Der Wohnbau soll die Bedürfnisse aller gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen abdecken. Doch diese Schichten sind in ständiger Bewegung, und die Leistbarkeit gerät in Zeiten von Krisen und Teuerung unter Druck. Durch engagiertes Handeln auf Stadt- und Quartiersebene kann das Gleichgewicht gehalten werden.
MAIK NOVOTNY
Wenn Harry Glück das noch erlebt hätte: Im Mai dieses Jahres zierte ein seitenfüllendes Foto seines Wohnparks Alt-Erlaa das Cover des New York Times Magazine. Das Bild illustrierte eine ausführliche und gut recherchierte Reportage von Francesca Mari und Luca Locatelli über die „Mieter-Utopie“ Wien. Sogar der fachspezifische, aber zum Verständnis des Systems enorm wichtige Unterschied zwischen Subjekt- und Objektförderung wurde den Lesern erklärt, den europäische Journalisten meist übersehen.
Mit seiner einprägsamen Gestalt eignet sich der Wohnpark Alt-Erlaa bestens, um globale Klischees von Sozialwohnungen zu zerstreuen. Die gepflegten Außenanlagen und die Gärten auf den Terrassen machen auf den ersten Blick klar, dass hier nicht von Ghettoisierung die Rede sein kann, und auch inhaltlich wird der 1976–85 errichtete Wohnpark mit seinen 3.200 Wohnungen als Vorbild für das angeführt, was im Wiener Wohnbau „soziale Nachhaltigkeit“ heißt. Hier wohnt der viel zitierte Direktor Tür an Tür mit der viel zitierten Arbeiterin, hier erzielt die Wohnzufriedenheit regelmäßig Spitzenwerte.
Zwar gibt Wohnpark-Bauträger Gesiba auf Anfrage von WohnenPlus an, dass keine Daten über die Einkommensverhältnisse und den sozialen Mix in Alt-Erlaa erhoben werden, doch die anekdotische Evidenz erfuhr praktisch gleichzeitig zum New-York- Times-Artikel bildhafte Bestätigung durch den Film „27 Storeys“ der Regisseurin Bianca Gleissinger, die selbst im Wohnpark aufgewachsen war und in der vielgefeierten Dokumentation die Bewohner vor die Kamera holte: der junge Nerd-Papa, die gemütlichen Alten, die Familien und die Alleinerziehenden. Sie eröffnete Einblicke in deren privates Wohnumfeld als auch in die vielen Gemeinschaftsräume und die lebendige Nachbarschaft, vom Freddy- Quinn-Fanklub bis zu den legendären Schwimmbädern auf den Dachterrassen. Die Fülle an unterhaltsam-berührenden O-Tönen bestätigte die hohe Wohnzufriedenheit und den guten sozialen Mix.
Steigende Kosten
Doch wie lässt sich diese soziale Durchmischung heute umsetzen, unter geänderten demografischen Voraussetzungen, bei steigendem Kostendruck? Fallen bei schwindendem Mittelstand die besonders Bedürftigen aus dem Raster der Wohnungsvergabe? Das sind Fragen, die nicht nur in Österreich akut sind. Wie der im Juni 2023 veröffentlichte Bericht „State of Housing“ von Housing Europe, der europäischen Dachorganisation der sozialen Wohnbauträger, klarstellt, ist gerade der soziale Wohnbau in Krisenzeiten besonders vulnerabel.
„Neben den hohen Materialkosten sind in ganz Europa die abrupt gestiegenen Kreditzinsen ein großes Problem, sowohl für den Neubau als auch für Sanierungen.“ Schon jetzt schwächen sich die Bauleistungen in den einzelnen Ländern merklich ab. In Deutschland geht der Dachverband GdW davon aus, dass es um ein Fünftel weniger Sanierungen und ein Drittel weniger Neubauten geben wird. In Dänemark wurden ebenfalls 31 Prozent der geplanten Projekte im sozialen Wohnbau gestrichen und weitere 43 Prozent vorübergehend angehalten.
Hohe Wohn- und Lebenshaltungskosten machen sich auch bei den Mieterinnen und Mietern bemerkbar. In Frankreich stiegen die Anträge für Sozialwohnungen seit 2016 um 16 Prozent, Zahlungsschwierigkeiten und Zahlungsrückstände nehmen in vielen europäischen Ländern zu. Die Leistbarkeit ist zudem – dies dürfte kaum überraschen – immer stärker an die Energiewende geknüpft. Denn die Energiearmut belastet heute auch Haushalte mittleren Einkommens, von den ärmeren ganz zu schweigen. Hier gibt es laut Housing Europe aber auch Positives zu vermelden: „Der soziale Wohnbau ist besser aufgestellt in puncto Energieeffizienz als der private, was sich auch positiv auf die notwendigen Energieausgaben auswirkt.
Allerdings zeigen sich große Probleme beim Umstieg auf erneuerbare Energieformen. Neben der technischen Machbarkeit gilt es, die Balance aus Verfügbarkeit, Leistbarkeit und Nachhaltigkeit im Auge zu behalten.“ Gerade beim Energiemix unterscheiden sich Europas Länder erheblich. Die Abhängigkeit von Gas im sozialen Wohnbau schwankt von 1 % in Finnland bis zu 55 Prozent in Frankreich, Fern- und Nahwärmeanschlüsse sind in Skandinavien mit um die 90 Prozent aller Haushalte am stärksten verbreitet.
Leistbarkeit unter Druck
Auch die aktuellen Daten von Statistik Austria deuten in eine prekäre Richtung. Die gemeinsam von Eurostat und dem Sozialministerium finanzierte Studie „Wie geht’s uns heute?“ hatte das Ziel, Informationen über Veränderungen der sozialen Lage in unsicheren Zeiten zu gewinnen. In Österreich wurden dafür von Ende 2021 bis Ende 2022 rund 3.000 bis 3.500 Personen quartalsweise wiederholt befragt. Eine Auswahl aus den Ergebnissen (siehe auch Infobox): 17 Prozent der Befragten (hochgerechnet etwas mehr als eine Million Menschen) hatten zu Jahresende 2022 große Schwierigkeiten, mit ihrem Haushaltseinkommen die laufenden Ausgaben zu decken. Dieser Anteil hat sich gegenüber dem Vorjahr leicht erhöht, überdurchschnittlich bei Personen aus Mehrkind-Haushalten.
53 Prozent der Befragten gaben an, Ausgaben für größere Anschaffungen verringern zu wollen. Dieser Anteil lag ein Jahr zuvor noch bei 35 Prozent. Die Wohnkosten stellten für 24 Prozent der Befragten im vierten Quartal 2022 eine schwere finanzielle Belastung dar – ein Zuwachs von zehn Prozentpunkten im Vergleich zum selben Quartal des Vorjahres. Außerdem erwarteten 27 Prozent der 16- bis 69-Jährigen innerhalb der kommenden drei Monate Zahlungsschwierigkeiten bei Miete, Wohnkredit, Wohnnebenkosten oder Betriebskosten. Dieser Anteil hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt.
Das heißt, nach der gängigsten Definition von Leistbarkeit, dem Anteil der fixen Ausgaben für des Wohnen am Einkommen, wird die Lage für viele prekärer. „Was uns definitiv weiter beschäftigen wird, ist das Thema leistbares Wohnen. Das ist einer der Schlüsselfaktoren für die Beendigung von Wohnungslosigkeit“, sagt Daniela Unterholzner, Leiterin der Wiener Sozialorganisation neunerhaus, die sich nach dem Prinzip „Housing First“ um Wohnungslose kümmert, im neunerhaus- Jahresbericht 2022.
„Zugänglichen und leistbaren Wohnraum gibt es – bisher aber zu wenig. Erschwerend kommt hinzu, dass ab 2023 die Neubauleistung massiv nach unten gehen wird.“ neunerhaus-Geschäftsführerin Elisabeth Hammer sieht hier auch die Politik gefordert: „Prinzipiell begrüßen wir sehr, was Regierungen an Einzelmaßnahmen auf städtischer und kommunaler Ebene setzen – beispielsweise, dass unser Erfolgsansatz Housing First jetzt auch auf nationaler Ebene angekommen ist. Den ganz großen Wurf, die wirklich nachhaltigen Lösungen sehen wir jedoch bisher nicht.“
Krisen und Maßnahmen*
Durch die steigenden Energiekosten infolge des Kriegs in der Ukraine stieg die Inflation im Jahr 2022 von fünf Prozent zu Jahresbeginn auf elf Prozent im Oktober an, der höchste Monatswert seit 70 Jahren. Die stärksten Treiber der Inflation waren Energie- und Rohstoffpreise. Durch die multiplen Krisen gerät die Leistbarkeit des Wohnraums immer mehr unter Druck. Im 4. Quartal 2022 betrug die monatliche Durchschnittsmiete inkl. Betriebskosten 8,9 Euro pro Quadratmeter, ein Anstieg um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal. Auch haben sich die monatlichen Betriebskosten pro Quadratmeter im Laufe des Jahres 2022 deutlich erhöht. Um die Teuerungen abzufedern, wurden 2022 vonseiten der Bundesregierung unter anderem folgende Maßnahmen getroffen:
- Einmalzahlung in Höhe von 300 € für vulnerable Gruppen
- die doppelte Familienbeihilfe
- Auszahlung des Klima- und Anti-Teuerungsbonus
- außerordentliche Einmalzahlung von bis zu 500 € für Pensionisten
- Aufstockung des Wohnschirms, der nun nicht nur bei Mietrückständen, sondern auch bei Problemen mit der Bezahlung der hohen Energiekosten unterstützt.
– Stromkostenbremse, die den aktuellen Preissteigerungen bei Strom entgegenwirken und Anreize zum Stromsparen setzen soll.
* Alle Daten: „Wie geht’s uns heute“, Statistik Austria, www.statistik.at
Soziale Ungleichheit
Doch wie sieht die Lage nun tatsächlich aus? Um dies herauszufinden und statistisch zu verifizieren, hatte die Arbeiterkammer das Institut für Soziologie der Uni Wien beauftragt, ein Sozialraum-Monitoring für das gesamte Stadtgebiet zu entwickeln. Dazu wurde der Stadtraum in 3.000 Teilgebiete gegliedert und für jedes der durchschnittliche soziale Status berechnet, basierend auf Einkommen, Bildungsabschluss und Arbeitslosenanteil. Der im November 2020 veröffentlichte Monitor zeigt Zustand und Veränderung im Zeitraum 2012 bis 2017 und bestätigt die oft aufgestellte (und von populistischen Politikern gerne mit dramatisch ausgeschmückten Schauergeschichten bestrittene) These, dass Wien frei von wirklichen Problemvierteln ist und die soziale Mischung tatsächlich auf alle Gemeindebezirke zutrifft.
Dennoch geht die soziale Schere auseinander, auch weil das Einkommensniveau in den privilegierten Gegenden stark zunimmt. Im untersuchten Zeitraum haben sich die Einkommen in den drei reichsten Bezirken der Stadt um fast ein Drittel erhöht, während sie in den ärmsten Bezirken abnahmen. „Problemlagen in benachteiligten Gebieten verdichten sich, Mieten sind oft nicht mehr leistbar, gewisse Stadtviertel sind von Stigmatisierung betroffen und die ärmeren Teile der Stadtbewohner können sich ihr Wohnviertel nicht mehr aussuchen. Die Adresse kann so zum Schicksal werden.“
Auch in Graz wurde die soziale Ungleichheit mittels einer Studie im Auftrag des Sozialamts untersucht, die im November 2022 präsentiert wurde. Das Ergebnis: Knapp 40 Prozent der unselbstständig Beschäftigten erzielen ein Bruttojahreseinkommen von unter 20.000 Euro, mehr als 25 Prozent weniger als 12.000 Euro. Die Armutsgefährdungsquote liegt in Graz bei 19 Prozent und ist damit in den letzten zehn Jahren um drei Prozent gestiegen. 9.000 Grazer erhielten im Vorjahr Sozialunterstützung, davon haben zwei Drittel gearbeitet, was trotzdem nicht für die Existenzsicherung reichte. „Die Armut ist also auch in Graz im Mittelstand angekommen“, so die Sozialamtsleiterin Andrea Fink.
Auftrag zum Handeln
Die Studie bestätige, dass jeder einzelne investierte Euro absolut notwendig sei, sagt Bürgermeisterin Elke Kahr. Bereits 2010 hat Graz auf ihre Initiative hin den Kautionsfonds eingeführt, der Wohnungssuchende finanziell unterstützt. Die Höhe des Kautionsbeitrags ist mit der Höhe der vereinbarten Bruttokaution bemessen und wurde 2022 auf ein Maximum von 1.000 Euro aufgestockt. „Und wir haben für unsere städtischen Mieter eine Zuzahlung für die Miete plus Betriebs- und Heizkosten, die Miete darf nicht mehr als ein Drittel des Einkommens ausmachen. Das gibt es nur in Graz“, erklärte sie im Frühjahr im Interview mit der deutschen Tageszeitung (taz).
Eine zweite Studie, die von Vizebürgermeisterin Judith Schwentner beauftragt und im Dezember 2022 präsentiert wurde, nimmt die Entwicklung des Wohnbaus in Graz unter die Lupe. Die Ergebnisse zeigen eine klare Entwicklung: Seit 2012 nimmt die durchschnittliche Wohnungsgröße im Wohnungsneubau ab, die Nachfrage nach Mikrowohnungen ist seitens der interessierten Anleger hoch, doch nur 36 Prozent von ihnen würden auch selbst auf dieser geringen Fläche wohnen wollen.
Die Wohnkosten für die Miete inklusive Betriebskosten sind im Untersuchungszeitraum um 28 Prozent gestiegen, die reinen Mieten um 47 Prozent. Erschwerend kommt hinzu, dass im Gegensatz zu Wien der Anteil an Gemeinde- und Genossenschaftswohnungen in Graz nur rund 15 Prozent beträgt.
Ein Auftrag zum Handeln, so Vizebürgermeisterin Judith Schwentner: „Die Studie Grazer Wohnbau liefert uns endlich die wissenschaftliche Basis für viele notwendige neue Regeln und Verordnungen. Die Kernaussagen und Empfehlungen aus der Studie bestätigen unseren Weg – beispielsweise unser Vorhaben, die Bebauungsplanpflicht auszuweiten. Über Bebauungspläne und städtebauliche Verträge können wir qualitativ vieles regeln. Auch die Verbesserung der Freiraumqualitäten in Wohnanlagen ist eine wichtige Forderung, die ich in zukünftigen Bebauungsplänen noch verschärfen werde. Als zentrales Thema haben sich die stetig abnehmenden Wohnungsgrößen und die Großanlagen mit Kleinstwohnungen herauskristallisiert: Auch hier werde ich gegensteuern.“
Erfolgreiche Mischung
Wie kann der soziale Mix in der Wohnbau- Praxis nun konkret aussehen? Hier wurden in den letzten Jahren bereits einige Antworten gegeben, unter anderem in Graz. Im Quartier Rosenhain, eine der teuersten Gegenden der Stadt, wurde ein städtisches, via Baurecht vergebenes Grundstück via Bauträgerwettbewerb und Architekturwettbewerb mit 38 Wohneinheiten explizit für einen „Zuweisungswohnbau“ für sozial weniger begünstigte Einkommensschichten reserviert, um soziale Durchmischung zu realisieren. Durch das Baurecht und den Entfall der behördlichen Bauabgabe wurden die Mietkosten auf 7,85 Euro pro Quadratmeter reduziert. Umgesetzt wurde das Projekt an der Max-Mell-Allee von Nussmüller Architekten als Holzbau, heute wohnen dort Singles, Senioren, Alleinstehende und Familien.
Auch für die Wiener Siedlungsunion ist die soziale Durchmischung im geförderten Wohnbau ein Anliegen. Umgesetzt wird dies durch eine Kombination unterschiedlicher und flexibler Wohnformen und Wohnungsgrößen, kombiniert mit Gemeinschaftseinrichtungen und Angeboten im Bereich soziale Nachhaltigkeit. Beim aktuellen Projekt Esslinger Arkaden am Telephonweg in Wien-Donaustadt (Architektur: trans-city ZT GmbH) wurden schon bei Projektbeginn gemeinschaftlich mit sozialen Trägerorganisationen Angebote für spezielle Personengruppen entwickelt. Konkret entstehen hier 140 Ein- bis Fünfzimmerwohnungen für Familien, Patchwork-Familien, Singles, Alleinerziehende und die Generation 60+. Ein Veranstaltungs- und Seniorinnenzentrum bilden das Herzstück der Anlage und dienen der gemeinschaftlichen Kommunikation.
Nicht immer treffen die Bemühungen nach sozialer Mischung auf breite Unterstützung; bisweilen geraten sie in Konflikt mit den Gewohnheiten der jeweils lokalen Wohnbaupolitik. Dies musste die Salzburger Baugruppeninitiative Silberstreif erfahren, die sich vor allem aus der Generation 70 plus zusammensetzt. Denn die damalige Salzburger Sozialstadträtin Anja Hagenauer urteilte 2020, ein Teil der Baugruppe sei gut wohnversorgt – sprich: nicht bedürftig genug – und lehnte eine Vergabe durch die Stadt ab. Inzwischen wurde der Konflikt jedoch beigelegt. Doch das Vorurteil, die Mitglieder von Baugruppen würden sich vor allem aus sozial ohnehin schon privilegierten Schichten rekrutieren, ist immer noch weit verbreitet.
Zinshaus trifft Baugruppe
Dabei sind viele von ihnen mit ihrem hohen sozialen Engagement über die Wände des eigenen Baugruppenhauses hinaus auch integrativ tätig – zukünftig auch im Sinne der Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung. Dies ist das Ziel des interdisziplinären Forschungsprojekts „Zinshaus X Baugruppe“ (ZxB), das Ende Juni vorgestellt wurde. Ziel ist die Weiterentwicklung von privaten Zinshäusern zu vertraglich abgesicherten Gemeinschaftsprojekten für die umfassende Sanierung. Hier wird also der dringende Bedarf nach einer Bauwende hin zu einer Kultur des Bewahrens und Reparierens kombiniert mit sozialem Engagement und der Vermeidung von Spekulation in der Verwertung des Zinshausbestands. Eine zweifellos sinnvolle Idee also.
Das Projekt ZxB wird vom Klimaund Energiefonds im Rahmen der „Smart-Cities“-Strategie mit 500.000 Euro gefördert und ist als Kooperation der Initiative Gemeinsam Bauen und Wohnen und einem Team rund um die Themen Sanierung, Finanzierung, Recht, Energieplanung und Architektur angelegt. „Uns geht es um die Grundlagen für eine kooperative soziale Weiterentwicklung von Zinshäusern“, erklärt Lead-Partnerin Petra Hendrich von realitylab. „Innerhalb von zwei Demoprojekten entwickeln wir skalierbare Standardmodelle für Österreichs sanierungsbedürftige Zinshauslandschaft. Gemeinsam mit den Hauseigentümern und Baugruppeninteressierten finden wir Wege, ihre Zinshäuser auf allen Ebenen zukunftsfit zu machen. Die eigene Immobilie soll als leistbarer und dekarbonisierter Wohnraum erhalten bleiben und der Innovationsmotor Baugruppe soll dafür voll genutzt werden. Zinshausbesitzer werden als Teilnehmer noch im Projekt aufgenommen.“
Auch Architektin Regina Lettner von baukult ZT GmbH bringt ihre Erfahrung in das frisch gestartete Leuchtturmprojekt mit ein: „Meiner Erfahrung nach sind Zinshauseigentümer mit den vielfältigen Themen, die eine Sanierung mit sich bringt, oft alleingelassen. Es gilt, vieles gleichzeitig zu planen: Energieumstieg, gesetzliche Vorgaben, Steuerliches, Förderungen, Nachhaltigkeit, Bewirtschaftungsmodelle – viele entscheiden sich dann schweren Herzens für den Verkauf. Uns als Konsortium erscheint das absolut vermeidbar.“ Gestartet wird das Projekt in Wien, die Skalierbarkeit geht natürlich über Bundeslandgrenzen hinaus.
Bremsen auf Bundesebene
Denken jenseits etablierter Grenzendürfte unvermeidbar sein, wenn man langfristig den sozialen Mix erhalten und fördern will. Dies funktioniert schließlich nur, wenn man über das Einzelobjekt hinausdenkt, also auf der Quartiersebene und der Raumplanungsebene. Bei Letzterer trat Österreich dieses Jahr gleich mehrfach auf die Bremse. Die lange vorbereitete Bodenstrategie wurde einmal mehr verschoben, weil zu viele Beteiligte sich vor der Verbindlichkeit scheuten, die ebenfalls lange im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport, BMKÖS, geplante Agentur für Baukultur wurde kurz vor der Ziellinie von anderen Ministerien blockiert, ebenso wie die Städtebauförderung nach deutschem (und seit 50 Jahre erfolgreichen) Vorbild.
Da tröstet es ein wenig, dass an vielen Orten in Österreich trotzdem engagiert sozial nachhaltig und flexibel auf der Quartiersebene gearbeitet wird. So zum Beispiel beim Campagne- Reiter-Areal in Innsbruck, dessen erster Bauabschnitt Anfang 2023 übergeben wurde. Vorangegangen war ein kooperatives Verfahren, das Grundlagen für das Gesamtareal lieferte, sowie nachfolgende Architekturwettbewerbe für die insgesamt fünf Baufelder, die sich die beiden Bauträger IIG und NHT aufteilen.
Innsbrucker Mischung
„Ganz wesentlich war schon beim kooperativen Verfahren das Ziel, hier ein Stück Stadt zu bauen“, sagt Architektin Birgit Kornmüller von bogenfeld Architektur, die den Wettbewerb für den ersten Bauabschnitt für sich entschieden hatten. „Daher gibt es im Sockelgeschoß keine Wohnnutzung, und die Freiräume wurden besonders hochwertig gestaltet, weil sie als Freiluft-Wohnzimmer dienen sollen.“
Angeregt wurde die Wohnzimmeridee durch die Innsbrucker Altstadt, deren gepflasterte Gassen als Vorbild für die Campagne Reichenau dienten. Anstatt mit Wohnungen ist das Erdgeschoß schon jetzt bunt gefüllt: Supermarkt, Friseur, Pizzeria, Krabbelstube, Lebenshilfe und ein engagierter Kulturverein, der sehr aktiv bei der Quartiersbildung mithilft. Diese hatte schon vor dem ersten Spatenstich begonnen, als die Stadt mit Studierenden der Uni Innsbruck hier einen temporären Pavillon aus Holz realisierte, der im Oktober 2018 eröffnet wurde und als „Türöffner“ und sozialer Magnet für das Areal diente. 2022 wurde er plangemäß wieder abgebaut.
Einen ausgewogenen Sozialmix im Areal und auch innerhalb der Gebäude herzustellen, erwies sich als besonders anspruchsvolle Aufgabe, sagt Birgit Kornmüller. „Alle Wohnungen sind gefördert, das heißt, dass sie auch alle von der Stadt Innsbruck vergeben werden. Die Regeln dafür sind allerdings nicht sehr flexibel: Man bekommt als Interessent einen Grundriss vorgelegt und darf maximal zweimal ablehnen. Aber dieses Gießkannenprinzip bildet die individuellen Wohnbedürfnisse nur bedingt ab. Zum Beispiel wollen viele Ältere keine Südwohnungen, weil es darin zu heiß ist.“ Im Campagne-Areal wurden hier in Diskussionen mit allen Beteiligten die Wohnungszuschnitte so optimiert, dass sie tatsächlich eine gute Vielfalt ermöglichen – in den nächsten Bauabschnitten soll auf diesen Erkenntnissen aufgebaut werden. Denn auf Quartiersebene lassen sich viele sozialen Probleme schon abfangen, und der Freiraum kann als Treffpunkt und Integrator wirken, ein ideales Gefäß, in dem eine gute soziale Mischung entsteht.