Versicherungswirtschaft

Klimawandelszenarien gehören zu nachhaltiger Geschäftstätigkeit von Versicherungen

Der Klimawandel hat schon heute erhebliche Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Nachhaltigkeit und Klimaschutz bestimmen zunehmend die Agenda der Unternehmen. Eine wichtige Stellschraube in der Nachhaltigkeitstransformation ist die Versicherungswirtschaft. Hartmut Rösler, Geschäftsführer der AVW Unternehmensgruppe, mit 1,5 Millionen versicherten Wohn- und Gewerbeeinheiten der führende Versicherungsspezialist der Immobilienwirtschaft, erklärt, wie sich die Branche für das Thema Nachhaltigkeit einsetzt.

Interview mit Hartmut Rösler

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Wohnungswirtschaft heute: Welche Haltung hat die Versicherungswirtschaft zum Thema Nachhaltigkeit?
Hartmut Rösler: Die Versicherungswirtschaft in Deutschland bekennt sich klar zu den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen (SDGs) und zu den Zielen des Pariser Klimaschutzabkommens. Sie unterstützt das Ziel eines klimaneutralen Europas bis 2050, den Green Deal und die deutschen Klimaschutzvorhaben. Der Umbau der Wirtschaft und der Gesellschaft für eine nachhaltige Zukunft ist die zentrale Herausforderung unserer Zeit – und eine Verpflichtung gegenüber den jetzigen und zukünftigen Generationen.

Die Themen Umwelt- und Klimaschutz gehen uns alle an. Die Versicherungswirtschaft ist sich ihrer Verantwortung und ihren Möglichkeiten in diesem Zusammenhang bewusst. Durch ihre Produkte, Beratung und Schadenprävention tragen die Versicherer bereits entscheidend zur Bewältigung der nicht mehr abwendbaren Folgen des Klimawandels bei.

Was sind dabei die wichtigsten Stellschrauben?
Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) hat Anfang 2021 in einem Positionspapier zur Nachhaltigkeit konkret definiert, wie die Versicherungswirtschaft ihren Beitrag zur Erreichung der Ziele leisten will. Durch die Erhöhung der Energieeffizienz und durch eine Reduzierung von CO2-Emissionen, zum Beispiel in ihren Bürogebäuden und der Infrastruktur, sollen zuallererst die unmittelbaren Geschäftsprozesse bis 2025 klimaneutral gestaltet werden.

Die weiteren wesentlichen Schwerpunkte liegen in klimaneutralen Kapitalanlagen sowie in der Versicherung neuer Technologierisiken und der Produktgestaltung. Das könnte etwa sogenannte Performance-Deckungen betreffen, zur Absicherung der Effizienz und Wirksamkeit neuer Technologien. Die betrifft unter anderem Windkraft und Photovoltaik-Anlagen oder perspektivisch die Wasserstofftechnologie. Zudem wird die Versicherungswirtschaft die Nachhaltigkeit in ihren vorhandenen Governancestrukturen verankern, um das Risikomanagement weiter zu optimieren. Dadurch können Nachhaltigkeitsdaten zur Risikosteuerung herangezogen und Nachhaltigkeitsstrategien in den Unternehmen definiert werden.

Dies alles sind Stellschrauben, um den Transformationsprozess der deutschen Wirtschaft und der versicherten Unternehmen zielgerichtet zu begleiten.

Welche Rolle spielen dabei klimaneutrale Kapitalanlagen?
Mit derzeit rund 1,8 Billionen Euro langfristigen Kapitalanlagen sind die deutschen Versicherer eine der größten institutionellen Investorengruppen. Das verleiht ihnen Einfluss, Dinge zu bewegen. Versicherungsunternehmen arbeiten seit jeher mit einem langfristigen Anlagehorizont und sind dadurch ein wichtiger Treiber bei der Transformation der Wirtschaft hin zu mehr Nachhaltigkeit. Konkret werden künftig Investitionen zunehmend in Nachhaltigkeitskonzepte gelenkt, insbesondere wird eine Treibhausgasneutralität der Kapitalanlagen angestrebt. Bis zum Jahr 2025 sollen bereits spürbare CO2-Reduktionen in den Portfolios realisiert werden. Bis 2050 sollen dann alle Anlageportfolien CO2-neutral sein.

Im Grunde folgt dies dem Aktionsplan für ein nachhaltiges Finanzwesen (Action Plan on Sustainable Finance), mit dem die EU-Kommission die Kapitalströme so lenken will, dass sie wirtschaftlichen Aktivitäten zugutekommen, die Nachhaltigkeitszielen verpflichtet sind.

Wie lassen sich in der Finanzwirtschaft diese Nachhaltigkeitsziele messen?
Die Problematik der einheitlichen Messbarkeit zieht sich derzeit noch durch die meisten Branchen, das ist nicht trivial. Als erste in ganz Europa haben die Versicherer in Deutschland für Kapitalanlagen einen „CO2-Fußabdruck“ ermittelt. Für börsennotierte Aktien und Unternehmensanleihen beträgt dieser derzeit rund 71 Tonnen CO2 je investierte Million Euro. Ein Referenzwert, an dem sich die Branche in den nächsten Jahren wird messen lassen müssen und der bis 2025 noch deutlich sinken muss. Es ist noch ein Stück Weg bis zum Ziel – aber die ersten wichtigen und richtigen Schritte zur Konkretisierung und Messbarkeit sind gegangen.

Welche Herausforderungen bringt der Klimawandel aus Sicht der Versicherungswirtschaft noch mit sich?
Die Versicherbarkeit von einigen Risiken wird sich aufgrund des Klimawandels und dem damit verbundenen Schadenpotenzial durch Extremwetterereignisse zunehmend schwieriger gestalten. Bis 2025 sollen ESG-Kriterien deshalb auch in die Zeichnungspolitik integriert werden. Versicherer werden dafür dem „Prinzip der risikogerechten Prämienkalkulation“ folgen.

Darüber hinaus sollen gewerbliche und industrielle Risiken, bei denen der Transformationsprozess zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wirtschaft negiert wird, künftig weitestgehend ausgeschlossen werden. Nachhaltigkeit wird auch bei der Gestaltung von neuen Versicherungsprodukten sowie bei der Schadensregulierung eine bedeutende Rolle spielen. Begleitet werden muss das alles von gezielten Maßnahmen zur Schadenprävention.

Gibt es zu nachhaltigen Versicherungsprodukten schon konkrete Vorstellungen und welche Risikovoraussetzungen sind zu erfüllen?
Innovative Versicherungskonzepte werden immer relevanter werden. „Nutzen statt besitzen“, „Reparatur statt Tausch“ und E-Mobilität zahlen auf das Thema Nachhaltigkeit ein. Genauso wichtig ist eine wirksame Klimafolgenanpassung bei Reparatur und Wiederaufbau von zerstörten Sachwerten – Stichwort „building back better“. Auch das Angebot an Versicherungslösungen für neue Risiken, wie Anlagen der erneuerbaren Energien und andere umweltschonende Technologien sowie Klimaversicherungen gegen Extremwetterereignisse, wie Flut, Dürre oder Sturm, werden stetig ausgebaut.

Es ist ein klarer Trend erkennbar, dass solche Extremwetterereignisse durch den Anstieg der Durchschnittstemperaturen weltweit zunehmen. Entsprechende Versicherungslösungen bieten einen weitreichenden Risikotransfer für die finanziellen Folgen.
Insbesondere für die Schadenprävention von Immobilien muss nach Ansicht der Versicherungswirtschaft dringend ein neuartiges Gesamtkonzept zur Klimafolgenanpassung her. Die deutsche Versicherungswirtschaft sieht hier die Bundesregierung und die Landesregierungen in der Pflicht, schnell richtungsweisende Vorhaben zu beschließen und verbindlich auf den Weg zu bringen. Dazu gehören vor allem die Verankerung der Anpassung an den Klimawandel im Bauordnungsrecht als eine allgemeine Anforderung und damit als Schutzziel. Ferner ein Erlass klarer Bauverbote in exponierten Gebieten oder eine verpflichtende Klima-Gefährdungsbeurteilung bei Baugenehmigungen.

Warum ist gerade Schadenprävention hierbei so wichtig?
Weil es sonst zu einer Spirale aus steigenden Schäden und steigenden Versicherungsprämien kommt. Die Flut an Ahr und Erft vom Sommer 2021 mit 8,5 Milliarden Euro Schaden und 213.000 Schäden war die größte Naturkatastrophe in Deutschland. Prävention spielte auf kommunaler, lokaler und auch privater Ebene vorher nur eine untergeordnete Rolle. Selbst beim Wiederaufbau werden Fehler der Flächennutzung wiederholt: Im Ahrtal werden bis auf 34 Häuser alle Gebäude am ursprünglichen Standort neu errichtet – es wurden nicht die nötigen Schlüsse aus der Katastrophe gezogen.

Aber auch andernorts wird zu viel in Überschwemmungsgebieten gebaut. Von den 2,5 Millionen Wohngebäuden, die in den letzten 20 Jahren neu errichtet wurden, sind 32.000 in hochwassergefährdeten Risikogebieten gebaut worden.
Die in Deutschland geltenden Bauvorschriften berücksichtigen die Auswirkungen des Klimawandels nach Ansicht der Versicherungswirtschaft nicht ausreichend. Das dürfte eigentlich nicht sein – denn damit sind volkwirtschaftliche Schäden durch Klimaänderungen und Extremwetterereignisse vorprogrammiert. Diese lassen sich nur durch klimaangepasstes Bauen verringern. Bereits bestehende Gebäude sollten außerdem durch präventive Maßnahmen gegen Überschwemmung und Starkregen geschützt werden.

Die Versicherungswirtschaft sieht sich dabei in der Rolle des Impulsgebers für mehr Prävention und bietet für die verbleibenden Risiken vollumfassenden Versicherungsschutz für die Elementargefahren.

Kann die Versicherungswirtschaft dabei helfen, Schäden zu verhindern?
Ja, auf jeden Fall. Klimawandelszenarien gehören zu nachhaltiger Geschäftstätigkeit von Versicherern. Die Versicherungswirtschaft steht für Risikoschutz, Sicherheit und Vorsorge. Sie erkennt und analysiert frühzeitig Veränderungssignale in ihren Datenbeständen, macht Risiken kalkulierbar und durch einen langfristig angelegten Risikotransfer für Einzelne überhaupt erst tragbar.

Dank ihrer Expertise in der langjährigen Naturkatastrophenforschung und Schadenregulierung können die Versicherer gezielte Präventionsmaßnahmen entwickeln und so dafür sorgen, dass viele klimabedingte Schäden gar nicht erst entstehen. Indem sie Naturgefahren kalkulieren, unterstützen die Versicherer das Risikomanagement ihrer Kunden. Gewerbliche Kunden können Geschäftsrisiken, die der Klimawandel und die politischen Maßnahmen hin zu einer nachhaltigen klimaneutralen Wirtschaft mit sich bringen, so viel besser abschätzen.

Was leistet AVW als Branchenspezialist, um dieses Wissen der Versicherungswirtschaft in die Immobilienbranche zu tragen?
Wir beschäftigen uns bereits seit vielen Jahren mit der Schadenprävention, unter anderem bei Feuer-, Leitungswasser- und Elementarrisiken der versicherten Gebäude. Wir setzen uns durch Wissenstransfer dafür ein, Schäden an Mensch und Immobilie zu vermeiden. Dank unserer jahrzehntelangen Erfahrung in der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft fungieren wir als wichtiges Bindeglied und Multiplikator innerhalb der Branche. Mit der Initiative Schadenprävention machen wir Wohnungs- und Immobilienunternehmen auf Gefahrenpotentiale aufmerksam, stellen qualifizierte Informationen bereit und bieten praktische Lösungen zu allen Feldern der Schadenprävention. Mit dem FORUM LEITUNSGWASSER haben wir zudem einen umfangreichen und praxisnahen Leitfaden für die Wohnungswirtschaft zur Verhütung von Leitungswasserschäden erstellt. All diese Aktivitäten dienen dazu, Ressourcen zu schonen und tragen zu mehr Nachhaltigkeit im Lebenszyklus der Gebäude bei.

Hartmut Rösler ist langjähriger Geschäftsführer der AVW Unternehmensgruppe. Die AVW ist mit mehr als 1,5 Millionen versicherten Wohn- und Gewerbeeinheiten der führende Versicherungsmakler der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft. Ein wesentlicher Fokus der AVW liegt auf dem Thema Nachhaltigkeit durch Schadenprävention. Mehr unter www.avw-gruppe.de

Die Versicherungsbranche hat sich auch auf die Themen Transparenz, Forschung und Wissenstransfer verpflichtet. Wofür stehen diese Begriffe?
Die Versicherer sind Vorreiter bei der Erforschung der Ursachen und Folgen des Klimawandels und teilen ihre Erkenntnisse regelmäßig. Sie informieren über Gefahren von Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen und schaffen so ein breites Risikobewusstsein. Das ist wichtig, denn um wirklich nachhaltig handeln zu können, müssen Unternehmen und Menschen gut informiert sein. Aufklärung und Prävention sind entscheidend, um Schäden in Grenzen zu halten und Naturgefahren auch in Zukunft versichern zu können.

Die europäischen Vorgaben für mehr ESG-Transparenz sollen künftig als Grundlage dienen, ESG-Daten der Realwirtschaft sowie Messmethoden und Modelle, etwa im Zusammenhang mit Klimastresstests zu entwickeln. Für die (Weiter-)Entwicklung entsprechender Standards ist der intensive Austausch mit Wissenschaft und Aufsichtsbehörden wichtig. Die Versicherer sind hier sehr aktiv und unterstützen auch die weitere Forschung, um Klimarisiken auch langfristig stark begegnen zu können.

Welche praktischen Projekte wurden bereits umgesetzt?
Im jährlichen Naturgefahrenreport wird zum Beispiel die Entwicklung der Naturgefahren dokumentiert und bewertet. Mit dem Naturgefahren-Check wurde ein bundesweites Naturgefahrenportal entwickelt, das mit standortgenauen Informationen über Gefährdungen unter anderem durch Hochwasser, Starkregen sowie Sturm und Hagel liefert.

Es gibt zudem systematische Untersuchungen von Starkregen- und Schadendaten in Kooperation mit dem Deutschen Wetterdienst. Es wurden technische Versicherungen für den Betrieb von Anlagen für erneuerbare Energien entwickelt und es wurde die Initiative Stadt.Land.unter ins Leben gerufen, die über die wachsende Gefahr heftiger Regenfälle und den Schutz von Immobilien aufklärt.
Das alles liefert relevante Informationen für die Bau- und Immobilienbranche, die im Zweifel nicht nur viel Geld sparen können, sondern vor allem auch dafür sorgen, dass nachhaltiger geplant und gebaut wird und die richtigen Schutzvorkehrungen getroffen werden. Davon profitieren dann alle: die Menschen, die Umwelt – und die nächste Generation.

NACHHALTIG WOHNEN UND BAUEN

Ein Themenheft von Wohnungswirtschaft heute in Kooperation mit RENN.nord. 192 Seiten, 18,90 €

Nachhaltig Wohnen und Bauen Teil 1 von 3

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