Die Verdichtung urbaner Räume erfordert ein radikales Umdenken: Freiräume sind längst kein Luxus, sondern systemrelevante Infrastruktur für klimasichere, sozial gerechte Städte. Eine wachsende Zahl an Wiener Projekten zeigt, wie diese Transformation aussehen kann.
— LINDA PEZZEI


Dominik Scheuch von Yewo Landscapes betont: „Der Raum zwischen den Häusern ist der eigentliche Lebensraum der Stadt – hier entscheidet sich, ob Urbanität gelingt.“ Sein Büro realisierte mit dem Village im Dritten ein Modellprojekt, wo ein Masterplan für 80.000 Quadratmeter Grünfläche über acht Bauplätze hinweg Dachgärten, Spielzonen und urbanes Farming verbindet. Auch Projekte wie der partizipativ entwickelte Hannah-Arendt- Park, der biodiverse Wildgarten Wien Baufeld 11+20 oder der neue Stadtteil Wolfganggasse zeigen, wie sich urbane Freiräume als lebendige Ökosysteme gestalten lassen, die Naturnähe, soziale Inklusion und klimaresiliente Planung verbinden.
Das Wiener Supergrätzl-Konzept verwandelt Straßenräume in multikodierte Stadträume. Wo einst Parkplätze dominierten, entstehen heute entsiegelte Flächen mit hitzeresistenten Bäumen, Sitzstufen aus Recyclingbeton und Schwammstadt-Prinzipien. Anna Detzlhofer von der ÖGLA verweist auf Rotterdamer Water Square-Modelle, im Zuge derer die Retention von Starkregenereignissen auf Plätzen integriert wird: „Wir müssen Freiräume als Hybridflächen denken – die gleiche Fläche kann bei Starkregen 50.000 Liter Wasser speichern und an heißen Tagen als Kühloase dienen.“
Die Gesiba setzt in ihren Projekten auf Naturwiesen, die nur zweimal jährlich gemäht werden – ein Kompromiss zwischen Biodiversität und geringen Pflegekosten.


Das Projekt Ökofläche Gußriegelstraße der Gesiba umfasst naturnahe Grünflächen mit Wildwiesen, die nur ein- bis dreimal jährlich gemäht werden, um die Biodiversität zu fördern und Lebensräume für Insekten sowie Kleintiere zu schaffen. Die Planung integriert Hochbeete auf der Dachterrasse zum urbanen Gärtnern sowie Infoschilder rund ums „FAIRwildern“, die Bewohner:innen über die ökologische Bedeutung der Flächen aufklären und zur Akzeptanz beitragen.
Bauplatzübergreifende Planung
Wolfganggasse in Wien demonstriert, wie durch koordinierte Freiraumplanung über Grundstücksgrenzen hinweg identitätsstiftende Quartiere entstehen. Paul Steurer, Gesiba, warnt jedoch vor Zielkonflikten: „Jeder Quadratmetermuss heute drei Funktionen erfüllen – Spielplatz, Regenwasserspeicher und Kaltluftschneise zugleich.“ Ein Lösungsansatz kommt aus Berlin: Die Prinzessinnengärten zeigen, wie Brachflächen zu produktiven Gemeinschaftsgärten werden, die Soziales mit Ökologie verbinden.


Das temporäre Begrünungsprojekt „MQ in morphosis“ im MuseumsQuartier Wien wurde von Anna Detzlhofer im Rahmen eines Wettbewerbs entwickelt und sieht mobile Pflanzballen mit mediterranen und klimaresistenten Arten vor, die bis 2025 schrittweise an das urbane Mikroklima angepasst werden, um die Aufenthaltsqualität zu steigern und Hitzeinseln zu reduzieren.
Die Schaffung qualitativ hochwertiger Freiräume in verdichteten Stadtgebieten bleibt ein Balanceakt zwischen ökologischen Ambitionen und wirtschaftlichen Realitäten, wie Steurer anhand schrumpfender Grundstücksgrößen und steigender Ansprüche an klimawirksame Grünflächen sieht: „Naturschutzrechtliche Vorgaben kollidieren oft mit der Notwendigkeit, multifunktionale Aufenthaltszonen zu schaffen – etwa wenn Wurzelräume für Bäume die ohnehin knappen Flächen für Spielplätze weiter reduzieren.“
Scheuch betont indessen die Notwendigkeit interdisziplinärer Planungsansätze: „Wir denken Freiräume nicht als Restflächen, sondern als verbindendes Element zwischen Baukörpern – das erfordert frühzeitige Abstimmung mit Architekt:innen und Kommunen.“ Seine Konzepte setzen oft auf durchgängige Grünachsen, die private Innenhöfe mit quartiersweiten Begegnungszonen verknüpfen. Entscheidend sei dabei die Einbindung künftiger Nutzer:innen: partizipative Workshops, wie beim Hannah-Arendt- Park in der Seestadt Aspern, führen zu höherer Akzeptanz und geringeren Folgekosten durch Fehlplanungen.
Trotz solcher Erfolgsmodelle behindern infrastrukturelle Rahmenbedingungen oft nachhaltige Lösungen. Anna Detzlhofer moniert: „Die Freiraumwende scheitert häufig am Budget – hochwertige Gestaltungskonzepte erfordern dauerhafte Pflegeverträge, die viele Gemeinden nicht stemmen können. Städte wie Zürich empfehlen jedenfalls als Klimaanpassungsmaßnahmen, den Baumbestand zu verdoppeln, um einen Kronenabdeckungsgrad der Freiflächen von bis zu 30 Prozent gewährleisten zu können.“
Die grüne Stadt von morgen entsteht im Spannungsfeld zwischen Verdichtungsdruck und Aufenthaltsqualität. Sie verlangt von Bauträger:innen den Mut, Freiräume nicht als Restfläche, sondern als Herzstück jeder Planung zu begreifen – investitionsintensiv, aber unverzichtbar für klimasichere, sozial gerechte Städte.