„Ich wünsche mir mehr Experimente im Wohnbau“

Architektin Silja Tillner hat viele Vorschläge für ein Neudenken beim Bauen im Bestand – und gleichzeitig auch Empfehlungen an die Politik.
— PETER REISCHER

Architektin Tillner, was würden Sie unter den neuen Wohntypologien verstehen?

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Mehr individuelle Gestaltungsmöglichkeiten und weniger Regeln. Man sollte mehr auf Raumqualitäten und Lichtführung achten sowie auf die Langlebigkeit der Materialien. Eine Studie der TU Wien listet 5 Typologien für den Bestand auf: Schaltbarkeit, gemeinschaftliches Wohnen, überhöhte Räume, offenes Wohnen und kompaktes Wohnen. Die größere Raumhöhe und eine mögliche Kombination verschiedener Räume ist eine wichtige Qualität auch im Sinne der Nachhaltigkeit. Kompaktes oder gemeinschaftliches Wohnen kann allerdings auch in schlechter Qualität gebaut sein. Das Gemeinschaftliche ist eine soziale Qualität, die aus demografischen Gründen immer wichtiger wird.

Viele Menschen wollen im Alter in unkonventionellen, nicht traditionellen Wohnverbänden leben. Warum ziehen sie nicht einfach um?

Das Wechseln im Alter von einer großen Wohnung in eine kleinere ist zu den gleichen Mietpreisen heute schwer leistbar. In der Schweiz gibt es ein interessantes Modell, bei dem schon im Erstmietvertrag steht, dass bei einer Änderung der Familiensituation die Genossenschaft eine andere, kleinere Wohnung anbieten wird, und so ein Umzug möglich ist. In Österreich ist das in der Form nicht Usus, wiewohl ein freiwilliger Tausch im geförderten Wohnungsverbund schon möglich ist.

Sehen Sie den Typ der Smartwohnung als eine Lösung für das Weiterbauen im Bestand?

Eher nicht, denn das ist eine gute Typologie im Neubau. Eine Reduktion im Sinne von ‚Ressourcen sparen‘ ist natürlich sinnvoll. Smartwohnungen werden aber am besten in Kombination mit großzügigen Gemeinschaftsflächen angeboten – wie bei den Neubauprojekten im geförderten Wohnbau. Viele kleine Wohnungen sind wesentlich teurer, man braucht mehr Installationsschächte und Infrastruktur. Deswegen werden kleine Wohnungen auch pro Quadratmeter teurer vermietet.

Kann man neue Wohntypologien in den Bestand integrieren?

Sehr gut, aber jedenfalls sollten die Regeln für Umbauten gelockert und auf das Wesentliche reduziert werden, um Sanierungen zu erleichtern.

Normen, Regeln, Bauordnung etc.?

Ja! Ich habe endlose Diskussionen über Akustik im Wohnbau geführt. Es gibt Sicherheitsnormen und Wohlfühlnormen. Sicherheitsnormen (Brandschutz, Fluchtwege etc.) müssen natürlich eingehalten werden. Die Festlegungen/Normen in der Bauphysik haben sehr viel mit der Bauindustrie zu tun. Jahrzehntelang sind die Normenausschüsse von der Industrie dominiert worden und je mehr Dämmung, desto mehr Geschäft. Da muss ein Umdenken stattfinden, denn wenn ich im Bestand die Anforderungen eines Neubaus erfüllen muss, ist es schwierig, eine vernünftige Lösung zu finden, bzw. wird der Umbau zu teuer. Die Konsequenz ist, dass viele private Eigentümer:innen dadurch von Sanierung und Umbau abgehalten werden.

Definieren Sie bitte den Begriff der Nachhaltigkeit (in der Architektur)!

Nachhaltigkeit ist gleichzusetzen mit Ressourcenschonung und Langlebigkeit. Es gilt, mit minimalen Eingriffen die maximale Wirkung zu erzielen. Die Lebenszykluskosten müssen berechnet und sowie die Errichtungskosten beurteilt werden.

Was wünschen Sie sich von der Architektur im Hinblick auf den Klimawandel?

Wenn wir die Energieziele und CO2- Neutralität schaffen wollen, müssen wir viel intelligenter, von Anfang an interdisziplinärer und vernetzt planen. Es muss zu Projektbeginn mehr Budget für die Planung zur Verfügung gestellt werden, um dafür in der Umsetzung viel Geld einzusparen. Aktuell tut sich sehr viel Innovatives – unser Büro ist eines von zwei Architekturbüros im angewandten Forschungsprojekt Kraisbau, bei dem es um den Einsatz von AI in der Kreislaufwirtschaft geht, vor allem im Bestand, z. B. bei einer Bauaufnahme zur Bestimmung der verbauten Materialien.

Sehen Sie den Holzmodulbau als eine weitere Möglichkeit der Verdichtung nach oben?

Absolut. Er ermöglicht Gewichtsreduktion und viel kürzere Bauzeiten auf der Baustelle dank Vorfertigung.

Höher, dichter oder weiter – was bevorzugen Sie beim Bauen im Bestand?

Das lässt sich nicht allgemein beantworten. Ich wünsche mir in der Stadtplanung mehr Fokus auf den Bestand mit innovativen Prozessen vergleichbar zu Neubaugebieten, die mit Innovationswillen und großem Aufwand interdisziplinär geplant werden. In der Bestandsstadt wird meist nur punktuell und wenig vernetzt ressortübergreifend gearbeitet. Natürlich hat das u. a. mit unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen zu tun. Wien hat bei Wohngebieten eine wesentlich höhere Planungskultur als der Rest Österreichs, aber die vernetzte (und innovationsfreudige) Arbeitsweise in den Stadtentwicklungsgebieten sollte auch in der Bestandsstadt angewandt werden.

Unabhängig, ob höher, dichter oder weiter, auf jeden Fall muss man das immer im Konnex mit der ganzen Nachbarschaft sehen und als ‚Quartier denken‘, auch wenn nicht gleich alles umgesetzt wird. Leider sind Stadtentwicklungspläne – wie der STEP – einerseits nicht präzise und andererseits nicht verbindlich genug. Da wünsche ich mir mehr öffentlichen fachlichen Diskurs.

Wo liegt der Schlüssel zur Transformation der Bestandsstadt?

Beim Quartiersdenken – d. h. der Aufwertung des öffentlichen Raums im Konnex mit der Sanierung der Gebäude, Energietransformation usw. Der Fokus soll auf den Menschen liegen, auf den Fußgänger:innen und nicht auf dem Auto. Zu Fuß muss ich im Sinne der 15-Minuten-Stadt soziale, wirtschaftliche und kulturelle Einrichtungen auf attraktive Weise erreichen können. Besonders angenehm muss vor allem der Weg zur nächsten Station des öffentlichen Verkehrs sein, d. h. eine hochwertige Gestaltung und Klimaresilienz durch Beschattung und unversiegelte Oberflächen.

Ist denn das Weiterbauen im Bestand die Lösung der Probleme – Klimakrise, Bodenversiegelung etc.?

Ich glaube, es ist ein äußerst wichtiger Beitrag, aber im Konnex mit der Lösung von Verkehrsproblemen, der Energiewende und der Transformation zur Klimaresilienz, welche in der gesamten Stadt erfolgt.

Ist das nicht immer eine Frage der Kosten und der Wirtschaftlichkeit?

Ja, aber durch Nichthandeln entstehen auch Kosten, sei es im Gesundheitssystem oder durch Strafzahlungen. Außerdem ließen sich im Bauen auch Kosten senken, z. B. durch Vermietung eines Edelrohbaus. Ich setze mich seit mindestens zehn Jahren dafür ein, wieder eine Selbstbaukomponente in den Wohnbau einzubringen.

Würden Sie das als eine neue Typologie für den Weiterbau im Bestand bezeichnen?

Jetzt ja, aber das gab es in Wien schon vor 100 Jahren in der Siedlerbewegung mit der „Muskelhypothek“, als man sich durch Eigenleistung die Miete reduzieren konnte. Aber das ist in den letzten Jahren immer an den Bestimmungen, Verantwortlichkeiten und Normen gescheitert.

Was schlagen Sie vor?

In Fokusgebieten, Innovationsräumen, die Regeln/Normen außer Kraft setzen, natürlich nicht die Sicherheitsnormen, aber die sogenannten Wohlfühlnormen. Ich würde gerne wieder mehr Experimente – in einer positiven Konnotation des Wortes – sehen, der weltweit gelobte Soziale Wiener Wohnbau wurde auch durch Innovationskraft und Experimentierfreude zu dem, was er heute ist.

Jedenfalls sind Architekt:innen die einzigen Generalist:innen in der Baubranche und daher die Qualifiziertesten, um die vielfältigen Herausforderungen zu meistern. Daher sollten sie bei allen Bauprojekten einbezogen werden. In Paris muss bei jedem Projekt, das eine Baugenehmigung braucht, ein:e Architekt:in beauftragt und zuvor ein jurierter Wettbewerb gemacht werden. Das hat vielen jungen Büros Chancen eröffnet und zu einer höheren Qualität und Innovation geführt. Das würde ich mir für Wien auch wünschen.

Soll man das gesetzlich in der Architekturplanung/ Bauordnung verankern?

Ja, ich würde vorschlagen, dass für jedes Bauvorhaben von Architekt:innen eine Planung zu erstellen ist. Das kommt nicht teurer, sondern spart beim Bauen, da Architekt:innen im Gegensatz zu Baumeister:innen unabhängig sind und damit die Verquickung von Bauwirtschaft mit bestimmten Produkten und Standardplanungen entfällt.

Außerdem sollten bei Sanierungen vereinfachte Standards gelten, damit Verbesserungen jedenfalls genehmigt werden.

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