Mit der Kraft der Mieter

Berlin kämpft aktuell mit vielen Themen – im Zentrum aller Bemühungen steht jedoch der Wohnraum, der mittlerweile auch für den guten Mittelstand prekär ist. Ein Besuch in Deutschlands Hauptstadt beeindruckt durch die Selbsthilfekraft, die Berlins Bevölkerung entwickelt.
GISELA GARY

In Deutschland gibt es seit 2005 keine Eigenheimzulage, äquivalent zur österreichischen Wohnbauförderung, mehr. Was folgte, war ein Abverkauf der staatlichen Wohnungen. Die Preise kletterten in die Höhe – so mancher private Bauträger verdiente sich eine goldene Nase, die Bewohner verzweifelten und mobilisierten sich langsam, aber sicher in den Widerstand. 2023: Berlin hat einen neuen Bürgermeister, der will alles besser machen – steht aber wohl kaum an der Seite der revoltierenden Bevölkerung. Immerhin, 80 Prozent der Berliner Bevölkerung wohnt in Miete. Und die Mieter haben Kraft. Mittlerweile haben sich mehrere Gruppen gebildet, die ein Wohnhaus nach dem anderen retten, kaufen, selbst verwalten, umbauen – und so für leistbaren Wohnraum sorgen.

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Laut der Wohnraumstudie von Interhyp von 2019 sind die Berliner Mieter. Im Durchschnitt hat man eine Wohnung auf 78 Quadratmeter – ein Viertel der Bevölkerung wohnt in kleinen Wohnungen unter 60 Quadratmeter. Zwei Drittel wünschen sich ein Eigenheim. Ein Problem haben jedoch alle gemeinsam: die extrem hohen Kosten. Der durchschnittliche Mietpreis in Berlin liegt bei 26,56 Euro pro Quadratmeter – kalt. Für eine 30 Quadratmeter große Wohnung liegt aktuell der durchschnittliche Kaufpreis bei 6.755,54 Euro pro Quadratmeter. Am günstigsten bekommt man in Hellersdorf eine Mietwohnung für 10,85 Euro pro Quadratmeter. Am meisten muss man derzeit in Oberschöneweide bezahlen, hier sind es 35,87 Euro pro Quadratmeter. Doch es geht auch günstiger – wie ein Besuch mit dem Verein für Wohnbauförderung, VWBF, vor Ort zeigt.

Michael Gehbauer, Obmann des VWBF, kommt beim Spaziergang durch Berlin aus dem Staunen nicht heraus: „Unglaublich und zugleich bewundernswert, was hier alles passiert. Das Engagement der Mieter, aber auch das faszinierende Miteinander von Genossenschaften und Hausbewohnern, ist beeindruckend.“ Ebenso die Anzahl der stark sanierungsbedürftigen Gebäude – in Österreich würde man Abbruchhäuser sagen. „Mir sind solche Häuser in Wien, aber auch so ein Mieterengagement aktuell nicht bekannt“, so Gehbauer.

Die Gruppe aus Wien, Oberösterreich und Salzburg wurde unter der fachkundigen Begleitung von Klaus Mindrup durch Berlin geführt. Mindrup war Mitglied des Deutschen Bundestags. Seine Themen sind Klimaschutz, die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit und leistbarer Wohnraum. „Deutschland kapiert nicht, dass sozialer Wohnungsbau eine Pflichtaufgabe ist“, stellte er gleich am Beginn der Exkursion seine Haltung klar. Durch sein Engagement konnte der Wohnbau Bremer Höhe in Prenzlauer Berg gerettet werden, aber u. a. ebenso das Gelände der ehemaligen Königsstadtbrauerei, die heute ein hipper Gewerbehof ist, ein gemischter Standort aus Produktion, Gastronomie, Kultur und eine Denkfabrik sowie viele weitere Häuser.

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Das Wohnhaus K12 wird nun von den Mietern gemeinsam mit der Selbstbau eG renoviert – und für die Bewohner erhalten. Foto: Gary

Mieter sind Genossenschafter

Die erste Station der Reise des VWBF führte zur Bremer Höhe in der Schönhauser Allee 59. Die Bremer Höhe ist eine junge Genossenschaft, die im Jahr 2000 aus einer Mieterinitiative entstanden ist. Heute verfügt die Gruppe über rund 850 Wohnungen und Gewerbeeinheiten in Berlin und Brandenburg. Geboten wird aber mehr als nur Wohnen, das soziale Miteinander steht hier an oberster Stelle. Die Gebäude aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin- Prenzlauer Berg haben 460 Wohnungen, 18 Gewerbeeinheiten und eine Nutzfläche von 34.500 Quadratmeter. Ursprünglich waren es 15 Cottages nach englischem Muster, die von der Ersten Gemeinnützigen Berliner Baugesellschaft erbaut wurden. Bereits 40 Jahre später wurden sie abgerissen und durch die heutigen Bremer-Höhe-Häuser ersetzt. Die Genossenschaft Bremer Höhe hat sich zum Ziel gesetzt, den Mietspiegelwert möglichst zu unterschreiten. In den Genuss dieses Vorteils sollen vor allem einkommensschwache Haushalte kommen. Jeder Mieter muss Genossenschaftsmitglied werden. „Somit konnte verhindert werden, dass die Gebäude an einen Investor verkauft werden, hochpreisige Eigentumswohnungen entstehen und die Mieter verdrängt werden“, erläutert Mindrup.

Mieten statt kaufen, das ist die Devise – die Politik ignoriert bis dato die prekäre Situation der Bevölkerung. Im Zuge der Sanierung wurde ein modernes Energieversorgungskonzept umgesetzt. Die Bremer Höhe wird nun durch Kraft-Wärmekopplungsanlagen mit Strom und Wärme versorgt. Hinzu kommen Photovoltaikanlagen, die in Absprache mit der Denkmalpflege auf den Häusern mit „Berliner Dächern“ installiert wurden. Finanziert wird über Kredite – allerdings werden nur die Zinsen zurückbezahlt und somit bleiben die Raten leistbar. Die Erfolgsfaktoren sind laut Mindrup „eine klare Bodenpolitik und langfristige Finanzierungsmodelle“. Würde sich Klaus Baringer, Verbandsobmann GBV, der ebenso staunend in dem Garten der Bremer Höfe mit dabei war, so ein Projekt zutrauen? „Warum nicht, die Instrumente dafür haben wir.“ Andrea Breitfuß von der Altmannsdorf Hetzendorf ergänzte: „In Österreich wäre das laut Wohnungsgemeinnützigen Gesetz, Paragraf 20a möglich.“ Nur die Finanzierungskonzepte, die hinterließen Stirnrunzeln bei den Österreichern.

Bremer Höhe – gemeinschaftlich sanierter Kernbestand in Prenzlauer Berg. Foto: Gary

Wohnen mit Charme

Nächster Halt – und zugleich ein Schock für die Gruppe aus Österreich – war das K12 – Kastanienallee 12. Ein Wohnbau mit über 50 Wohneinheiten, den die Selbstbau eG vor kurzem erworben hat. Peter Weber, der eng mit Mindrup zusammenarbeitet, von der Selbstbau eG führte uns durch das – abbruchreife Haus. Das Renovieren zahlt sich aus? „Auf jeden Fall, das sind wunderschöne Häuser, wir kriegen das hin“, lacht Weber. Während sich der Prenzlauer Berg zur gentrifizierten Hauptstadtblase entwickelte, schlummerte das K12 seinem Verfall entgegen. Die sehr gemischte Bewohnerschaft suchte Rat bei der Initiative „Häuser bewegen“, um nach dem Tod der Häuserbesitzerin die drohende Zwangsversteigerung sowie den Rauswurf zu verhindern. Die Selbstbau e.G. wird nun gemeinsam mit der Hausgemeinschaft die vier Häuser mit rund 100 Bewohnern sanieren. Dazu wird ein sogenannter Bestandserwerbkredit aufgenommen. 2024 startet die Renovierung der über 3.000 Quadratmeter Wohn- und Arbeitsfläche. Der Charme der verwilderten Innenhöfe soll dabei jedoch erhalten bleiben. Beim Verlassen des Wohnbaus bleibt ein Kopfschütteln in der Runde – auch Klaus Baringer staunt, „dass sich das wer antut“. Aber der Wert liegt in den inneren Werten – wie eine Mieterin erläutert: „Ich bin hier aufgewachsen und ich will hier bleiben. Wir schaffen das.“ Höchste Hochachtung vor dieser Kraft der Mieter.

Das Projekt der „Genossenschaft in der alten Königstadtbrauerei eG“ gehört ebenso den Genossenschaftsmitgliedern. Die ehemalige Brauerei beherbergt eine vielfältige, bunte Mischung von Handwerksbetrieben/verarbeitendem Gewerbe, Dienstleistungsbetrieben, Betrieben der Kulturwirtschaft und Kunstschaffenden. Das genossenschaftliche Kostendeckungsprinzip ermöglicht langfristig günstige Mieten um rund zehn Euro und Planungssicherheit für die Mitgliedsunternehmen. Die genossenschaftliche Mitbestimmung, bei der jedes Mitglied – unabhängig von der Betriebsgröße – nur eine Stimme hat, verhilft auch Kleinunternehmen zu gleichberechtigter Mitsprache. Das fördert den wirtschaftlichen Erfolg und setzt Engagement und Kreativität frei. Die genossenschaftliche Selbstverwaltung stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Das fördert wiederum Solidarität in Krisensituationen sowie Kooperation und Synergie.

Dachgeschoßausbauten in Berlin Buch: Die städtische Genossenschaft Howoge sorgt hier für leistbare Mieten mit rund 6,50 Euro pro Quadratmeter. Foto: Howoge/Rentsch

Mit den Mietern

Das Miteinander, das in den genossenschaftlichen Wohnbauten in Berlin gelebt wird, ist die Quelle der Energie, mit der eine Vielzahl an Projekten gelingt. Im Quartier Steglitz-Zehlendorf in Lichterfelde sanierte die Märkische Scholle Wohnungsunternehmen eG gemeinsam mit den Bewohnern die 964 Wohnungen. Die über 90 Jahre gewachsene Siedlungsgemeinschaft spiegelt zugleich auch ein Stück Berliner Stadtgeschichte wider. Ab Anfang der 1930er-Jahre im Stil der gemäßigten Moderne um großzügige Wohnhöfe errichtet, prägten nicht nur die landschaftliche Umgebung, sondern auch zahlreiche Läden und Dienstleistungen ein fast dörflich anmutendes Zusammenleben mit engen Nachbarschaftskontakten. Noch heute erinnern sich viele Bewohner an ihr „Kinderparadies“. Das vielfach ausgezeichnete Modellprojekt für innovative Energieeffizienz, großzügige Dachaufbauten sowie sensibel nachverdichteten Neubau – wie das „Wohnen am Turm“ mit neuen sozialen und integrativen Ansätzen – steht für eine zukunftsorientierte generationsübergreifende Stadtteilentwicklung unter Einbeziehung der Bewohnerschaft.

In Berlin Buch adaptierte die Genossenschaft EWG-Pankow Plattenbauten. Fotos: Gary

Generationenübergreifend

Gemeinschaftswohnen steht in der Lynarstraße in Wedding im Zentrum. Auf einem ursprünglich nur zur Gewerbenutzung vorgesehenen Randgrundstück entwickelte die Ostsee eG in einjähriger Bauzeit ein dreiteiliges, siebengeschoßiges Haus zum gemeinschaftlichen Wohnen nahezu komplett aus Holz. Die drei Gebäudeteile sind durch Brücken miteinander verbunden. In dem experimentellen Wohnprojekt leben die Mitglieder seitdem in fast 98 Wohnungen generationsübergreifend zusammen. Mit dabei sind betreute und unbetreute Menschen, mit und ohne körperliche, geistige oder seelische Behinderungen oder Erkrankungen sowie mit und ohne Migrationsoder Fluchthintergrund. Auf allen Etagen werden jeweils mehrere Wohnungen über Gemeinschaftsflächen wie Küchen, Wohnflure, Balkone oder Terrassen zu sogenannten Wohnungs-Clustern zusammengefasst. Jede Wohnung hat trotzdem ein eigenes Bad und einen eigenen Küchenanschluss.

Im Erdgeschoß befinden sich soziale Einrichtungen wie die Küche und das Nachtcafé des Berliner Obdachlosenhilfe e.V., eine Sozialstation der Diakonie, eine Demenz-WG, eine mehrsprachige Kita und das Berliner Büro der internationalen Straßenzeitung für Armut, Reichtum und Kunst „Arts oft the Working Class“. Gefördert wurde das Vorhaben mit Mitteln aus dem Senatsprogramm „Experimenteller Geschosswohnungsbau in Berlin“ im Rahmen des „Sondervermögens Infrastruktur der wachsenden Stadt“. Rund die Hälfte der Wohnungen wird an Mitglieder mit Wohnberechtigungsschein vermietet – dafür gibt es sehr niedrige Einkommensgrenzen.

Drei Stockwerke höher – und auch höhere Mieten, aber immer noch leistbar, ein Wohnbau der Howoge

6,50 Miete

Die städtische Gesellschaft Howoge, eine der sechs kommunalen Wohnungsunternehmen des Landes Berlin, setzt auf Verdichtung. Allein die vier- bis sechsgeschoßigen Plattenbauten im Bestand der Berliner Wohnungsbaugesellschaft mbH verfügen über mehr als 320.000 Quadratmeter Dachfläche. Innerhalb von zwei Pilotprojekten entstanden durch Aufstockungen insgesamt 50 Neubauwohnungen, für die weder zusätzliche Grundstücksressourcen erforderlich waren noch zusätzlich Flächen versiegelt wurden. Die Hälfte der Wohnungen ist sozial gefördert und wird zu Einstiegsmieten ab 6,50 pro Quadratmeter vermietet. Howoge-Geschäftsführer Ulrich Schiller erläuterte: „Allerdings haben unsere Untersuchungen gezeigt, dass Dachaufstockungen sehr komplex sind und sich nicht auf jedem Gebäude und an jedem Standort realisieren lassen. Dabei spielen u. a. der Städtebau und der Bautyp eine große Rolle. Gleichwohl haben sie das Potenzial, das konventionelle Bauen sinnvoll zu ergänzen und einen wichtigen Beitrag zur Schaffung neuen Wohnraums zu leisten.“ Dennoch, die Plattenbauten sind stabil genug, um drei Stockwerke draufzusetzen – für die Photovoltaikanlage ging es sich von der Statik her jedoch nicht mehr aus. Die großzügigen Grünanlagen sind ein Paradies für Kinder. „Aber wir denken weiter, aus der Sicht des Bestands. Ausschlaggebend ist neben den städtebaulichen Aspekten der Primärenergieverbrauch des Gebäudes – Dachaufstockungen passieren im Rahmen einer energetischen Sanierung und als Teil unserer Klimastrategie“, so Schiller, der an die 2.000 Wohnungen noch sanieren und verdichten möchte.

Wohnen am Campus – ein Neubauprojekt mit rund 1.000 Wohnungen und einem Studentenhaus auf dem ehemaligen Flugfeld

Aber auch die erste Pankower Wohnungsgenossenschaft ist bemüht, den Bestand zu sanieren und zu verdichten – Dachgeschoßaufbauten und ergänzende Neubauten sind das Ergebnis. Der ganze Stolz ist jedoch die Brauchwasseranlage in der Wohnhausanlage in der Dolomitenstraße.

Neue Stadtlandschaft

Das Studentendorf der Freien Universität Berlin, wie dessen ursprünglicher Name lautet, ist als Ensemble von 28 auf etwa fünf Hektar locker angeordneten Häusern wie eine Stadtlandschaft komponiert. Klaus Mindrup führte uns durch das neue Wohnbauprojekt „Wohnen am Campus“ in Adlershof, 505 Wohnungen und 107 Mikroapartments wurden 2022 übergeben. Rund die Hälfte sind geförderte Wohnungen mit Mieten um 6,50 pro Quadratmeter – die freifinanzierten Mietwohnungen kosten rund 10,50 pro Quadratmeter. Wie in Deutschland üblich, kommen die Betriebskosten noch hinzu. Da die sehr energieeffizienten Gebäude aber kaum Kosten für Wärme und Strom verursachen, rechnet Schiller mit rund zwei Euro pro Quadratmeter zusätzlich.

Die Studentenhäuser am Forschungscampus der Humboldt-Universität bestehen aus elf Häusern mit Wohngemeinschaften mit zehn bis 13 Zimmern und einem großzügigen Gemeinschaftsbereich mit Küche. „Das funktioniert super und unsere Studenten sind in der Regel ein Jahr hier – somit kommt es auch zu einer Gemeinschaftsbildung“, so Mindrup. Auch hier steht soziale Durchmischung im Zentrum – und ist gelungen, „obwohl uns bei den ersten Plänen jeder sagte, vergesst die Gegend, da will niemand hinziehen“, schmunzelt Mindrup. Keine Rede – auch die äußeren Ränder von Berlin sind mittlerweile beliebt. Das ist zum einen den extrem hohen Mieten in der Stadt geschuldet, aber auch der Pandemie: In dieser Zeit entdeckten vor allem junge Familien das Wohnen im Grünen – und die Straßenbahn bringt einen ja in 30 Minuten in das Zentrum zur S-Bahn. „Es ist hier ein bisschen wie in der Seestadt Aspern – nur natürlich in einem viel kleineren Maßstab. Aber wie wir sehen, es wird angenommen und es ist halt auch unschlagbar günstig, hier zu wohnen, trotz aller Annehmlichkeiten wie Nahversorgung, Schulen, Kindergarten“, erläutert Mindrup.

Rechts die Studenten – links der Wohnbau, in Adlershof, der Schlachtensee eG

Berlin ist bunt und eine Stadt mit so vielen Gesichtern, dass beim nächsten Besuch mit Sicherheit wieder eine breite Palette an verblüffenden Initiativen und Projekten wartet. Mindrup hat einen Wunsch: „Wir brauchen dringend wieder die Gemeinnützigkeit und eine Wohnbauförderung – so wie ihr es in Österreich auch habt.“ Ein wenig stolz nicken Gehbauer und Baringer, im Bewusstsein, dass Österreich und vor allem der soziale Wohnbau in Wien eine internationale Besonderheit ist.

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