Wohnen heißt heute Wandel

„We shape our buildings and afterwards our buildings shape us“, sagte Winston Churchill 1943. Wenn wir unsere Gebäude und insbesondere den Wohnbau weniger als rein technische Struktur verstehen und mehr als Zufluchtsort, der uns prägen darf, ergeben sich plötzlich völlig neue Sichtweisen auf unsere Art zu wohnen.
LINDA PEZZEI

Die Gründerzeitbauten der großen Städte sind heute gerade deshalb so beliebt, weil die bauliche Substanz meist eine bestechende Qualität aufweist, die Räume hoch, hell und luftig gestaltet sind und sich die Grundrisse individuell anpassen lassen. Und während sich die Bewohner früher mit acht bis zehn Quadratmetern pro Person zufriedengeben mussten, stehen ihnen heute oft 40 bis 50 Quadratmeter zur Verfügung. Dennoch wird es bereits auf kurze Sicht und mit Hinblick auf die Bodenversiegelung und die wachsende Nachfrage nach leistbarem Wohnraum eine Umkehr der Tendenz zum stetig wachsenden Pro- Kopf-Verbrauch an Wohnraum geben –zumindest in den größeren Städten.

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„Einfaches“ Wohnen oder Minimalwohnungen mit Klappbett und Co. erlebten vor allem im Zuge der Nachkriegszeit mangels Geld und Wohnraum einen Aufschwung. Innovative Tiny Houses und visionäre Studentenwohnungen auf kleinstem Raum spiegeln den heutigen Zeitgeist wider, dem überbordenden Konsum und dem maßlosen Ressourcenverbrauch entgegenzuwirken. Dabei geht es nicht nur darum, unseren Wohnraum besonders simpel zu gestalten, sondern unsere Flächen vielmehr smart zu denken und effiziente Lösungen zu finden, die sich auch im Laufe der Zeit anpassen lassen.

Smarte Wohntypologien 
- Schaltbare Räume oder Wohneinheiten 
- Geteilte Räume wie Gemeinschaftsküchen 
- Überhöhte Räume dank Split-Level oder Galerie
- Offenes Wohnen ohne bauliche Barrieren 
- Kompakte, multifunktionale Räume

Die traditionelle österreichische Familie mit Vater, Mutter und durchschnittlich 1,4 Kindern mag auf dem Papier noch existieren, in der Realität mischen sich Patchwork-Familien, Single-Haushalte, Wohngemeinschaften, Generationen- Wohnen, Homeoffice und viele Lebensformen mehr zu einem bunten Allerlei. Die Konstante ist passé, Wohnen heißt heute Wandel. Einige bereits neu gebaute oder momentan entstehende Vorzeigeprojekte in Wien zeigen, wie wandelbares Wohnen gelingen kann.

Sozial und leistbar

Das von der Kallinger Projekte-Gruppe entwickelte Objekt mit 256 Einheiten für soziales und leistbares Wohnen, wurde 2018 im Rahmen des Sofortprogramms der Wiener Wohnbauinitiative in nur 14 Monaten fertiggestellt und zeigt das patentierte Slim-Building ® System in seiner konsequentesten Form: Durchgehend „weiche“ Innenwände und unterzugsfreie Decken ermöglichen eine einfache Adaptierung der Grundrisse, das Rastersystem lässt unterschiedliche Grundriss- und Nutzungskombinationen zu. Optisch ergibt sich durch das modulare System eine klare, abwechslungsreiche und ansprechende Architektursprache, die im Inneren Raumhöhen von 2,80 Metern erlaubt und eine spätere flexible Büronutzung bereits mitdenkt. Durch den effizienten Einsatz der Materialien können sozialer und leistbarer Wohnraum geschaffen, Ressourcen geschont und darüber hinaus der Rückbau erleichtert werden.

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Von den Architekturbüros Gerner Gerner Plus. und heri&salli konzipiert sowie von der Arwag umgesetzt, präsentiert sich „Das Stadtregal“ als heterogenes Wohnensemble im geförderten Wohnbau Wiens. Ziel des Projekts ist es, funktionierende Gemeinschaften zu bilden und flexiblen Wohnraum für ein vornehmlich junges Klientel zu bieten. Das Angebot umfasst neben 122 Wohneinheiten, zwölf Heimplätze, ein Krisenzentrum der MA 11, Studierendenwohngemeinschaften und Wohnmodelle für Alleinerziehende sowie 16 Geschäftslokale. Entscheidend für den Erfolg und die Akzeptanz: der mehrgeschoßige Freiraum, Gemeinschaftsräume, ein Fitnessraum, ein Öko-Spielplatz, ein Jugendtreff, ein Quartierskino und alternative Mobilitätskonzepte.

Das Projekt von Kallinger „Werk Möllersdorf“ befindet sich gerade in der Entwicklungsphase. Visualisierung: X42 Architektur ZT GmbH

Breites Angebot

Bunt, robust, innovativ und offen – gemeinsam mit Dietrich | Untertrifaller gestalteten Plov Architekten für das Stadtviertel „Neues Landgut“ in der Nähe des Wiener Hauptbahnhofs das Projekt B.R.I.O., das 2025 fertiggestellt werden soll. 176 geförderte Wohnungen entstehen auf Grundlage sozialer, ökologischer und ökonomisch nachhaltiger Werte. Vom 1,5-Zimmer Apartment bis zur großzügigen Familienwohnung mit vier Zimmern ist hier eine vielfältige Grundrissgestaltung samt einfacher Adaptierung für unterschiedlichste Anforderungen möglich. Der Mix aus geförderten und supergeförderten Wohnungen sowie das breit gefächerte Angebot an unterschiedlichen Wohnungstypologien zielt auf eine optimale soziale Durchmischung ab. „MauMau“, eine Wohnhausanlage auf den Mautner Markhof Gründen, Bauträger: Gebös und Wiener Heim, formuliert im kleinen Maßstab den Übergang zwischen dem urbanen und ländlichen Raum.

Nach dem Prinzip „Learning from Gründerzeit“ entschieden sich die Planer von RLP Rüdiger Lainer + Partner für eine tragende Außen- und Mittelwand. Die einfache bauliche Struktur bietet die Basis für Flexibilität und nutzungsneutrale Flächen. Die Wohnungen sind in Zonen gegliedert, dadurch können diese in der Tiefe und Breite der Fläche verbunden oder getrennt werden. Flexibel und einfach wandelbar: ein visionäres Erfolgskonzept.

Alte Strukturen wiederbeleben

Ganz im Sinne umweltgerechter Transformation architektonisch wertvoller, aber nicht mehr zeitgemäßer Industrieanlagen entsteht mit der Verbindung einer alten Fabrikanlage und neuer Architektur unter Federführung von X42 Architektur derzeit ein neues Projekt in Möllersdorf. Wohnen, Arbeiten, Gewerbe und Kultur sollen auf dem Areal Platz finden, Erdwärmenutzung, eine Energiegemeinschaft durch Photovoltaik auf den Hallendächern sowie weitgehende Entsiegelung des Bodens sollen das Werk Möllersdorf zu einem ökologischen Musterprojekt machen.

Das von der Kallinger Projekte- Gruppe entwickelte Objekt setzt auf die Förderung der Integration und Durchmischung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen durch einen Nutzungs- und Wohnungsmix sowie auf die Attraktivierung des Areals. Die Umsetzung des Slim-Building® Prinzips soll für größtmögliche Variabilität, Effizienz und Leistbarkeit sorgen.


Drei Fragen an Oliver Sterl,

Partner & Geschäftsführer RLP Rüdiger Lainer + Partner

Welche (baulichen) Aspekte sollen in Ihren Projekten für eine soziale Durchmischung und Inklusion sorgen?

Den Dreh und Angelpunkt dieser Thematik stellen die Frei- und Allgemeinflächen dar, die für die unterschiedlichsten Nutzergruppen attraktiv zu bespielen sein sollen. Neben Freiräumen und Gemeinschaftseinrichtungen (in- und outdoor) können auch (erweiterte) Verkehrsflächen aufgrund ihrer Größe, des Zuschnitts und ihrer Ausformulierung einen sozialen Kondensationskeim bilden und die Durchmischung fördern.

Oliver Sterl

Wie entwickeln Sie Ihre Grundrisstypologien?

Ziel der Grundrissgestaltung ist die Aufhebung der „klassischen“ Zuordnung von Wohnnutzungen ( z. B. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Esszimmer, …) und das Zurverfügungstellen von wandelbaren Raummodellen, die sich ohne großen Aufwand beispielsweise mit Schaltzimmern, Arbeitsbereichen oder Rückzugsnischen ausstatten oder einfach barrierefrei gestalten lassen. Dies lässt sich unter anderem mit einem einfachen, robusten Tragsystem und freien Raumschichten bewerkstelligen.

Oliver Sterl

Ist eine spätere Adaption der Grundrisse generell möglich?

Die Flexibilität und Variabilität der Grundrisse sind Grundlage für eine möglichst breite Nutzerakzeptanz. Die spätere Adaption der Grundrisse wird von uns immer mitgedacht. Diese soll ohne viel Aufwand realisierbar sein. Ein Ansatz besteht darin, dass gewisse Raumteilungsmöglichkeiten dank dreh- oder klappbarer Elemente schon vom Bauträger als Grundausstattung der Wohnung errichtet werden.

Oliver Sterl

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