Wohnprojekte

„Jedes Projekt ist einzigartig“

Gemeinsam leben und dabei Gebäude erhalten: Wohnprojekte können viele Probleme von Einsamkeit im Alter bis Leerstand im ländlichen Raum lösen – das Land Schleswig-Holstein fördert die Gründungen.

Von Esther Geißlinger

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Christian Bielke steht unter den blühenden Bäumen seines Grundstücks und stellt sich eine klassische Gartenbesitzer-Frage: Mähen oder nicht mähen? Angesichts von 18 Personen, darunter vier Kinder, die den gemeinsamen Garten benutzen, darf das Gras nicht zu hoch werden, sonst kommt der Mäher nicht mehr durch. Aber nicht an diesem Abend, beschließt der Architekt und schlendert zu den beiden Stadtvillen am Ende des Gartens zurück. Die mit einem Durchgang verbundenen Gebäude liegen an einer ruhigen Straße der Eutiner Innenstadt. Bis 2019 beherbergten die Häuser ein Hotel. Heute befindet sich hier das Wohnprojekt „Analog 6.8“.
„Wohnprojekte sind eine Alternative zum klassischen Eigenheim oder zur Mietwohnung“, sagt Astrid Müller-Kalthoff, bei der Investitionsbank Schleswig-Holstein (IBSH) für die Förderung dieser Projekte zuständig. Dass solche Modelle, bei denen eine Gruppe nicht miteinander verwandter Privatpersonen gemeinsam eine Immobilie besitzt und bewohnt, ist „politisch sehr gewollt“, sagt Müller-Kalthoff.

In diesen beiden mit einem Durchgang verbundenen Stadtvillen befindet sich das Wohnprojekt „Analog 6.8“ in der Innenstadt von Eutin, Schleswig-Holstein. Foto: Esther Geißlinger

Die schleswig-holsteinische Landesregierung aus CDU und Grünen räumt in ihrem Koalitionsvertrag den „Modellen genossenschaftlichen Wohnens und Lebens“ eine „besondere Rolle“ ein. Denn wenn die richtigen Faktoren zusammenkommen, ist ein Wohnprojekt eine Art Überraschungsei, das gleich mehrere Probleme auf einmal löst: Mit einer Gruppe zu wohnen ist kostengünstiger und hilft damit auch Menschen mit kleinem Einkommen. Ältere und Familien können sich in der Gemeinschaft gegenseitig unterstützen. Und eine größere Gruppe braucht große Immobilien, wie sie auf dem Land oft leer stehen: alte Bahnhöfe, verlassene Dorfschulen oder Gasthöfe. „Ich nehme wahr, dass das Thema Befürworter auf allen Ebenen hat“, sagt die Förderbankerin.

In Schleswig-Holstein sind Wohnprojekte noch vergleichsweise selten. „Aber sie breiten sich langsam aus“, sagt Magnus Pagendarm. Der Diplom-Psychologe mit Schwerpunkten auf Organisationspsychologie und -entwicklung bietet gemeinsam mit der Stadtplanerin Sara Reimann Beratung für Wohnprojekte, Immobilieneigentümerinnen und Kommunen an und hat sich mit der Historie des Zusammenwohnens befasst: „Die Idee hat ihre Wurzeln in der von Anonymität geprägten Großstadt und wurde dort seit den 1980er Jahren populärer. Aber der Druck auf den Wohnungsmarkt ist hoch, daher schauen Gruppen im Umland nach Möglichkeiten.“

Dabei helfen neue technische Möglichkeiten und die Veränderung der Arbeitswelt: „Für viele ist Homeoffice oder Fernarbeit realisierbar, und wenn die Verkehrsverbindungen gut sind, werden auch Orte jenseits der Ballungszentren attraktiv.“
Zu denen, die den Preisen und dem Stadtlärm den Rücken kehren, zählt Prisca Geißler. Die 67-Jährige wohnt seit wenigen Wochen im „Analog“. Die Rentnerin mag die Menschen, mit denen sie nun zusammenlebt. Zudem gefällt ihr die Lage im Ortszentrum, mit Bahnhof, Innenstadt und See in fußläufiger Nähe. „Ich wollte aus der Großstadt raus, aber nicht an den Waldrand“, beschreibt sie ihre Wünsche. Die Kreisstadt Eutin mit ihren rund 17.000 Einwohnern bot ihr die richtige Mischung. Außerdem überzeugte sie das Konzept: „Hier konnte auch ich arme Kirchenmaus mitmachen.“

Das liegt an dem besonderen Grundgedanken, der hinter dem „Analog“ steht. Anders als viele andere Projekte ist die Gruppe weder als Eigentümergemeinschaft noch als Genossenschaft organisiert, sondern als Verein. Wer in das Haus einzieht, wird Mitglied des Vereins und übernimmt damit ein Eigentum auf Zeit und mit begrenzter Verantwortung. Wenn das Dach erneuert oder eine neue Heizung eingebaut wird, haftet niemand persönlich, die Kosten trägt der Verein.

Die Idee stammt vom „Mietshäuser Syndikat“, einem bundesweit gespannten Netz aus 184 Hausprojekten und 17 Projektinitiativen. Die Kernzelle war 1989 in Freiburg, inzwischen sind in allen Bundesländern Projekte zu finden. Die Beteiligten verbindet „eine Vision“, heißt es auf der Homepage des Verbundes. Gewollt sind Häuser, „in denen es sich selbstbestimmt leben lässt, denen nicht irgendwann die Zwangsräumung oder Abrissbirne winkt, mit bezahlbaren Räumen, die nicht durch Hausverkauf oder Umnutzung latent bedroht sind“.

Um das zu erreichen, vergibt das Syndikat Kredite an neue Projektgruppen, die damit diese Häuser erwerben können. Besitzerin der Immobilie wird dann eine Haus-GmbH, die zwei Gesellschafter hat: den Verein, dem alle aktuellen Bewohnerinnen und Bewohner angehören, und das Mietshäuser Syndikat. Keine Seite kann allein eine größere Änderung vornehmen. Bereits laufende Projekte zahlen in einen gemeinsamen Topf ein, aus dem neue Kredite vergeben werden, darüber hinaus gehören ehrenamtliche Beratung und gegenseitige Unterstützung zum Konzept.

„Dieses Haus wird nie wieder verkauft, es wird immer ein Mietshaus bleiben“, sagt Christian Bielke. Der 63-Jährige und seine Frau Barbara Braasch (67) gehören zu den Gründungsmitgliedern des Analog 6.8. Doch wenn sich die Mitglieder des Projekts zum wöchentlichen Plenum im Saal oder zum Klönschnack im Wintergarten im Erdgeschoss der Häuser treffen, haben die beiden Alteingesessenen nicht mehr zu sagen als Neumitglied Prisca Geißler.

Die Gruppe hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert, einige Gründungsmitglieder sind aus- und neue Personen eingezogen. In einer Genossenschaft könnte das zu Problemen führen, hier sehen es alle Beteiligten gelassen: „Es bleibt eben alles in Bewegung“, sagt Barbara Braasch. Berater Magnus Pagendarm hält die Fluktuation sogar für gut: Oft sei die Gründungsgruppe recht homogen, ein Freundeskreis im selben Alter. Für die soziale Dynamik sei aber ein Miteinander von Älteren und Jüngeren sinnvoll. In den beiden Häusern des Eutiner Projekts leben heute auch junge Familien. Jakob Will (30) ist mit Frau und zwei Kleinkindern am Jahresanfang eingezogen. „Es war gut, dass es kein finanzielles Risiko gab, und es hat uns gereizt, sich auf eine Gruppe einzulassen“, sagt der Referendar an einem örtlichen Gymnasium.

Prisca Geißler an der „Ampel“ am Eingang zum gemeinschaftlich genutzten Saal. Foto: Esther Geißlinger

Regelmäßig tauschen sich die Bewohner im Plenum aus – die Teilnahme wird erwartet – und treffen sich in den gemeinsam genutzten Räumen. Der Saal, der sich an der Straßenseite des Gebäudes erstreckt, wird zudem für öffentliche Veranstaltungen genutzt, etwa für Treffen der lokalen Fridays for Future-Gruppe oder eine Initiative, die sich mit Stromerzeugung durch Mini-Solaranlagen befasst. Etwas für das Gemeinwohl tun, in den Ort hineinwirken, war von Anfang an eine der Ideen der Eutiner Gruppe. Genutzt wird auch die Rasenfläche im Garten, die Bielke demnächst mähen muss: Es gab bereits Feiern und Kinoabende, zu denen die Öffentlichkeit eingeladen war. Menschen ins Gespräch bringen, Kontakte ermöglichen – der Gedanke steckt hinter dem Namen „Analog“.

Dass Wohnprojekte Räume für Veranstaltungen bieten oder selbst organisieren, ist kein Muss, kommt aber häufig vor. „Jedes Projekt ist einzigartig, baulich und kulturell“, sagt Jörg Bierbass, der bei der Investitionsbank den Bereich Mietwohnungsbau leitet. Auch Mehrfunktionsräume seien förderfähig, betont er.

Esther Geißlinger ist freie Autorin und Journalistin, unter anderem als Schleswig-Holstein-Korrespondentin für die TAZ die Tageszeitung.

Dennoch herrsche im Flächenland Schleswig-Holstein bei den meisten der Traum vom eigenen Heim vor, sagt Astrid Müller-Kalthoff. „Dass es andere Wohnformen gibt, muss sich noch in den Köpfen durchsetzen.“

Das gelte auch für die Verantwortlichen in den Kommunen: „Die Gemeinden wissen oft nicht Bescheid, wie solche Projekte funktionieren“, sagt Projekt-Berater Magnus Pagendarm. Dabei könnte das Modell für Gemeinden interessant sein, etwa um Leerstände in ortsprägenden Gebäuden zu beenden. „Das ist ein Feld, das wir beackern wollen, um Kommunen zu befähigen, solche Gebäude anzubieten“, sagt Pagendarm. So könnte der Verkauf oder die Verpachtung einer Immobilie nicht nur an den Preis, sondern an ein Konzept gebunden sein, das Punkte wie sozialen Wohnraum oder Chancen für die Dorfgemeinschaft mitberücksichtigt. „Für viele Menschen ist ein eigenes Haus heute unerreichbar“, sagt Pagendarm. „Und viele spüren heute auch die Nachteile eines Eigenheims, etwa wenn es um Energiekosten oder neue Heizungen geht.“

All dies könnten „Push-Faktoren“ sein, hofft der Berater, der in seiner Studienzeit auf die Idee der Wohnprojekte gestoßen und heute im Netzwerk des Mietshäuser Syndikats ehrenamtlich tätig ist. „Gerade für ältere Menschen, die allein in einem großen Haus leben, kann es eine Chance sein.“

Magnus Pagendarm und Sara Reimann beraten Wohnprojekte, Immobilieneigentümer:innen und Kommunen. Foto: M. Tralau

Doch alle Experten raten davon ab, sich blauäugig in ein Projekt zu stürzen. Unerwartete Kosten und Streit in der Gruppe zählen zu den Problemen, die immer wieder auftauchen. Die Investitionsbank Schleswig-Holstein geht darauf ein, indem sie Fördermittel für die allererste Gründungsphase bereitstellt, etwa für Finanzberatungen und Gutachten zum Zustand des gewählten Hauses. „Wenn ein Projekt am Ende nicht zustande kommt, muss das Geld auch nicht zurückgezahlt werden“, beruhigt Müller-Kalthoff.

Geplant sind weitere Förderbausteine, um Genossenschaften in der Gründungsphase „finanziell unter die Arme zu greifen“ und Personen ohne Eigenkapital den Einstieg zu erleichtern. Die Bankerin weist auf ein oft gehörtes Missverständnis hin: „Viele denken, eine Förderung gibt es nur für ganz Mittellose – das ist ein Irrtum. Auch Familien oder Personen mit normalem Einkommen können Unterstützung beantragen.“ Sie rät dazu, sich einfach zu erkundigen: „Wir bekommen durchaus Anfragen, aber es dürften gern noch mehr sein.“

Bei der Eutiner „Analog“-Gruppe verlief die Gründungsphase vergleichsweise gut, wenn auch untypisch: Das Gebäude stand fest, bevor überhaupt alle Beteiligten beisammen waren. „Wir haben ein Jahr lang verhandelt, gezweifelt, geplant, bis wir endlich den Vertrag unterschrieben haben“, sagt Christian Bielke. Auch während der Umbauphase lief nicht alles wie geplant: So war der Fußboden im Gang, der die beiden Stadtvillen verbindet, marode, und ein Handwerker ließ die Bauherren im Stich. Aus der Not heraus belegten die Projektmitglieder den Boden mit kleinen Musterfliesen und Resten. So entstand ein buntes Muster – so bunt wie die Hausgemeinschaft, die die alten Häuser heute bewohnt.

NACHHALTIG WOHNEN UND BAUEN

Ein Themenheft von Wohnungswirtschaft heute in Kooperation mit RENN.nord. 192 Seiten, 18,90 €

Nachhaltig Wohnen und Bauen Teil 1 von 3

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