Recht auf Wohnen

Starke Kooperationen, greifbare Lösungen für eine Gesellschaft ohne Wohnungslosigkeit

Wohnen gehört heute zu den zentralen Zukunftsfragen. Das wird besonders deutlich, wenn man sich mit den Gründen von und den Wegen aus der Wohnungslosigkeit auseinandersetzt. Es gibt sie bereits – sozial nachhaltige Konzepte und Ansätze zur Vermeidung bzw. Beendigung von Wohnungslosigkeit. Während diese auf einzelne branchenübergreifende Kooperationen bauen, fehlt es allerdings an einer integrierten und flächendeckenden Gesamtstrategie, um angemessenes Wohnen für wirklich alle zu ermöglichen.

Von Christina Lenart, Daniela Unterholzner, Barbara Unterlerchner

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Wohnungslosigkeit ist immer weniger ein Randgruppen-Phänomen, sondern ein generalisiertes Risiko für Viele: Steigende Mietpreise, Teuerungen, Spekulationen am Wohnungsmarkt und prekäre und informelle Arbeitsverhältnisse tragen u. a. dazu bei, dass immer mehr Menschen keine eigene Wohnung zur Verfügung haben. Dennoch gibt es immer noch das Narrativ über Wohnungslosigkeit als Folge individuellen Versagens oder unglücklicher Umstände Einzelner. Dabei ist es wichtig, ein stärkeres Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es hauptsächlich strukturelle Ursachen sind, die dazu führen, dass manche Menschen ihr Zuhause verlieren.

Es gibt Studien, die zeigen, dass paradoxerweise insbesondere armuts- oder ausgrenzungsgefährdete Personen in Österreich diejenigen sind, die verhältnismäßig viel Geld fürs Wohnen ausgeben. Das unterste Einkommensfünftel der Bevölkerung gibt mit rund 25 Prozent einen deutlich höheren Anteil an Haushaltsausgaben für Wohnen und Energie aus als das oberste Einkommensfünftel (15 Prozent). Aktuelle Entwicklungen verschieben das Problem nochmal deutlich in die Mitte der Gesellschaft: Bereits Ende 2022 stellten für 22 Prozent der in Österreich lebenden Menschen die Wohnkosten eine schwere finanzielle Belastung dar. Im April 2023 verschärfte sich die Situation erneut, denn die Richtwertmieten stiegen um weitere 8,4 Prozent an. Betroffen sind der Großteil der Mietverträge von Altbauwohnungen sowie viele kommunale Wohnungen. Folglich wird für immer mehr Menschen das Wohnen zur finanziellen Belastungsprobe. Doch schon vor den starken Wohnkosten-Steigerungen im Jahr 2022 waren die Mietpreise von einem überdurchschnittlichen Aufwärtstrend gekennzeichnet.

Auch die Erhöhung der Tariflöhne hinkt den Entwicklungen der Indexmieten seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 deutlich hinterher. Die größte Lücke zwischen den Erhöhungen der Medianhaushaltseinkommen und den Index-Bruttomieten (11 Prozent) war in den Jahren ab 2013 festzustellen und korrespondiert mit den Zahlen von registrierten wohnungslosen Menschen in Österreich, die ebenfalls 2013 ihren Höhepunkt bei 24.459 Personen verzeichnen. Seitdem sind die Wohnungslosenzahlen leicht rückläufig und haben sich während der Pandemie nicht erhöht. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie sich die Situation in den Folgejahren und nach Auslaufen von temporären wohnungs- und existenzsichernden Maßnahmen durch die öffentliche Hand entwickeln wird.

Dabei ist Wohnen die Basis für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe, für das Privat- und Familienleben und für die physische und psychische Gesundheit. Wohnen ist keine Option, die man wählen kann oder auch nicht. Ohne angemessenes und sicheres Wohnen ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Aber was tun, wenn für immer mehr Menschen das Geld zum Wohnen nicht mehr reicht?

Wohnen – ein Menschenrecht, dem der Rechtsschutz vorenthalten wird

Wohnen wird häufig als Bedürfnis bezeichnet. Wohnen ist allerdings vielmehr ein Menschenrecht und gehört zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, die im UN-Sozialpakt geregelt sind und Menschen in ihren elementaren Lebensbereichen schützen sollen. Österreich hat sich völkerrechtlich dazu verpflichtet, das Recht auf Wohnen zu garantieren und umzusetzen. Wohnraum ist dabei mehr als nur ein Dach über dem Kopf und muss angemessen sein: Welche Kriterien dafür erfüllt sein müssen, erläutert der UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dazu gehört auch der gesetzliche Schutz der Unterkunft – etwa in Form eines Mietvertrags. Der Wohnraum muss leistbar und bewohnbar sein. Außerdem muss der Wohnraum diskriminierungsfrei zugänglich sein; insbesondere benachteiligten Gruppen ist dauerhafter Zugang zu Ressourcen zu gewähren, die angemessenes Wohnen ermöglichen. Im Ernstfall müssen die Vertragsstaaten mit vorhandenen finanziellen Mitteln für die „Unterbringung“ armutsbetroffener oder in Not geratener Menschen sorgen.

„Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden Menschen auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an.“

Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpaktes

Die Vertragsstaaten sind also mit einer Bringschuld konfrontiert, denn anders als bei anderen Menschenrechten, wie etwa dem Recht auf Eigentum oder Privat- und Familienleben, ist das Recht auf Wohnen kein Abwehrrecht gegenüber staatlicher Willkür. Die Umsetzung erfordert eine solidarische Leistungserbringung zum Gemeinwohl aller und Staaten müssen Mittel und Ressourcen mobilisieren, um das zu gewährleisten.

In Österreich ist das Recht auf Wohnen nicht zur Gänze umgesetzt, sondern lediglich in einfachen Gesetzen als unverbindliches Ziel normiert, ohne ein einklagbares Recht zu begründen. Dieses Rechtsschutzdefizit für einzelne Personen in Bezug auf angemessenes Wohnen ist eines der vielen Puzzleteile, die fehlen, um Wohnungslosigkeit vollständig zu beseitigen.

Ungleichheiten spitzen sich zu

Die COVID-19-Pandemie hat Ungleichheiten verstärkt sichtbar gemacht. Zudem wurden die „eigenen vier Wände“ als wesentliche Eckpfeiler zur Eindämmung des Virus ins Zentrum gerückt. So wurde die Wohnung der Ort, an dem man sich vor dem Virus schützt und dabei wohnt, arbeitet, Kinder betreut, lernt oder sich erholt. Die sozialen Folgen der Gesundheitskrise zeigen zudem, dass nicht nur das Wohnen an sich, sondern vielmehr auch die Wohnqualität für die physische und psychische Gesundheit entscheidend ist. Für materiell benachteiligte Menschen, insbesondere Kinder, haben sich bestehende Ungleichheiten in dieser Zeit verschärft. Der Appell „Bleiben Sie zu Hause!“ bedeutete für sie oftmals der Wegfall des warmen Mittagessens in Kindergarten, Schule oder Hort, sowie fehlende Bewegungs- und Handlungsräume.

Wohnungslosigkeit – Die schlimmste Form der Armut

An der Armutsbetroffenheit änderte die Gesundheitskrise zunächst wenig. Laut den Ergebnissen der jährlichen EU-SILC-Erhebungen steigerte sich die Quote der armutsgefährdeten Personen in Österreich von 2020 auf 2021 nur um 0,8 Prozent auf 14,8 Prozent der Bevölkerung. Ausschlaggebend dafür waren die stabilisierenden Effekte von monetären Sozialleistungen für Personen mit niedrigem Einkommen.

Ohne Sozialleistungen wären demnach 2021 26,3 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet gewesen.
Zur Bewältigung der Energie- und Teuerungskrise im Jahr 2022 wurde wiederum eine Reihe von Entlastungspaketen beschlossen. Diese haben jedoch keine preissenkenden Effekte. Sie gebieten dem Umstand, dass die Inflation nicht alle Haushalte gleichermaßen trifft und viele Haushalte in die Armut abzurutschen drohen, keinen langfristigen Einhalt. Woran es insbesondere fehlt, ist die nachhaltige Unterstützung für Menschen mit geringem Einkommen, die vom hohen Preisniveau am stärksten betroffen sind.
Im Jahr 2021 waren in Österreich 19.450 Personen als obdach- oder wohnungslos registriert, fast 60 Prozent davon in Wien. Die Dunkelziffer dürfte doppelt so hoch sein, wie etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) schätzt.

Insgesamt sind mit 68,5 Prozent deutlich mehr Männer als Frauen als obdach- oder wohnungslos registriert. Frauen sind mutmaßlich jedoch stärker von verdeckter Wohnungslosigkeit betroffen. Ein-Eltern-Haushalte – dies sind vorwiegend alleinerziehende Frauen mit ihren Kindern – verzeichnen mit einer Quote von 47 Prozent die höchste Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung der betrachteten Haushaltstypen. Gemeinsam ist sowohl obdach- als auch wohnungslosen Menschen ein häufig schlechter Gesundheitszustand durch Vorerkrankungen und/oder prekäre Lebensumstände.

Wohnungslosigkeit ist also eng verwoben mit sozialen Problemlagen wie Armut, gesellschaftlicher Ausgrenzung bis hin zu Gesundheitsrisiken. Wer keinen Wohnraum hat, hat keinen Schutz vor Kälte, Feuchtigkeit, Krankheitserregern und Gefahren im öffentlichen Raum etc. Diese Umstände führen zur Multimorbidität und verkürzen die Lebensdauer der Betroffenen.

Wohnungssituation in Wien

Ginge man nach der äußeren Wahrnehmung des Wiener Wohnbaus, könnte man meinen, dass das Recht auf Wohnen mit dem sogenannten „Wiener Erfolgsmodell“ umgesetzt wurde. Tatsächlich bietet Wien im internationalen Vergleich einen großen Anteil an leistbaren Wohnraum. Der Soziale Wohnbau in Wien ist das Ergebnis langfristig angelegter wohnungspolitischer Instrumente und einer engen Kooperation der Kommune mit dem Gemeinnützigen Wohnbau. Unter Sozialem Wohnbau fasst man daher in der Hauptstadt den kommunalen (auch genannt Gemeindebau) und den mit Hilfe von Fördergeldern errichteten gemeinnützigen Wohnbau zusammen.

Der heutige Soziale Wohnbau in Wien profitiert einerseits von seinem zum Teil über 100-jährigen Wohnungsbestand (57 Prozent der Mietwohnungen in sozialer Bindung, während rund 77 Prozent der WienerInnen zur Miete wohnen) und andererseits von nachhaltigen Strategien, die es ermöglichen, neuen, kostengünstigen Wohnbau zu errichten. So fließt der Großteil der Wohnbauförderung in Neubau- oder Sanierungsvorhaben (2019: 85 Prozent), während nur ein kleiner Teil (12 Prozent) direkt an Personen mit niedrigem Einkommen geht. Das mit Hilfe von Förderungen finanzierte Objekt hat das Potenzial, langfristig sozial gebunden zu sein – vorausgesetzt, dieses gelangt über einen Verkauf mittelfristig nicht in den freien Markt.

„Im Jahr 2020 waren insgesamt 19.912 Personen in Österreich als obdach- oder wohnungslos registriert. Dazu zählen alle Personen, die mindestens einmal in diesem Jahr eine Hauptwohnsitzbestätigung für Obdachlose9 im Zentralen Melderegister besaßen (9.721 Personen) oder in einer Einrichtung für Obdach- und Wohnungslose registriert waren (11.441 Personen), wobei für die Gesamtzahl Doppelzählungen vermieden wurden.

Der überwiegende Teil der registrierten Obdach- oder Wohnungslosen ist in Wien registriert (58,2 %). Der entsprechende Anteil in anderen Bundesländern steht nicht proportional zur Bevölkerungsanzahl. Dies liegt vermutlich daran, dass Obdach- und Wohnungslose hauptsächlich in großen Städten zu finden sind.

Der Großteil der Obdach- oder Wohnungslosen war 2020 im Alter von 25 bis 64 Jahren (70,5 %). Der Anteil der registrierten Obdach- oder Wohnungslosen, die 65 Jahre oder älter sind, beträgt hingegen nur 7,9 %. Insgesamt sind mit rund 69 % deutlich mehr Männer als Frauen als obdach- oder wohnungslos registriert. Die Verteilung von Männern und Frauen innerhalb der Altersgruppen ergibt ein differenzierteres Bild, wie Übersicht 38 zu entnehmen ist. So sind erwachsene Männer (ab 18 Jahren) mit 71,0 % deutlich stärker unter den registrierten Obdach- und Wohnungslosen vertreten als Frauen. Bei unter 18-Jährigen sind die Anteile von weiblichen und männlichen registrierten Obdach- oder Wohnungslosen mit 47,4 % zu 52,6 % deutlich ausgewogener.“

Aus der Statistik „Wohnen 2021“, herausgegeben von Statistik Austria

Sichergestellt wird die Leistbarkeit der Mieten über das Kostendeckungsprinzip, welches im Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG) geregelt ist.

Ein weiteres langfristiges Instrument und Voraussetzung für niedrige Mieten sind günstige Grundstücke. Wien betreibt seit langer Zeit erfolgreich eine vorausschauende Bodenpolitik. Liegenschaften werden durch den wohnfonds_wien bevorratet, um sie später unter Auflagen an gemeinnützige und gewerbliche Bauträger zu vergeben.

Steigenden Bodenpreisen versuchte die Stadtregierung 2019 durch die Einführung einer neuen Flächenwidmungskategorie, „Geförderter Wohnbau“, entgegenzuwirken. Diese schreibt vor, dass bei der Neuwidmung von Wohnbauland ab einer gewissen Größe überwiegend geförderter Wohnbau errichtet werden muss. Über die Feinjustierung und Wirksamkeit dieses Instruments herrscht bislang auch aufgrund des kurzen Evaluierungszeitraums noch Uneinigkeit in der Fachwelt.

Dennoch haben die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte auch vor Wien nicht Halt gemacht. Seit der Finanzkrise 2008 ist der gewerbliche Immobilienmarkt auch in der österreichischen Bundeshauptstadt erstarkt. Wohnungen wurden in den letzten Jahren immer mehr als Anlageobjekte vermarktet, was Wohnen zur Ware werden lässt.

Wozu uns diese Problemlagen auffordern

Die jüngsten sozio-ökonomischen Entwicklungen zusammen mit aktuellen Trends am Wohnungsmarkt machen Problemlagen deutlich. Diese können sich weiter verschärfen, wenn wir ihre Anzeichen nicht als Aufforderung verstehen.
Für eine nachhaltige Lösung der aufgezeigten Probleme ist vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Dynamiken das Zusammenspiel dreier Faktoren notwendig: Es braucht – erstens – die Schaffung und langfristige Sicherung von genügend leistbarem Wohnraum sowohl im Neubau als auch im Bestand, – zweitens – Rahmenbedingungen, die garantieren, dass Menschen Zugang zu leistbarem und adäquatem Wohnraum bekommen, und – drittens – Zugang zu Unterstützung, wenn individuelle Schwierigkeiten auftreten und die Gefahr besteht, die eigene Wohnung zu verlieren. Die jeweiligen Einflussmöglichkeiten und Verantwortungen liegen derzeit in unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen. Daher sind stabile Brücken und ein gutes Zusammenwirken von verschiedenen Ressorts, Bereichen und PartnerInnen notwendig.

Ein solcher Brückenschlag ist in Wien bereits gelungen. Im Spannungsfeld zwischen Sozial- und Immobilienwirtschaft wurde 2017 die neunerimmo gemeinnützige GmbH gegründet, die unternehmerisches Denken mit sozialem Anspruch verbindet und innovative Lösungen gegen Wohnungslosigkeit entwickelt.

neunerimmo als Brückenbauerin

neunerimmo vermittelt, vermietet und entwickelt Wohnraum. Sie akquiriert Wohnungen für von Wohnungs- oder Obdachlosigkeit Betroffene sowie für armutsgefährdete Menschen. Das Tätigkeitsfeld ist eng verbunden mit dem Housing-First-Ansatz, der in der Wiener Wohnungslosenhilfe vor etwa zehn Jahren Eingang fand und das Prinzip „Zuerst kommt das Wohnen, dann alles andere“ verfolgt.

Anfang der 1990er Jahre in den USA entwickelt, geht Housing-First davon aus, dass selbst von längeren Phasen der Wohnungs- oder Obdachlosigkeit Betroffene immer noch „wohnen können“ und ihre „Wohnfähigkeit“ nicht erst nach mehreren temporären Aufenthalten in Institutionen beweisen müssen. neunerimmo setzt das Housing-First-Konzept nach folgenden Prinzipien um: BewohnerInnen schließen einen direkten und unbefristeten Mietvertrag mit EigentümerInnen ab und werden durch kooperierende Sozialorganisationen beraten und begleitet.

neunerimmo arbeitet zusätzlich mit dem Instrument des „Mietenmonitoring“: Mit Einverständnis der MieterInnen können VermieterInnen neunerimmo zeitgerecht über Mietrückstände oder sonstige Schwierigkeiten im Mietverhältnis informieren. Das gemeinnützige Unternehmen wird daraufhin tätig und informiert die zuständige Sozialorganisation, die die MieterInnen kontaktiert und Unterstützung bei der Bewältigung akuter Problemlagen anbietet. Dieses einfach anmutende Mittel ist äußerst wirkungsvoll, um Krisen frühzeitig zu erkennen und den erneuten Verlust der Wohnung zu verhindern.

neunerimmo vermittelt und vermietet leistbaren Wohnraum, ist aber auch Partnerin in der Projektentwicklung, z. B. bei Bauträgerwettbewerben oder von Sonderimmobilien und bei der Aktivierung von strukturellem Leerstand. Für die Akquise von Wohnungen konzipierte und erprobte das Unternehmen bereits unterschiedliche Lösungswege. Dabei bewegt es sich zwischen verschiedenen Welten – jener der Sozial- und jener der Immobilienwirtschaft – und schlägt dazwischen Brücken.

Daniela Unterholzner ist seit 2017 Geschäftsführerin von neunerhaus und der gemeinnützigen GmbH neunerimmo in Wien. Die promovierte Historikerin und Marketing-Expertin war zuvor in den Bereichen Innovationsmanagement, Kulturmanagement und Bildung tätig. Bei neunerhaus baute sie 2016 die Stabsstelle Projektentwicklung auf. Daniela Unterholzner ist Aufsichtsrätin der Wohnbaugenossenschaft EBG, Vorsitzende des Prüfungsausschusses, und Vorstandsmitglied der Umweltschutzorganisation GLOBAL 2000.

In dieser Vermittlerrolle trägt neunerimmo ein Stück dazu bei, dass Wohnungs- und Sozialwesen bei der Lösung zur Beendigung von Wohnungslosigkeit zusammenwirken. Mit anderen Worten sorgt sie sich darum, dass Menschen möglichst rasch und langfristig zu einer eigenen Wohnung mit eigenem Mietvertrag kommen, statt in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe bleiben zu müssen.
Als „Soziale Wohnungsverwaltung“ mietet neunerimmo auch Wohnraum für Startwohnungen an. Sie übernimmt alle Kernfunktionen im Zusammenhang mit der Anmietung und Untervermietung von Wohnobjekten und deren Verwaltung; bildet gleichzeitig aber auch den Knotenpunkt in der Kommunikation zwischen BewohnerInnen, Sozialorganisation und Hausverwaltung. Dadurch baut sie Expertise im Umgang mit vulnerablen Gruppen in der Wohnungsverwaltung auf. So kommt etwa ein Mahnwesen im „Leichter-Lesen-Format“ zur Anwendung, damit vermittelte Inhalte im Mahnwesen auch in Bezug auf ihre Tragweite sicher verstanden werden. Die Funktion der sogenannten „Sozialen Wohnbegleitung“ unterstützt die BewohnerInnen bei allen wohnungsbezogenen Themen, überbringt Schreiben bei Bedarf persönlich, ist erste Ansprechpartnerin und verweist auf das Sozialsystem.

neunerimmo arbeitet auch an innovativen Lösungen für den Zugang zu leistbarem Wohnraum. So hat sie die Projekte „Social Housing Initiative“ der Erste Bank und „zuhause ankommen“ der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAWO) maßgeblich mitentwickelt und ist in die Abwicklung der Projekte involviert. Bei der „Social Housing Initiative“ übernimmt die Erste Bank für Mieter:innen den sogenannten „Finanzierungsbeitrag“, der beim Einzug in eine gemeinnützige Wohnung in der Regel zu leisten ist. Das Projekt „zuhause ankommen“ ist der erste bundesländerübergreifende Versuch, Wohnungs- und Obdachlosigkeit durch die direkte Vermittlung von Wohnungen zu beenden, und wird durch das österreichische Bundesministerium für Soziales, Pflege und Konsumentenschutz finanziert. Im Zuge der Zusammenarbeit mit zahlreichen Sozialorganisationen vermittelte und vermietete neunerimmo bis heute mehr als 450 Wohnungen für 1.050 Personen.

Auch wenn das viele einzelne Erfolge bedeutet, benötigt es Lösungen im großen Maßstab, auf struktureller Ebene, sodass für alle eine leistbare Wohnung zur Verfügung stehen kann und Zugänge vorhanden sind. Zeitgleich, das zeigen die Erfahrungen von neunerimmo, braucht es aber auch niederschwellige und schnelle Unterstützung bei Bedarf, damit Menschen in Krisen ihre Wohnung nicht verlieren.

„Derzeit sind 262.600 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. 38.500 Personen leben tatsächlich auf der Straße, die anderen finden privat Unterkunft oder in öffentlichen Einrichtungen.

Über alle drei Gruppen hinweg sind knapp zwei Drittel (63 %) der wohnungslosen Personen männlich.

Wohnungslose Personen ohne Unterkunft sind mehrheitlich männlich (79 %), im Durchschnitt 44 Jahre alt und überwiegend alleinstehend (79 %).

Von den verdeckt wohnungslosen Personen sind 60 % männlich und 71 % alleinstehend. Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre.

Untergebracht wohnungslose Personen sind im Durchschnitt 32 Jahre alt. 62 % von ihnen sind männlich, der Anteil der Alleinstehenden liegt hier nur bei 41 %. 56 % aller wohnungslosen Personen haben eine ausländische Nationalität.

Fast die Hälfte (47 %) der wohnungslosen Menschen ohne Unterkunft und der verdeckt wohnungslosen Menschen, die schon einmal eine eigene Wohnung besaßen, haben ihre Wohnung ausschließlich bzw. auch aufgrund von Mietschulden verloren.“

Aus dem Wohnungslosenbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, 2022

Wirklich leistbarer Wohnraum

Der Begriff „Leistbarkeit“ wird im Zusammenhang mit Wohnraum inflationär verwendet und dient in der Immobilienwelt zunehmend gar als Marketingbegriff. Auch der Soziale Wohnbau in Wien wird häufig pauschal als „Leistbarer Wohnraum“ bezeichnet, obwohl hier je nach Wohnungssegment (kommunal oder gemeinnützig) und je nach Wohnung (z. B. SMART-Wohnungen) eine Bandbreite an Mietpreisen – mit und ohne Finanzierungsbeitrag bei Einzug – zu finden ist. Die Gegenüberstellung sozioökonomischer Entwicklungstrends und der sich verändernden Wohnungssituation führen uns vor, dass der freie Wohnungsmarkt sich eher nach den Bedürfnissen des Finanzmarktes richtet als nach jenen der Bevölkerung. Um langfristig die Versorgung mit leistbarem und angemessenem Wohnraum zu garantieren, sind daher zwei Stützen als Gegengewicht zum freien Wohnungsmarkt unumgänglich: die Gemeinnützigkeit und die öffentliche Hand.

Das System der Gemeinnützigkeit gilt es zu wahren und auszubauen. Wahren bedeutet an dieser Stelle auch, auf die aktuellen Herausforderungen wie Teuerungen oder steigende Bodenpreise zu reagieren, Sanierungen Richtung Dekarbonisierung voranzutreiben und Strategien zu finden, wie der Bestand an ausfinanzierten Wohnbauten nicht nur gehalten, sondern auch vermehrt werden kann. Es braucht auch mehr öffentliche Verantwortung bei der Schaffung und Sicherung von leistbarem Wohnraum. Hier kommt es darauf an, an den richtigen Stellen steuernd und treffsicher einzugreifen. Instrumente wie die Widmungskategorie „Geförderter Wohnbau“ in Wien, städtebauliche Verträge, befristete Mietverträge nur in Ausnahmefällen zuzulassen oder auch Eingriffsmöglichkeiten bei der Mietpreisgestaltung im Neubau sind bereits bekannt. Hier braucht es ein Bekenntnis, diese auch um- bzw. einzusetzen, um dem Recht auf Wohnen näher zu kommen.

Zugänge

Ein weiterer Hebel für eine umfassende Wohnversorgung wäre, Zugangsbeschränkungen zum leistbaren Wohnraum sowie zu Unterstützungsangeboten bei Wohnungsverlust zu lockern. Derzeit können nicht alle Menschen, die in Wien leben, eine günstige Gemeindewohnung beziehen, auch wenn ihr Einkommen gering ist. So müssen zwei Jahre durchgängiger Hauptwohnsitz an einer Wiener Adresse sowie die österreichische Staatsbürgerschaft oder ein Daueraufenthalt in Österreich nachgewiesen werden, um die Voraussetzungen für den Erhalt einer Gemeindewohnung zu erfüllen. Kürzlich aus den Bundesländern Zugezogene sind daher ausgeschlossen, genauso wie Nicht-ÖsterreicherInnen, die keinen verfestigten Aufenthaltstitel vorweisen können.

Ähnlich ist die Situation beim Zugang zum Gemeinnützigen Wohnbau. Für die Unterstützung durch die Wiener Wohnungslosenhilfe gibt es Richtlinien, die ähnliche Zugangskriterien enthalten wie jene des kommunalen Wohnbaus. Unter anderem sind viele zugezogene EU-BürgerInnen ausgeschlossen, die nicht offiziell erwerbstätig sind und daher auch keinen Anspruch auf Sozial- und Versicherungsleistungen haben. Der private Mietmarkt ist für sie in der Regel nicht leistbar. Gleichzeitig ist die Wohnsituation ein zentrales Schlüsselelement für den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt. Die Folge ist, dass Menschen in prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse oder sogar in die Obdachlosigkeit gedrängt werden. Die Öffnung von günstigen Wohnmöglichkeiten für alle Menschen, die in Wien leben – unabhängig von Meldezeiten und aufenthaltsrechtlichen Schranken – hätte positive Auswirkungen in vielen Bereichen. Es würde die Chronifizierung von prekären Lebenslagen und Obdachlosigkeit vieler armutsbetroffener Menschen verhindern. Diese Menschen hätten Perspektiven auf Stabilisierung und (u.a. wirtschaftliche) Teilhabe.

Schlüsselfaktor Hausverwaltung

Doch neben dem Abbau formaler Zugangsbarrieren bedarf es Maßnahmen, die gewährleisten, dass Wohnungsverlust bestmöglich vermieden wird. Um das Menschenrecht auf Wohnen umzusetzen und Wohnungslosigkeit nachhaltig zu beenden, stellen Mitarbeiter:innen von Hausverwaltungen zentrale SchlüsselakteurInnen dar. Hausverwaltungen stehen in häufigem Kontakt mit ihren BewohnerInnen. Deren Mitarbeiter:innen sind mit verschiedenen Anliegen, Konflikten oder Krisen innerhalb eines Wohnhauses konfrontiert.

Dazu zählen auch Personen in prekären Lebenslagen. Die Ausbildung zur Hausverwaltung legt aktuell den Fokus auf rechtliche, technische, wirtschaftliche und infrastrukturelle Themen. Die kommunikativen und zwischenmenschlichen Anforderungen, die die Arbeit in Hausverwaltungen allgemein und speziell bei schwierigen Mietverhältnissen mit sich bringen, brauchen jedoch mehr Aufmerksamkeit. Hausverwalter:innen verwalten nicht nur die Objekte, sondern gestalten auch Beziehungen. Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Wien setzte neunerimmo gemeinsam mit der Wohnen Plus Akademie GmbH 2022 ein Praxisforschungsprojekt im Auftrag der Wiener Magistratsabteilung 50 (Wohnbauforschung) um.

Ziel war es, Hausverwaltungen mit Ressourcen und Kompetenzen auszustatten, damit sie die aktuellen und zukünftigen Herausforderungen ihres beruflichen Alltags gut gestalten können. Ergebnis war der Lehrgang „Ankommen.Wohnen.Bleiben.“, der ab Herbst 2023 zum dritten Mal stattfinden wird. In drei kompakten Modulen erlernen die TeilnehmerInnen, Anliegen und Beschwerden lösungsorientiert zu bearbeiten, Grenzen zu setzen und auf die eigene Gesundheit zu achten. Jedes Modul beinhaltet andere Schwerpunkte: Persönlichkeit, Einstellung und Gesprächsführung; Umgang mit Diversität und Veränderungen; konstruktiver Umgang mit Belastungen und Spannungen. Der Lehrgang trägt dazu bei, die Mitarbeiter:innen – speziell im Umgang mit herausfordernden Mietverhältnissen – zu entlasten, Wohnungsverluste möglichst abzuwenden und das vielfältige Zusammenleben mit gemeinsamer sozialer Verantwortung zu meistern. Schließlich braucht es ein stärkeres Bewusstsein, dass Hausverwaltungen einen wesentlichen Beitrag zu sozial nachhaltigem Wohnen leisten können.

Kooperationen und Nahtstellen – Ein Aufruf

MitarbeiterInnen von Hausverwaltungen werden zunehmend zu ErmöglicherInnen dafür, stabile Mietverhältnisse zu sichern. Das beschriebene Beispiel des Lehrgangs zeigt die Bedeutung und bewusste Gestaltung von Nahtstellen. Sozial nachhaltiges Wohnen ist nur möglich, wenn man in Partnerschaften denkt.

Christina Lenart ist Referentin Grundlagen & Innovation mit Schwerpunkt auf Wohnen bei neunerhaus und der gemeinnützigen GmbH neunerimmo in Wien. Die Architektin, Wohn- und Stadtforscherin lehrte und forschte zuvor 2013-2021 am Forschungsbereich Wohnbau und Entwerfen der TU Wien. Sie ist Mitglied der Gastredaktion für ARCH+ 244 Wien – Das Ende des Wohnbaus (als Typologie), 2021, wofür sie den Bruno-Kreisky-Preis für sozial-ökologisches Wohnen und Zusammenleben 2022 erhielt.

Die Arbeit von neunerimmo richtet sich bewusst sowohl an Menschen, die von Obdach- oder Wohnungslosigkeit betroffen sind, aber auch an armutsgefährdete Personen. Schließlich reicht es nicht, die Lösung des Problems der Wohnungslosigkeit erst an jenem Punkt anzusetzen, ab dem Menschen ihr Zuhause bereits verloren haben. Gefordert wird hier eine gesamtheitliche Betrachtung dieser Aufgabe. Denn Wohnungslosigkeit ist kein „soziales Problem“ von Menschen mit wenig Einkommen, sondern ein strukturelles.

Dass die Wohnungslosenhilfe die „Wohnungsfrage“ für diejenigen, die aktuell keine Möglichkeit auf leistbares und angemessenes Wohnen haben, nicht alleine lösen kann, zeigt sich an zahlreichen Einzelschicksalen. Aber auch die Housing-First-Strategie ist abhängig von der Verfügbarkeit von leistbaren Wohnungen am Wohnungsmarkt. Um präventiv gegen Wohnungslosigkeit wirken zu können, braucht es daher Synergien sowie integrierte Strategien verschiedener Branchen und Player.

Barbara Unterlerchner ist Referentin Grundlagen & Innovation mit Schwerpunkt auf Beratung, Betreuung sowie Grund- und Menschenrechte bei neunerhaus in Wien. Die Juristin und Kriminologin war zuvor Leiterin von Beratungsstellen verschiedener Sozialorganisationen in der Verbrechensopferhilfe und in der Anti‐Rassismus‐Arbeit. Sie hat in zahlreichen europäischen Projekten zu Menschenrechtsthemen mitgewirkt. 2015-2017 war sie Vorstandsmitglied des europäischen Dachverbands Victim Support Europe.

Ein überregionaler Akteur ist die Europäische Union, die sich den Kampf gegen Obdachlosigkeit auf ihre Agenda gesetzt und deklariert hat, dass bis zum Jahr 2030 in der Europäischen Union niemand mehr auf der Straße leben muss. Das ist das gemeinsame Bekenntnis der 27 Mitgliedsstaaten, das in der „Erklärung von Lissabon“ ihren Niederschlag gefunden hat. Diese Erklärung ist nicht rechtsverbindlich, zeigt jedoch eine grundlegende Haltung, die darauf abzielt, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen, um Wohnungslosigkeit zu beenden und das Menschenrecht auf Wohnen umzusetzen. Auf globaler Ebene zeigen uns die Sustainable Development Goals (SDGs) – wie z. B. die Beendigung von Armut in all ihren Formen, gesundes Leben sicherzustellen, Ungleichheiten zu verringern oder auch Städte und Siedlungen inklusiver, sicherer, widerstandsfähiger und nachhaltiger zu gestalten –, wie fundamental die Beendigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in die Erreichung dieser Ziele hineinwirkt.

Wir kennen die Lösungen zur nachhaltigen Beendigung von Wohnungslosigkeit. Wir brauchen dafür jedoch kooperative Grundhaltungen, Partnerschaftlichkeit auf Augenhöhe und Organisationen, die die Brücken schlagen.

NACHHALTIG WOHNEN UND BAUEN

Ein Themenheft von Wohnungswirtschaft heute in Kooperation mit RENN.nord. 192 Seiten, 18,90 €

Nachhaltig Wohnen und Bauen Teil 1 von 3

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