Kollektive Wohnlabore

Gemeinschaftliche Wohnformen sind auf dem Vormarsch. Die vorherrschende Wohnvariante werden sie nicht werden, das sagen Experten, aber von ihren Ideen und Experimenten kann der Wohnbau als Ganzes enorm profitieren.
— MAIK NOVOTNY

Große Freude in Wien, große Freude in Barcelona. Das Wohnprojekt Gleis21 im Wiener Sonnwendviertel schaffte es auf die Shortlist des EU Mies-van-der- Rohe-Awards 2022, aus einer Auswahl von Projekten aus 41 Ländern. Das kooperative Wohnprojekt La Borda vom katalanischen Architekturkollektiv Lacol erhielt sogar den Preis für „Emerging Architecture“. Anzeichen dafür, dass sich gemeinschaftlich organisierte Wohnprojekte von einem Nischendasein in die Mitte der Wohnbauarchitektur geschoben haben. Bei österreichischen Pionierprojekten wie dem Wohnprojekt Wien im Nordbahnhofviertel von einszueins Architekten geben sich internationale Besucher die Klinke in die Hand, und in jedem größeren Stadtentwicklungsgebiet sind inzwischen Bauplätze für Baugruppen reserviert – wenn auch nicht in jeder Stadt und in jedem Bundesland.

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Eine Bewegung, die jedoch nicht aus dem Nichts kommt. Blickt man etwas weiter in die Vergangenheit zurück, zeichnen sich Wellenbewegungen ab: Die Siedlerbewegung in den frühen 1920er-Jahren, die Ökodörfer der 68er-Generation und kooperative städtische Projekte wie die Grazer Terrassenhaussiedlung. Danach folgte ein Dornröschenschlaf, der durch die Sargfabrik in Wien-Penzing in den späten 1980er-Jahren langsam endete, bis es im neuen Jahrtausend zur richtig großen Welle kam.

Aktuelle Publikationen wie das „Praxishandbuch Leben in Gemeinschaft“ von Wohnprojekt-Pionier Heinz Feldmann und „Gemeinschaftliches Wohnen und selbstorganisiertes Bauen“ von Christoph Laimer und Andrej Holm zeigen den reichen Fundus an Forschungsergebnissen; ein inzwischen etablierter Berufszweig an Prozessbegleitern, die Professionalisierung der Selbstorganisation.

Nische oder Mainstream?

Doch sind Projekte, die von künftigen Bewohnern ein hohes Maß an Ausdauer und Risiko verlangen, wirklich mehrheitsfähig? „Wege aus der Nische in den Mainstream“ war auch das Thema des Baugemeinschaftsforums im Juni 2022, organisiert von der Initiative Gemeinsam Bauen und Wohnen (Ini- GBW). „Baugemeinschaften haben ihren Platz in einer pluralistischen Gesellschaft“, resümieren Johanna Leutgöb von der IniGBW und Vorstandskollege Arnold Brückner.

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Brückner, selbst Architekt und Bewohner der Baugruppe Grätzelmixer im Sonnwendviertel, ergänzt: „Man muss vielleicht den Begriff Mainstream infrage stellen. In Wien gibt es freifinanzierte Wohnungen im Bestand und Neubau sowie die sozialdemokratische Tradition von Gemeindebau und gefördertem Wohnbau. Es gibt also nicht den Mainstream im klassischen Sinne. Es gibt unterschiedliche Lösungen für verschiedene Fragen, es gibt ein reichhaltiges Angebot für viele Bedürfnisse. Das heißt auch, dass gemeinschaftliche Wohnformen ein förderungswürdiger Ansatz sind, weil sie keine vorentwickelten Modelle bieten, sondern auf ein konkretes Bedürfnis von konkreten Menschen an einem konkreten Ort reagieren. Gerade das macht sie flexibel und adaptierbar.“

Wohnlabor im Altbestand: Die Siedlungsgenossenschaft Ennstal startete die Baugruppe Kolibri mit mehreren Workshops.

Auf reichlich Erfahrung in der Begleitung von Wohnprojekten kann man auch bei realitylab zurückgreifen, und dessen Gründer Gernot Tscherteu bringt die Antwort auf den Punkt: Baugruppen werden nie zum Mainstream werden, aber sie beeinflussen den „normalen“ geförderten Wohnbau nachhaltig. „Wir begleiten viele Projekte im Bereich soziale Nachhaltigkeit, und viele Erkenntnisse und Methoden von Baugruppenprojekten können wir dort auch anwenden. Die Gemeinschaftsräume bleiben bei uns fast nie leer. Es sind Elemente in den Mainstream übergegangen, aber nicht die Wohnform selbst. Dafür bräuchte es natürlich auch eine eigene Förderung und eine Anerkennung, dass Baugruppen einen wichtigen Beitrag zur Stadtentwicklung leisten.“

Die Bauherrinnen des Projekts HausWirtschaft in Wien: Ihr Projekt ist als Genossenschaft organisiert und wurde gemeinsam mit der EGW entwickelt.

Gemeinschaftsräume im Dialog

Ein konkretes Beispiel dieses Wissenstransfers ist der von realitylab moderierte „Wiesendialog“ im Quartier In der Wiesen Süd. Hier wurde schon im Bauträgerwettbewerb das Ziel verfolgt, alle Bauplätze durch gemeinsamen Freiraum und geteilte Gemeinschaftsräume zu verknüpfen. „Wir starten immer mit den Bewohnern gemeinsam, und mit einem extra dafür reservierten Budget“, erklärt Gernot Tscherteu. „Dafür machen wir Workshops, die wie Baugruppentreffen organisiert werden…

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