Auf gute Nachbarschaft

Fast jedes Wohnbau- und Stadtentwicklungsprojekt legt Wert auf Gemeinschaft und gute Nachbarschaft. Nicht immer halten die ehrgeizigen Pläne dem Praxistest stand. Doch aus den bereits vielfältigen Erfahrungen lässt es sich gut lernen.
BERND AFFENZELLER

Neben der Erdgeschoßzonenbelebung zählen die Schaffung neuer Gemeinschaften und ein funktionierendes Miteinander zur absoluten Königsdisziplin von Stadt- und Quartiersplanung. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Architektur. „Man kann die Architektur als ,hardware‘ der Gemeinschaft bezeichnen“, ist Christoph Mörkl, Gründer des Architekturbüros Superblock, überzeugt. Für eine funktionierende Gemeinschaft brauche es ausreichend und qualitätvoll gestaltete Räume. Mörkl unterscheidet zwischen formellen und informellen Räumen. Die informellen Räume würden wesentlich zur notwendigen Kommunikation beitragen, so seien etwa helle, belüftbare Stiegenhäuser, aufgeweitete Flur- und Gangzonen oder gut einsehbare und belichtete Fahrradabstellräume ein wesentlicher Faktor für gemeinschaftliches Wohnen.

- Anzeige -

„Die formellen Räume sind entweder nutzungsoffene Zonen und Räume, die von den Benutzern mit unterschiedlichen Funktionen belebt werden oder deFeinausstattung. „Hippe, junge Designermöbel sind in einer Nachbarschaft mit vielen älteren Bewohnern fehl am Platz“, so Madreiter.

Foto: MA18/Christian Fürthner

Räume tun von sich aus nichts, aber sie können das funktionierende Miteinander unterstützen oder erschweren.

Thomas Madreiter

Schönes Grätzl

Für das gute Miteinander im größeren Stil rückt der Quartiers- oder Grätzlgedanke in den Mittelpunkt. So setzt etwa die Stadt Wien speziell bei neuen Stadtentwicklungsgebieten auf eine frühzeitige Bürgerbeteiligung, um die Anliegen und Bedürfnisse der Bewohner zu berücksichtigen. Es werden Informationsveranstaltungen, Workshops und Diskussionsforen angeboten, bei denen die Bewohner die Möglichkeit haben, ihre Meinungen und Ideen einzubringen. Um eine soziale Durchmischung mit einem lebendigen und diversen Umfeld zu schaffen, wird in Wien großer Wert auf die Bereitstellung von verschiedenen Wohnungsgrößen, -typen und Preiskategorien im geförderten und frei finanzierten Wohnbau sowie im Gemeindebau neu geachtet.

Im geförderten Wohnbau wurde schon bislang beim Beurteilungskriterium der sozialen Nachhaltigkeit großer Wert auf nachbarschaftsfördernde Angebote gelegt. Mit dem neu geschaffenen Qualitätsbeirat beim wohn_fonds Wien steht nun die quartiersweise Betrachtung und gezielte Abstimmung und Vernetzung der Angebote der einzelnen Bauvorhaben im Fokus.

- Anzeige -

Aber auch in ländlichen Räumen muss eine Nachbarschaft entwickelt werden. So legt die Neue Eisenstädter besonderen Wert darauf, bereits bei Übergaben eine kleine Feier zu veranstalten, um die Beziehungen zwischen den Mietern zu fördern. Das ist vor allem bei Projekten wie jenem in Purbach, eine Wohnhausanlage mit 40 Reihenhäusern und 46 Wohnungen, wichtig, die dem Prinzip „Das Dorf in der Stadt“ folgen.

Gute Nachbarschaftsentwicklung steht beim Quartier Neu Leopoldau im Fokus. Foto: GB

Gut gemeint …

Best Practice: Quartier Neu Leopoldau 
Auf dem Areal des ehemaligen Gaswerks Leopoldau entsteht Neu Leopoldau. Auf rund 13,5 Hektar entstehen insgesamt rund 1.400 Wohnungen mit Nahversorgung und sozialer Infrastruktur, 70.000 Quadratmeter Gewerbeflächen und viel Grünräume als verbindendes Element. Bereits in der Ausschreibung des Bauträgerwettbewerbs für das neue Quartier Neu Leopoldau wurde die Bedeutung von bauplatzübergreifenden Elementen festgelegt.

Es ist eine weitgehend unbestrittene Tatsache, dass die Realität nicht immer das widerspiegelt, was sich Stadtplaner, Architekten und Bauträger erhofft und erwartet haben. Neben den bereits erwähnten „Hardware“-Fehlern liegt das auch oft an zu wenig Kommunikation und zu hohen Erwartungen. „Die zukünftigen Nutzer sollten wissen, was sie erwartet bzw. worauf sie sich einlassen. Wenn Gemeinschaft oder das zugehörige Raumangebot lediglich zu Marketingzwecken verwendet wird, sind spätere Konflikte programmiert“, sind Burak Büyük und Vincent Wohinz von Wohnpartner, dem Nachbarschaftsservice von Wiener Wohnen, überzeugt.

Dazu kommt, dass neue Ideen und Pläne oft Begleitung und Information brauchen. Viele Konzepte öffnen private Räume oder erweitern das eigene Wohnzimmer. „Da braucht es Erklärungen und Anregungen, wie man diese Räume für sich persönlich gut nutzen kann, und vor allem auch Erklärungen dazu, was erlaubt ist und wo die Grenzen sind“, so die Nachbarschaftsexperten. Oft fehlen auch eine effektive Um- und Durchsetzung. Laut Thomas Madreiter ist es wichtig, dass Planer und Bauträger die Konzepte nicht nur konsequent realisieren, sondern auch deren Einhaltung überwachen. „Wenn dies nicht geschieht, können die beabsichtigten Maßnahmen nicht richtig greifen.“ Aber auch Mut zu Adaptierungen ist gefragt. „Falls ein architektonisches Konzept den Praxistest nicht besteht, ist es sinnvoll, dass die Bewohner im Sinne der Aneignung und Identifikation mit der Wohnhausanlage Änderungsvorschläge einbringen können“, sind Büyük und Wohinz überzeugt.

Immer wieder wird auch der Fehler gemacht, keine oder zu wenig Ressourcen für die Prozessbegleitung aufzuwenden und die Planung auf ein reines Besiedelungsmanagement zu reduzieren. Es braucht aber Kommunikationsund Unterstützungsangebote, die über die unmittelbare Besiedelung hinausgehen. Für Bauträger und Hausverwaltungen bedeutet dies einen großen Mehraufwand. Wiener Wohnen beschäftigt beim Nachbarschaftsservice Wohnpartner mehr als 150 Mitarbeiter, um mit Gemeinwesenarbeit, Konfliktarbeit und Vernetzung die Nachbarschaft im Wiener Gemeindebau zu stärken. Die Aktivitäten reichen vom gemeinsamen „Gartln“ über nachbarschaftliche Schachpartien bis hin zu gemeinsamen Ausflügen.

Lesen Sie die nächsten Artikel dieser Ausgabe

Lesen Sie Artikel zum selben Thema