Nachbarschaft und Engagement

Ruth Bartussek hat in der Baugruppe Kolokation im Quartier am Seebogen den idealen Rahmen für die Entwicklung ihrer zahlreichen Projektideen gefunden und schätzt die vielen Kontakte im Haus.
— MAIK NOVOTNY

Ein bisschen windig ist es schon am Balkon, sagt Ruth Bartussek. Aber das ist eben das lokale Klima der Seestadt. Seit mehr als drei Jahren wohnt sie hier in der Wohngruppe Kolokation am Seebogen (kolok:as) und sie ist überzeugte Seestädterin. „Ich mag, dass hier alles noch offen und voller Potenzial ist. Nostalgie brauche ich nicht!“ Alles offen – das passt zu der 72-jährigen studierten Chemikerin und ausgebildeten Organisationsentwicklerin, die schon immer ein Interesse an Strukturen und systemischem Denken hatte.

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„Es macht mir Spaß, die Sachen in die Hand zu nehmen. Wenn irgendwo etwas fehlt, jammert man nicht, sondern macht es selbst.“ Selbst gemacht hat sie in ihrem Wohnumfeld schon einiges. So kocht sie zu den Jahreskreisfesten regelmäßig für Gäste – kürzlich erst ein Drei- Gänge-Menü für 18 Personen. „Rhythmus und Rituale sind wichtig im Alltag, und das feiern wir mit diesen Events.“

Die Idee, in eine Wohngruppe zu ziehen, hatte Ruth Bartussek schon lange. Nachdem sie das Elternhaus in Graz erbte, erfuhr sie am eigenen Leib, wie verschwenderisch diese Bauform mit Raum umgeht – kein Modell für die Zukunft. Also wurde das Haus verkauft und sie zog nach Wien, um näher bei ihren Kindern zu sein. Es kam zum Kontakt mit den ersten Baugruppen der Seestadt, und nach einem Intermezzo in Gänserndorf kam der Verein Kolokation, der sich dem gemeinsamen Wohnen im Alter verschrieben hat, genau richtig. Den Bauträgerwettbewerb gewann man im Team mit Bauträger Schwarzatal und Kronaus Mitterer Architekten. Anders als die erste Kolokation- Gruppe im Sonnwendviertel sind die Wohnungen hier nicht auf einer Etage gruppiert, sondern im ganzen Haus verteilt. Auch die Gemeinschaftsräume im Erdgeschoß teilt man sich, andere sind für die Gruppe vorbehalten.

Kultureller Reichtum

Die Entscheidung fürs gemeinschaftliche Leben war für Ruth Bartussek nur konsequent: „Projekte zu entwickeln ist mein Lebensinhalt, und hier kann ich vieles umsetzen. Ich möchte auch im Alter noch Kontakte knüpfen und pflegen. Außerdem habe ich jahrelang meine Mutter gepflegt, und das will ich meinen eigenen Kindern nicht zumuten.“ Trotzdem war der Anfang nicht leicht, denn der Einzugstermin fiel unglücklicherweise genau in die Corona-Zeit, wodurch viele Entscheidungen schnell getroffen werden mussten.

Auch die Kontakte zu den Bewohner: innen, die über Wiener Wohnen vermittelt wurden, kamen erst mit Verspätung in Gang. Hinzu kam die Herausforderung der gemeinschaftlichen Wohnsituation selbst, die gerade Älteren einiges abverlangt. „Das Zusammenleben muss man üben“, sagt Ruth Bartussek. „Im Alltag ist es oft schwer, Toleranz zu praktizieren, nicht in der Vergangenheit zu leben und sich Veränderungen zu stellen. Ältere sind da oft etwas ungeduldig und störrisch. Da braucht man einen organisatorischen Überbau, sonst wird nur gestritten.“

Inzwischen haben sich jedoch manche Kontakte intensiviert, und einige jüngere Bewohner:innen sind hinzugekommen und bringen frische Dynamik ins Haus. Auch die Nachbarschaft in der gesamten Hausgemeinschaft ist zusammengewachsen. Im Gemeinschaftsraum finden Tanzveranstaltungen, Kinovorführungen und Feldenkrais- Übungen statt, die zahlreichen Nationalitäten sorgen für kulturellen Reichtum, und die vielen Kinder wuseln frei umher, ohne sich um Vereinsstatuten scheren zu müssen.

Kaffeehaus fehlt noch

Im Quartier am Seebogen sind die nachbarlichen Beziehungen auch über das Haus hinausgewachsen, und aus einer Ansammlung von Baufeldern wird langsam eine richtige Stadt. „Ein schönes Kaffeehaus fehlt uns noch“, sagt Ruth Bartussek. „Die Gastronomie ist erst für den nächsten Bauabschnitt vorgesehen, aber das dauert noch Jahre.“ Auch ein Ort, an dem die Bauern aus dem benachbarten Marchfeld ihr Gemüse verkaufen können, wäre eine gute Idee, sagt sie. Man sieht: Es gibt immer etwas zu tun, und an neuen Projekten, die es zu entwickeln gilt, herrscht kein Mangel.

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