Fast wie im Wald

Quartier Breitensee in Wien: Einst ein unzugängliches Militärareal, heute ein Wohnquartier für fast 1.000 Haushalte mit einem öffentlich zugänglichen Park. Vor etwas mehr als einem Jahr sind die ersten Bewohner eingezogen. Zeit nachzusehen, welche Früchte die ambitionierte Projektentwicklung trägt und welche Herausforderung das Wohnen im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit bereithält.
FRANZISKA LEEB

Ein kühler Regentag im Mai mag kein idealer Rahmen sein, um ein Wohnquartier zu besichtigen, noch dazu eines, bei dem das Freiraumangebot eine große Rolle spielt. Aber: „Eine gute Wohnanlage funktioniert bei jedem Wetter“, lacht Michael Gehbauer, Geschäftsführer der WBV-GPA. Vertreter aller beteiligten Wohnbauträger waren gekommen, um auf Einladung der Wohnen Plus Akademie das Quartier Breitensee in Wien-Penzing im Dialog mit interessierten Branchenkolleginnen einem Praxis-Check zu unterziehen. So viel sei vorweggenommen: Eine längere Vorgeschichte mündete in einem mustergültigen Prozess, bei dem alle Beteiligten an einem Strang zogen. So konnte eigentlich nichts schiefgehen und daher trübte auch der Regen – den die Vegetation ohnedies dringend braucht – das Besuchserlebnis nicht.

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Weil man gern vergisst, dass sich ein städtisches Quartier nicht im Handumdrehen aus dem Nichts entwickelt und die Geschichte die Identität eines Standorts prägt, seien die Historie und Projektgenese in groben Zügen festgehalten: Wo heute mehr als 2.000 Menschen um einen großen Park wohnen, der von drei Seiten für die Öffentlichkeit zugänglich ist, befand sich über hundert Jahre lang sozusagen militärisches Sperrgebiet.

Um 1900 entstanden in Breitensee in der Nähe des Exerzierplatzes Schmelz weitläufige Kasernenanlagen. Teil davon ist die k.k. Infanterie-Kadettenschule an der Hütteldorfer Straße, eine im Grundriss schlossartig anmutende Anlage mit anschließendem Parkgelände, das entlang Leyserstraße, Spallartgasse und Kendlerstraße von hohen Ziegelmauern umgeben war. Nach dem 1. Weltkrieg diente die Militärschule zunächst als Bundeserziehungsanstalt für Knaben, ab 1939 wurde sie für eine nationalsozialistische Napola (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) requiriert.

Bei einer Nachverdichtung ist es wichtig, auch denen, die schon hier sind, etwas anzubieten.

Hannes Stangl, Sozialbau

Nach Ende des 2. Weltkriegs waren französische Besatzungstruppen einquartiert, bis schließlich das Bundesheer die Liegenschaft übernahm. Schon in den 1960er-Jahren wurden Grundstücksteile verkauft. Auf einem durch die Spallartstraße abgetrennten Areal an der Leyserstraße ging 1967 die ursprünglich in der Westbahnstraße angesiedelte Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Betrieb. Zur gleichen Zeit wurde das Hauptgebäude nach dem einstigen Wiener Bürgermeister und ersten gewählten Bundespräsidenten Theodor Körner in „Kommandogebäude General Körner“ umbenannt.

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Quartier Breitensee – Wohnen im Park 
Areal Spallartgasse / Leyserstraße / Kendlerstraße / Hütteldorfer Straße, 1140 Wien 
Grundstücksfläche: 40.816 m² 
Bruttogeschossfläche oberirdisch: 95.000 m² 
Bebauungsdichte: 3,7 
Natur- und Erholungsraum: ca. 15.000 m² 
Wohnungen: 990, davon 573 gefördert (381 Norm-, 192 Smart- Wohnungen), 417 frei finanziert (auf den Bauplätzen 5, 6, 7) 
Projektentwicklung: Consulting Company Immobilien GmbH, Wien 
Freiraumplanung: Büro Kandl Landschaftsplanung

Gut Ding braucht Weile

Schon im Wiener Stadtentwicklungsplan 1994 hatte man Visionen für die Breitenseer Kasernenareale. Das Kommandogebäude konnte man sich als Verwaltungs- und Bezirkszentrum vorstellen, und „der erhaltenswerte Baumbestand könnte in einen Park integriert und somit dem Grünflächenmangel entgegengewirkt werden“. Im März 2008 beauftragte das Verteidigungsministerium die vier Jahre zuvor zwecks Verkaufs von Bundesheer-Liegenschaften gegründete Maklergesellschaft Svibeg mit der Verwertung einer 4,1 Hektar großen Teilfläche des Areals.

Ein jahreslanges Ringen zwischen Gebietskörperschaften und im Spannungsfeld von Gewinnmaximierung und öffentlichem Interesse folgte. Erst 2015 erfolgte – nach schlussendlich erfolglosen Verhandlungen mit dem Wohnfonds Wien, der das Areal gern für dringend notwendigen geförderten Wohnbau erworben hätte – die öffentliche Ausschreibung nach dem Höchstbieter-Prinzip, den Zuschlag erhielt die Consulting Company, ein privater Bauträger aus Oberösterreich für 30,3 Millionen Euro. Der Liegenschaftseigentümer holte sich Expertise in Person des Stadtplaner Christoph Luchsinger und des erfahrenen Stadt- und Projektentwicklers Klaus Wolfinger, der die gesamte Entwicklung als Leiter des Qualitätssicherungsgremiums begleitete und auf Information und Einbindung der Bevölkerung setzte.

Bei einer Nachverdichtung ist es wichtig, auch denen, die schon hier sind, etwas anzubieten.

Hannes Stangl, Sozialbau

Eine landschaftsarchitektonische Analyse von Auböck + Kárász definierte erhaltenswerte Baumstrukturen. Im städtebaulichen Vertrag wurde unter anderem die Öffnung des Parks für die Bevölkerung und damit das Schleifen der Umfassungsmauer sowie die Errichtung von überwiegend geförderten Wohnungen festgeschrieben. Aus dem vom Grundstückseigentümer in Kooperation mit der Stadt Wien ausgelobten städtebaulichen Wettbewerb mit internationaler Beteiligung und 94 Einreichungen ging der Vorschlag von Driendl Architects mit Bödeker Landscape Architects als Sieger hervor. Durch die dichte Anordnung der Gebäude an den Rändern des Areals entsteht ein großer zusammenhängender Grünraum in der Mitte, womit der Großteil des historischen Baumbestands erhalten werden kann.

Baumkronen fast so hoch wie die Gebäude: Bauten der WBV-GPA an der Leyserstraße (Architekten: Gangoly & Kristiner/O&O Baukunst, Froetscher Lichtenwagner)
Foto: David Schreyer

Gemeinnützige übernehmen

Sieben Bauplätze
BPL 1/Leyserstraße 4 – „Theodor“ Bauherr: WBV-GPA Architektur: Froetscher Lichtenwagner Architekten 
BPL 2/Leyserstraße 4a – „Rosalie“ Bauherr: WBV-GPA Architektur: Gangoly & Kristiner Architekten in Kooperation mit O&O Baukunst 
BPL 3/Spallartgasse 29 Bauherr: Eisenhof/Heimbau Architektur: Froetscher Lichtenwagner Architekten 
BPL 4/Spallartgasse 25 + 27 Bauherr: Volksbau Architektur: Driendl Architects 
BPL 5/Spallartgasse 21 + 23 – „Theos“ Bauherr: ÖSW-AG/ Immo 360° Architektur: Driendl Architects
BPL 6 + 7 / Spallartgasse 17 + 19 – „Theos“ Bauherr: ÖSW-AG/ Immo 360° Architektur: BWM Architekten Landschaftsarchitektur: SimZim Landschaftsplanung

2017 erwerben schließlich die gemeinnützigen Bauträger ÖSW und Sozialbau die Grundstücke und räumen den Projektpartnern Eisenhof, Volksbau und WBV-GPA Baurechte ein. Mit der Planung der sieben Wohnhäuser beauftragten sie den Sieger des städtebaulichen Wettbewerbs, Driendl Architects, sowie BWM Architekten, Froetscher Lichtenwagner und Gangoly & Kristiner Architekten mit O&O Baukunst.

Das Büro Kandl Landschaftsplanung wurde mit der Planung des zusammenhängenden Freiraums beauftragt – und der ist in mehrfacher Hinsicht gelungen: Mit wenigen Eingriffen wurde der verwilderte Bestand in einen Park verwandelt. Gut eingegliedert sind die Pufferzonen zu den privaten Bereichen. Auch wenn die Kubaturen der umgebenden Wohnhäuser mit bis zu elf Geschoßen beachtlich sind – es gibt Stellen, an denen sie nicht mehr wahrgenommen werden und man sich wie im Wald fühlt, schon allein das ist eine einzigartige Qualität.

Balkon mit Baumhausflair
Foto: David Schreyer

Naturschutz

70 Prozent der Bäume blieben erhalten, das bedeutet zugleich, dass dennoch viele gefällt werden mussten. Früh wurde daher die Umweltanwaltschaft eingebunden und um jeden Baum gekämpft. Spezielle Baugrubensicherungen stellten sicher, dass keiner der zu erhaltenden Bäume zu Schaden kommt. Maßnahmen wie Nistplätze, Insektenhotels und Totholzhaufen stellen Lebensräume für Wildtiere sicher. Ein Milan, Füchse und ein Dachs wurden bereits gesichtet, um nur die spektakulärsten zu nennen. „Ökologisch wurde vieles umgesetzt, was zu Planungsbeginn noch nicht State of the Art war“, betont Qualitätsmanager Klaus Wolfinger. Eine zentrale Fläche wurde vom Stadtgartenamt übernommen, die Übergänge zu den Flächen der Wohnbauträger – der größte Teil davon im Besitz der Sozialbau – sind fließend. Nur kleine Gruppen von Holzpflöcken markieren an einzelnen Stellen die Grundstücksgrenzen.

Kein Zaun unterbricht den Freiraum. (Bauplatz 6, BWM Architekten, ÖSW)
Foto: BWM/Lukas Schaller

Der nach der ehemaligen Bezirksvorsteherin Jutta Steier benannte Park ist also Freiraum für die Bewohner des Quartiers und zugleich ein neuer Erholungsraum für den Stadtteil. Dass hier Konflikte programmiert sind, ist naheliegend. De facto halten sie sich in Grenzen. Es gibt Bedenken der Bewohner, dass Spielgeräte durch die zusätzlichen externen Nutzer schneller kaputt werden und über die Reparaturen und Betriebskosten. Dass Hunde – sie dürfen an der Leine nur auf den Hauptwegen durch den Park geführt werden – ein Problem sind, wird evident an der Fülle der verschiedenen Hinweisschilder. Im Winter wurden die Äste eines Totholzhaufens von Kindern davongetragen – ist ja auch verlockend. Nun sollen die Haufen eingezäunt werden – das hält allerdings niemand für eine gute Lösung. Beim Praxis-Check kam die Idee auf, mit einer Umweltorganisation Vermittlungsprogramme anzubieten. Da kann man dann auch gleich die chemische Zusammensetzung von Hundeurin darlegen und dessen zerstörende Wirkung auf die Vegetation.

Positive Kräfte

„Es ist wichtig, als Hausverwaltung präsent zu sein“, betont Sozialbau- Hausverwalter Dominik Rothen. „Mehr reden als schreiben ist wichtig – und man muss die positiven Kräfte stärken.“ Das geplante Sommerfest wird ein Beitrag dazu sein. Eisenhof-Chef Peter Roitner benennt als wichtige Faktoren für die Werterhaltung der Anlage eine hohe Identifikation der Bewohner und kontinuierliche Instandhaltung und Pflege.

Stiegenhaus mit Aufenthaltsqualität von Froetscher Lichtenwagner Architekten (Bauteil Eisenhof).
Foto: Stephan Huger

Eine positive Kraft sind auch die Mitglieder der Wohngruppe „Vorstadthaus Breitensee“. Die 22 Menschen vom Baby bis ins Pensionsalter leben in neun Wohnungen im Haus „Rosalie“ der WBV-GPA. Für sie wurde von Anfang an jenes Geschoß reserviert, dem die Gemeinschafts-Dachterrasse vorgelagert ist. Im Gegenzug übernehmen sie Pflanzenpflege und kümmern sich um die Gemeinschaftsräume. „Das unterstützt uns in der Verwaltungsarbeit“, sagt WBV-GPA-Hausverwalterin Carmen Böcskör, weil die Wohngruppe eine Brücke zu den anderen Bewohnern herstelle. „Meine Vision: ein Ort der Begegnung für alle; mein Wunsch: mehr Respekt von Außenstehenden.“

Eine integrative Rolle übernehmen dabei auch die beiden Lokale an der Spallartgasse. Das Bistro Demi, Ableger eines griechischen Restaurants aus dem Bezirk mit seiner parkseitigen Terrasse, und das mit köstlichen Patisserien aufwartende Café Mehlspeis-Labor mit einer Terrasse am Eingang zum Park wirken räumlich und sozial verbindend. Ein Ärztezentrum und ein Augenarzt, ein Kindergarten sowie ein Supermarkt sind weitere Einrichtungen, die das Grätzl bereichern. Sozialbau- Chef Hannes Stangl: „Es handelt sich um eine Nachverdichtung der Stadt – daher ist es wichtig, auch denen, die schon hier sind, etwas anzubieten.“ Nicht nur deshalb hält auch Bezirksrätin Emine Gül, sie war als damalige Vorsitzende des Bauausschusses Mitglied der Jury, das Quartier Breitensee für ein Vorzeigeprojekt. Ebenso wie Daniel Dutkowski betont auch sie, wie positiv es war, dass die Bauträger frühzeitig und aktiv von sich aus die Bevölkerung informierten.

Wie im Wald: Die menschlichen Behausungen sind unsichtbar. Der Totholzhaufen ist Lebensraum für Tiere.
Foto: Franziska Leeb

Architektonisch gelungen

Und die Architektur? Die ist auf unaufgeregte Weise sehr gut. Auch das ein Zeichen dafür, dass es so etwas wie einen guten kooperativen Geist gegeben hat, der alle zu Leistungen anspornte, wie sie nicht selbstverständlich sind. Allen gemeinsam sind Balkonzonen, auf denen die Privatheit gewahrt bleibt, und ein erkennbarer Wille, der besonderen Lage gerecht zu werden. Die im Masterplan von Driendl Architects festgelegte Anordnung und Volumetrie der Baumassen reagiert nicht nur auf den Baumbestand, sondern auch auf das jeweilige Gegenüber und zielt auf gute Belichtung der Wohnungen ab. BWM Architekten referenzieren mit Ziegel- und Erdtönen bei den beiden Bauten an der Ecke von Spallartgasse und Kendlerstraße an die gefallene Ziegelmauer und die Bauweise der die Gegend prägenden historischen Bauten. Nicht sichtbar ist, dass die unter dem Grundstück verlaufende Strecke der Vororte-Linie besondere statische Maßnahmen erforderte und die Fundierung der Gebäude als unterirdische Brückenkonstruktion errichtet werden musste.

Ausrichtung und Volumetrie reagieren auf die Umgebung und sorgen für gute Belichtung. (Bauteil Volksbau, Driendl Architects).
Foto: vogus

Die beiden Häuser von Froetscher Lichtenwagner punkten zudem mit ihren bequemen, hellen, von Gründerzeithäusern inspirierten Stiegenhäusern, für deren Erleben man den Lift gern links liegen lässt. Gangoly & Kristiner und O&O Baukunst verpassten „Rosalie“ feingliedrigen Fassadendetails, die angenehm auf den öffentlichen Raum ausstrahlen. Vielleicht hat auch der ums Eck gelegene Franz-Kurz- Hof von Erich Franz Leischner aus den 1920er-Jahren angespornt, die Rolle von Wohnbauten als Zierde des Stadtbilds ernst zu nehmen.

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