheliegender machten, als eine Sanierung. NHT-Geschäftsführer Hannes Gschwentner gesteht den alten Siedlungen neben einer oft idyllischen Atmosphäre bemerkenswerte Grundrisse zu – auf 60 Quadratmeter passable Wohnungen für vier Personen zu bauen, ist eine Leistung. Aber anstatt diese Siedlungen zu sanieren, baut Gschwentner an deren Stelle lieber neue Passivhäuser, „denn diesen Siedlungen fehlen 70 Jahre Weiterentwicklung im Wohnbau und in der Technik.“

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Dazu gehört auch, dass in alten Siedlungen das Leben für ältere Menschen beschwerlich bis unmöglich wird. „Was wir heute bauen, ist fast immer barrierefrei, bzw. ermöglicht betreutes Wohnen.“ Es ist daher davon auszugehen, dass viele Menschen in einer neuen Wohnung länger selbstständig leben können, ehe sie eine Alteneinrichtung in Anspruch nehmen.

Das gesamte, bis 2035 geplante Restrukturierungsprogramm sieht vor, dass von den ursprünglich 3.807 Südtiroler NHT-Wohnungen 1.714 abgebrochen werden bzw. bereits wurden. Diese 1.714 Wohnungen mit einer Gesamtnutzfläche von 105.000 Quadratmeter, sollen im Endausbau durch rund 3.000 Wohnungen mit rund 193.000 Quadratmeter ersetzt werden. Annähernd zur Halbzeit des Programms wurden in die Neubauten rund 140 Millionen Euro netto investiert und 45 Millionen in Sanierungen.

Eine Sonderstellung nimmt Kematen ein, zwölf Kilometer westlich von Innsbruck. Die dortige Siedlung mit 127 Wohnungen steht unter Denkmalschutz, wobei in der Entscheidung der Behörde u. a. darauf verwiesen wird, dass es sich um eines der wenigen gut erhaltenen Beispiele für diese Sonderform des Wohnbaus handle, die stark von der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie geprägt sei und die Züge eines idealtypischen „Angerdorfes“ trage. Kematens Bürgermeister hat mit dem Denkmalschutz keine Freude, Gschwentner spricht von „gemischten Gefühlen“.

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Auf der einen Seite stehe Sentimentalität, weil „das ist unsere Geschichte als Neue Heimat“, auf der anderen Seite erwartet er schwierige Gespräche mit den Mietern. Denn die derzeitigen Mieten von vier bis fünf Euro werden um rund drei Euro steigen, womit diese Neubauniveau erreichen werden – obwohl es auch in Zukunft nur Einzelheizungen geben wird. Immerhin soll sich der Wärmebedarf dank der thermischen Sanierung und neuer Fenster auf 70 kWh reduzieren.

Im Innsbrucker Stadtteil Pradl haben die Nazis am damaligen östlichen Stadtrand ein zusammenhängendes Neubauviertel errichtet, das auch architektonische Kontroversen widerspiegelt. Auf der einen Seite die städtische Architektur von Peter Koller (mit besten Kontakten zum NS-Chefarchitekten Albert Speer) mit einer Blockrand- und Innenhofverbauung, vier- bis fünfgeschossigen Häuserzeilen und Erkern, die für das typisch „Innsbruckerische“ standen. Demgegenüber der von Gauleiter Franz Hofer geförderte Helmut Erdle, mit an Südtiroler Bauernhäuser erinnernde niedrige Gebäude und ländlicher Ästhetik mit Holzbalkonen und Lauben.

Nachverdichtung im Innenhof

Die „städtischen“ Ensembles in Pradl wie der Linden- und Eichhof wurden bereits hochwertig saniert, die „bäuerlichen“ Siedlungen wurden bzw. werden zum Großteil abgerissen und durch Neubauten ersetzt. Für die Neugestaltung des weitläufigen Innenhofs, in dem sich auch das Büro der NHT befindet, hatte die NHT einen geladenen Wettbewerb ausgeschrieben. Ziel war es, die Garagen, Lagerräume und Werkstätten durch ein Wohngebäude zu ersetzen. Die Jury (Bauträger, Architektenkammer, Stadtplanung, Stadtplanung und Mieter) entschied sich für ein Projekt des Innsbrucker Architekten Manfred Gsottbauer. Der Clou des Projekts ist es, den Hofraum nicht mit einem, sondern zwei kleineren Solitärbauten zu bestücken. Die beiden Ende 2018 bezogenen Gebäude verfügen über 32 Wohnungen, eine Kinderkrippe und eine betreute Wohngemeinschaft für acht bis zehn Jugendliche. Unterirdisch befinden sich 150 Autoabstellplätze.

Obwohl von einer Nachverdichtung zu sprechen ist, hat sich durch den Abriss der ebenerdigen Garagen etc. die Grünfläche verdoppelt. In ihrer äußeren Gestaltung sind die annähernd würfelförmigen Gebäude „unprätentiös zeitgemäß“ (Gsottbauer) und korrespondieren gleichzeitig mit den Fassaden des knapp 80 Jahre alten Bestands. Das weitläufige Geflecht aneinandergrenzender Innenhöfe ist mit Wegen besser erschlossen und damit durchlässiger geworden. Dadurch wird eine spezielle Qualität vieler Südtiroler Siedlungen unterstrichen, Räume zu bieten, die halböffentlich/halbprivat sind.

Eine Besonderheit hebt Architekt Gsottbauer hervor: Die Sorge von Bewohnern des Altbestandes, durch den Neubau in ihren Wohnungen Belichtung zu verlieren, war völlig unbegründet. Im Gegenteil, der helle Putz der beiden neuen Häuser führt durch Reflexion des Sonnenlichts zu einer besseren Belichtung der gegenüberliegenden nordseitigen Wohnungen.

Neues Stadtviertel

Weniger als einen Kilometer nordöstlich entsteht ein neues Stadtviertel zwischen der Reichenauer Straße und dem Naherholungsgebiet der Sill. Die Südtiroler Siedlung „Pradler Saggen“, die überwiegend aus langgestreckten, zweistöckigen Baukörpern besteht, wird in mehreren Stufen komplett abgerissen und neu gebaut. Hier war die Innsbrucker Architektin Silvia Boday als Wettbewerbssiegerin hervorgegangen. Ihr Projekt setzt mit einem zehnstöckigen Wohnturm an der wichtigen Verkehrsachse Reichenauer Straße ein markantes Zeichen…

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