Der Stadt auf der Spur

Stadtforscher sind der Stadt ständig auf der Spur, sie schauen voraus – oder auch zurück und versuchen dabei, jeweils eine interdisziplinäre Perspektive einzunehmen. Ihre Erkenntnisse sind vor allem für Stadtplaner, Bauträger und Projektentwickler wertvoll, denn Stadtentwicklung ist letztlich auch ein Abbild gesellschaftlicher Prozesse. Justin Kadi von der Universität Cambridge verrät im Interview seine Ideen zu Entwicklung und Möglichkeiten des Wohnbaus, ist aber zugleich davon überzeugt, dass ohne Gemeinnützige gar nichts geht.
PETER REISCHER

Der Begriff Stadtforscher schwirrt momentan in diversen Studien und Artikeln herum. Was ist Stadtforschung?

Die Stadtforschung beschäftigt sich mit dem Phänomen „Stadt“ aus interdisziplinärer Perspektive. Im englischen Sprachraum ist sie bereits stärker etabliert als im deutschen Sprachraum. Aber auch hier gibt es immer mehr Forschung und Lehre in diesem Bereich. Die Stadtforschung geht davon aus, dass die Stadtentwicklung ein Abbild gesellschaftlicher Prozesse ist. Somit ermöglicht die Erforschung der Stadt auch wichtige Einblicke in ebendiese Prozesse. Durch die Beschäftigung mit der Stadt können wir Gesellschaft verstehen.

Justin Kadi
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Wie erklären Sie ganz vereinfacht den Begriff Gentrifizierung, der heute ständig verwendet wird?

Gentrifizierung beschreibt die Transformation, zum Beispiel eines vormaligen Arbeiterklasseviertels in ein Viertel, das von Mittelklassehaushalten geprägt ist. Im Zuge dieses Prozesses kommt es zu einer Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung.

Justin Kadi

Und was ist die Neoliberalisierung des Wohnungsmarkts?

Ein Prozess seit den 1980er-Jahren, in dem sich die Rolle des Staates in der Wohnraumversorgung ändert. Der Staat setzt seitdem verstärkt auf Marktkräfte in der Bereitstellung von Wohnraum. Gleichzeitig werden Programme, die Wohnraum vom Markt abkoppeln, zurückgefahren. Beispiele sind der Verkauf von sozialen Wohnungsbeständen, die Deregulierung von privaten Mietwohnungen oder die Förderung von privatem Wohnungseigentum. Trends zur Neoliberalisierung des Wohnungsmarkts finden wir in fast allen europäischen und nordamerikanischen Ländern. Die konkreten Formen unterscheiden sich.

Justin Kadi

Für wen forscht ein Stadtforscher?

Stadtforscher forschen in der Grundlagenforschung aber auch in der Auftragsforschung. Im Bereich der Grundlagenforschung kommt die Finanzierung in der Regel von Stellen der Forschungsförderung. Im Bereich der angewandten Forschung von Stadtverwaltungen, Think Tanks oder anderen Akteuren, die Interesse an systematischen Erkenntnissen über Themen der Stadtentwicklung haben.

Justin Kadi
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Wohin geht die Entwicklung am Wohnungsmarkt (in Wien) zurzeit?

Im internationalen Vergleich ist der Wiener Wohnungsmarkt relativ stabil, etwa im Vergleich zu Berlin, London, Stockholm oder Amsterdam. In diesen Städten hat sich in den vergangenen 20 bis 30 Jahren die Struktur des Wohnungsangebots stark verändert, etwa durch einen deutlichen Rückgang des sozialen Wohnbaus. In Wien (aber auch in Österreich) spielt der soziale Wohnbau nach wie vor eine starke Rolle. Das heißt aber nicht, dass sich die Wohnsituation in Wien nicht auch verändert. Größere Veränderungen sieht man insbesondere am privaten Mietwohnungsmarkt.

Justin Kadi

In welche Richtung?

Traditionell ist das ein Bereich gewesen, der qualitativ relativ bescheiden war und vergleichsweise niedrige Preise hatte. Über die letzten 20 Jahre ist er qualitativ höherwertiger, aber dafür auch deutlich teurer geworden.

Justin Kadi
Dr. Justin Kadi ist Assistenzprofessor für Planung und Wohnen an der Universität Cambridge. Davor forschte er an der Universität Amsterdam, der Bauhaus-Universität Weimar und der TU Wien. Foto: Justin Kadi

Meinen Sie damit die sogenannten Gründerzeitwohnungen?

Die Veränderungen betreffen insbesondere das Gründerzeitsegment, ja.

Justin Kadi

Ist der gemeinnützige, der soziale oder der geförderte Wohnbau noch aktuell?

Aktueller denn je. Aus der ganzen Welt kommen heute Leute nach Wien, um sich anzusehen, wie hier der gemeinnützige/ soziale/geförderte Wohnbau funktioniert. Das heißt nicht, dass in Wien alles wunderbar ist. Die Wohnungsprobleme haben auch hier zugenommen, insbesondere in den vergangenen zehn Jahren. Nichtsdestotrotz zeigen uns Studien, dass die Situation ohne gemeinnützigen/sozialen/geförderten Wohnbau wesentlich angespannter wäre als ohne.

Justin Kadi

Was tut die Politik für das Wohnen, bedient sie die Menschen oder die Lobbys?

Man kann der Politik in Wien und auch in Österreich sicher nicht unterstellen, nur die Immobilienwirtschaft im Blick zu haben. Wir haben in Österreich mehr als 25 Prozent aller Wohnungen im sozialen Wohnungsbau. Das spiegelt das Bemühen der Politik wider, auch Wohnungen jenseits des privaten Markts zur Verfügung zu stellen, wobei gleichzeitig kein Profit erzielt wird.

Justin Kadi

Wie kann man, soll man den Wohnungsmarkt und die Preise steuern?

Der Wohnungsmarkt ist einer der am stärksten regulierten Märkte. Die Politik hat sehr viele Möglichkeiten zur Regulierung und Intervention. Bei der Preisregulierung kommt es darauf an, welche Organisationsform die Wohnungen bereitstellt. Ein System, in dem es etwa nur private Mietwohnungen mit Mietendeckelung gibt, führt auf Dauer wohl dazu, dass die Besitzer nichts mehr investieren. Will man regulierte private Mieten, braucht es also auch Wohnraum jenseits des privaten Markts. Wien hat das in den vergangenen 100 Jahren insbesondere über die Förderung der Wohnungsgemeinnützigkeit bzw. die Bereitstellung von Gemeindebau gemacht. Das ist ein Erfolgsmodell. Eine gemeinnützige Wohnung in Wien kostet heute ca. 25 bis 30 Prozent weniger als eine private Mietwohnung.

Justin Kadi

Die Bevölkerungszahl hat in Wien um 17 Prozent zugenommen, die Wohnungsgrößen sind jedoch um 70 Prozent gestiegen – was ist da passiert?

Die 70 Prozent beziehen sich wohl nur auf den Neubau. Die Zahl deutet darauf hin, dass im Neubau große Wohnungen produziert werden. Vor dem Hintergrund, dass es viele Menschen in der Stadt gibt, die sich auch kleine Wohnungen schwer leisten können, scheint hier, zumindest in Teilen des Neubaus, für eine sehr exklusive Gruppe gebaut zu werden.

Justin Kadi

Die soziale Durchmischung in Wien sinkt in den letzten Jahren ständig – warum?

Die Studienlage ist sehr viel differenzierter als diese Aussage vermuten lässt. Wir sehen gewisse Tendenzen in Richtung stärkere Unterschiede im sozialen Status einzelner Gebiete. Ein Faktor dafür ist die bereits angesprochene Transformation des privaten Mietwohnungsmarkts. Dieser Teil des Wohnungsmarkts ist in Wien in den Innenstadtgebieten konzentriert. Durch die Aufwertung des Sektors sind substanzielle Teile der Innenstadt für Menschen mit mittlerem oder niedrigem Einkommen deutlich schwieriger zugänglich als in der Vergangenheit.

Justin Kadi

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