Mit dem unsichtbaren Wohnraum gegen Wohnungsmangel, Klimakrise und Einsamkeit

Kreislaufwirtschaft des Wohnens

Alte Bauteile wiederzuverwenden und Neubauten so zu planen, dass man Baustoffe mehrfach nutzen kann – damit beginnt man jetzt beim Bauen. Beim Wohnen hingegen sind solche Kreisläufe selbstverständlich.

Von Daniel Fuhrhop

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Viele Wohnhäuser stehen hundert und mehr Jahre. Ihre Wohnräume werden in dieser Zeit immer wieder neu genutzt: Ein Mensch zieht ein, ein zweiter zieht dazu, sie bekommen Kinder, die eines Tages wegziehen und leere Räume hinterlassen, bis dann auch die Eltern sterben. Es ziehen andere Menschen ein, sie ziehen zusammen und manche trennen sich, Menschen werden geboren und sterben. Diesen Wandel des Lebens kennt die Wohnungswirtschaft von ihren Mietern. Doch jetzt muss das Altbekannte neu erfunden werden als „Kreislaufwirtschaft des Wohnens“. Dabei beschleunigt man den Wechsel und nutzt Zimmer schneller wieder neu, denn wir haben zuviel ungenutzten Wohnraum. Dieses Problem wird durch den Wohnungsmangel in vielen Städten zur Krise.

3U&VW: Die Formel für den unsichtbaren Wohnraum fasst fünf Werkzeuge zusammen, wie sich große Wohnungen besser nutzen lassen. Grafik: Daniel Fuhrhop

Drei aktuelle Krisen

Verschärft wird der Wohnungsmangel durch die Alterung der Gesellschaft: In Rente gehen jetzt die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit, bis 2035 wird die Zahl der über 65-jährigen um mehr als vier Millionen steigen, von 18 auf 22 Millionen. Vier Millionen ältere Menschen zusätzlich bleiben oft allein in zu groß gewordenen Wohnungen. Dort droht ihnen Einsamkeit, einige bekommen psychische Probleme, und manch einer liegt nach einem Unfall hilflos im Haus. Im halbleeren Haus, mit ungenutzten Räumen, während andere dringend Wohnraum suchen, etwa Auszubildende und Studierende, große Familien, Wohnungslose.

Neubau kann den Wohnraummangel nicht beheben, weil er bisher schon nicht ausgereicht hat. Es fehlt dem Bau an Fachkräften, an Bauland, und wenn doch gebaut wird, kostet es viel und bringt darum nicht die gesuchten günstigen Wohnungen. Obendrein sollte der Mangel nicht durch massiven Neubau behoben werden, weil das der Umwelt schadet. Fläche wird versiegelt, Landschaft zersiedelt, dazu kommt die Klimakrise: Der Wohnungsneubau eines Jahres verursacht in Deutschland ähnlich viele Treibhausgase wie der Betrieb (vor allem das Heizen) sämtlicher 43 Millionen Altbau-Wohnungen! Aus der Dreifachkrise von Wohnungsmangel, Klimakrise und Einsamkeit verspricht die Kreislaufwirtschaft des Wohnens einen Ausweg.

Der unsichtbare Wohnraum

Wenn der Kreislauf der Wohnflächen sich beschleunigt, wird „unsichtbarer Wohnraum“ frei. So nenne ich in meiner Dissertation Zimmer oder Einliegerwohnungen, die nicht genutzt und nicht benötigt werden. Diese Flächen neu zu beleben heißt in der Theorie Wohnsuffizienz. In der Praxis habe ich mich im Forschungsprojekt Optiwohn 2019-2022 daran beteiligt, den unsichtbaren Wohnraum zu erschließen: durch die Gründung der Wohnraumagentur Göttingen. Sie berät Eigentümer:innen, die Platz übrig haben und diesen neu nutzen möchten. Je nach den persönlichen Wohnwünschen berät die Agentur zu Untervermietung, Umzug und Umbau. Eine architektonische Erstberatung widmet sich den Chancen, ein Haus umzubauen und Grundrisse zu ändern. Das ermöglicht zum Beispiel gemeinschaftliches Wohnen im Einfamilienhaus. Es kann zum Vielpersonenhaus werden.

In Eigenheimen liegen besonders große Reserven des unsichtbaren Wohnraums, doch auch die Wohnungswirtschaft kennt ältere Mieterinnen, die einen Raum oder zwei nicht mehr benötigen. Hier kann in Zukunft eine Wohnraumagentur helfen; das Göttinger Modell steht erst am Anfang. Das gilt auch für das in Göttingen derzeit nicht verfügbare Angebot, auf Wunsch „Untermieter“ zu vermitteln nach dem Modell „Wohnen für Hilfe“. Dabei werden junge Leute und ältere zusammengebracht und sie helfen sich gegenseitig, die jungen packen etwa beim Einkaufen mit an, die Älteren bringen guten Rat ein und die große Wohnung. Die Vermittlungsstellen von „Wohnen für Hilfe“ ergänzen ideal eine Wohnraumagentur.

Doch leider geschieht das nicht wie geplant in Göttingen, denn während die Kommune die Agentur aufbaute, strich das Studentenwerk die Finanzierung von „Wohnen für Hilfe“. Das zeigt: Um den unsichtbaren Wohnraum zu erschließen, müssen viele Akteure zusammenkommen, die Kommune und die Wohnungswirtschaft, soziale Einrichtungen und die Politik. Es ist eine politische Aufgabe, Wohnraum zu schaffen, also gilt das auch für die Potenziale des unsichtbaren Wohnraums.

In einer Kreislaufwirtschaft des Wohnens werden ungenutzte Zimmer schneller wieder neu belebt. Grafik: Daniel Fuhrhop

Baugebiet ohne Baugebiet

Bislang wird Wohnraum vor allem durch neue Baugebiete geschaffen, und das bedeutet: Es dauert viele Jahre, bis die ersten Menschen einziehen, es kostet viel Geld, Baugebiete zu planen und zu erschließen, und noch mehr Geld, Wohnheime oder Sozialwohnungen zu bauen. Auf all das sollte man sich auch beim unsichtbaren Wohnraum einstellen. Ihn nutzbar zu machen, dauert mehrere Jahre, in denen eine Agentur und mehrere Vermittlungsstellen aufgebaut werden.

Es kostet Geld, Mieter oder Eigentümerinnen zu beraten und ihnen Zuschüsse zu Umbau oder Umzug zu zahlen. Doch am Ende entsteht ein „Baugebiet ohne Baugebiet“, das entlastet den Neubau. Man schafft Wohnraum, ohne Fläche zu verbrauchen oder das Klima zu belasten, und spart sich den üblichen Protest gegen ein Baugebiet. Es gibt auch keine Probleme durch den Fachkräftemangel am Bau – stattdessen werden soziale Programme zum Wohnen aufgebaut, und dafür braucht man Kümmerer, die sich mit Räumen auskennen und gut mit Menschen umgehen können.

Die sozialen Programme schaffen „nebenbei“ Wohnraum, indem sie Ältere unterstützen, die anders wohnen möchten. So entsteht außerdem mehr Nähe und Nachbarschaft, und die Einsamkeit verschwindet. Die sozialen Programme zum unsichtbaren Wohnraum aufzubauen ist nicht einfach, aber das ist neu Bauen auch nicht. Wie man die unsichtbare Wohnraumreserve heben kann, dazu habe ich verschiedene Möglichkeiten untersucht.

Formel für den unsichtbaren Wohnraum: 3U&VW

Fünf Werkzeuge empfehle ich, um die leerstehenden Zimmer und Einliegerwohnungen zu mobilisieren, zusammengefasst in der Formel 3U&VW: Untermieter vermitteln nach dem Modell „Wohnen für Hilfe“. Umzug mit Verkleinerung. Umbau mit Wohnungsteilung. Vermittlung von Sozialmietern durch soziale Wohnraumvermittlung. Gemeinschaftliches Wohnen ermöglichen mit dem Teilen von Räumen.

Vor allem bei den beiden Vermittlungsprogrammen findet man bewährte Erfolgsmodelle: Das eine vermittelt wie beschrieben junge Menschen an Ältere zum Zusammenwohnen der Generationen. Das andere wendet sich an Eigentümer, die schlechte Erfahrungen mit Mietern gemacht haben, mit Mietnomaden oder Messies. Deshalb lassen sie ihre Wohnung (oder manchmal eine Einliegerwohnung) leerstehen. Dagegen hilft die „soziale Wohnraumvermittlung“, zum Beispiel in Karlsruhe: Die Stadt garantiert den Eigentümern die Miete, begleitet das Mietverhältnis durch Sozialarbeiter und gibt einen Zuschuss zur Renovierung. Dadurch trauen sich die Vermieter wieder zu vermieten. In Karlsruhe werden mit dem Programm „Wohnraum durch Akquise“ sechzig leerstehende Wohnungen pro Jahr wieder dem Wohnungsmarkt zugeführt. Dort wohnen dann Sozialmieter, denn die Stadt erwirbt Belegungsrechte. Würde sie stattdessen sechzig Sozialwohnungen neu bauen, kostete das rund fünfzehn Millionen Euro. Deutlich weniger kostet das Personal für die Wohnraumvermittlung.

Wohnungskreislauf in der Wohnungswirtschaft

Während sich die soziale Wohnraumvermittlung an private Eigentümer wendet, von denen manche nur eine einzige Wohnung vermieten, eignen sich die anderen vier Werkzeuge der Formel 3U&VW auch für die Wohnungswirtschaft. So kooperieren manche Wohnungsgesellschaften bereits mit „Wohnen für Hilfe“ und vermitteln älteren Mietern auf Wunsch junge Mitbewohner. Andere ermöglichen unter ihrem Dach gemeinschaftliches Wohnen. Zum Beispiel die Bremer Gewoba beim „Bremer Punkt“: Neben Zeilenbauten der Nachkriegszeit, ohne Aufzug mit immer gleichen Grundrissen, entsteht ein würfelförmiges Gebäude mit zwanzig verschiedenen Wohnungstypen. Das schafft Platz für ein Wohnprojekt. Dessen Gemeinschaft muss sich selbst finden und selbst organisieren, den Raum stellt die Gewoba.

Dr. Daniel Fuhrhop, Wohnwendeökonom, berät Kommunen, wie sich Wohnraum durch Beratung von Eigentümerinnen besser nutzen lässt. Fuhrhop schrieb die Streitschrift „Verbietet das Bauen!“ und den Ratgeber „Einfach anders wohnen“. Zuvor war er fünfzehn Jahre Unternehmer und leitete den Stadtwandel Verlag. 2021 kandidierte er als Oberbürgermeister von Oldenburg und erreichte in der Stichwahl 46 Prozent. Er lebt seit 2022 in Potsdam. Seine Dissertation „Der unsichtbare Wohnraum: Wohnsuffizienz als Antwort auf Wohnraummangel, Klimakrise und Einsamkeit“ ist im Transcript Verlag erschienen (Open Access und Printfassung).
www.daniel-fuhrhop.de

Mit dem Bremer Punkt gelingen auch Erfolge beim schwierigen Werkzeug des Umzugs. Viele Umzugsprämien und Tauschbörsen scheitern, weil Umzüge so aufwändig sind – sie kosten Zeit und Geld und man muss seine vertraute Umgebung verlassen. Letzteres vermeidet der Bremer Punkt, denn er steht direkt gegenüber den alten Zeilenbauten. Diese Nachbarschaft reizt viele zum Umzug und so wohnen im Bremer Punkt knapp ein Drittel Umzügler.

Wertschöpfung durch unsichtbaren Wohnraum

Bei diesem Umzug haben sich manche vergrößert, denn der Bremer Punkt bietet große Wohnungen für Familien und Wohnprojekte. Doch bei den ersten Bremer Punkten haben sich auch dreizehn Parteien beim Umzug verkleinert, um insgesamt 134 Quadratmeter. Diesen Wohnraum hat die Gewoba durch ihr Angebot geschaffen: Neben dem Neubau wurden zusätzliche 134 Quadratmeter im Altbau frei, im Wert einer Viertelmillion Euro (gemessen an den Kosten des Bremer Punkts).

Für diese Wertschöpfung bekommt die Gewoba keine Förderung, im Gegensatz zum Neubau. Dieser wird gefördert, je energieeffizienter desto mehr, doch der zusätzlich im Altbau geschaffene Wohnraum bislang nicht. Dabei ist er maximal energieeffizient, denn er erforderte überhaupt keine Energie beim Bauen, nur Energie beim Beraten und Vermitteln. Darum sollte die Politik Wohnraum nicht nur beim Neubau fördern und beim klassischen Umbau, sondern auch die Erschließung des unsichtbaren Wohnraums. Das würde es der Gewoba und anderen Wohnungsunternehmen erleichtern, ein Umzugsmanagement einzuführen.

Wohnraum ist so wertvoll, dass es sich für Kommunen lohnt, in soziale Programme nach der Formel 3U&VW zu investieren, in Umbau und Umzug und in die Vermittlung von Untermietern und Sozialmietern. Diese Werkzeuge bündelt man am besten in einer Wohnraumagentur, die je nach persönlichen Wohnwünschen zu dem einen oder anderen Angebot weiterleitet. Ob man ein, zwei oder gleich alle fünf Werkzeuge entwickelt, muss eine Kommune genauso entscheiden wie beim Neubau: Will man ein kleines oder großes Baugebiet? Will man durch den unsichtbaren Wohnraum ein kleines oder großes „Baugebiet ohne Baugebiet“?

Dabei fängt keine Gemeinde bei Null an: In vielen Städten gibt es bereits soziale Programme, die nebenbei Wohnraum schaffen, ohne dass es ihnen bewusst ist. Sie muss man analysieren, ausbauen und verknüpfen, um das Potenzial des unsichtbaren Wohnraums zu nutzen. Damit beginnt eine Kreislaufwirtschaft des Wohnens und schafft Wohnraum, ohne Fläche zu verbrauchen, ohne das Klima zu belasten. Den unsichtbaren Wohnraum zu finden und zu erschließen bringt älteren Menschen mehr Nähe und Nachbarschaft: Wohnraum finden heißt Menschen verbinden.

NACHHALTIG WOHNEN UND BAUEN

Ein Themenheft von Wohnungswirtschaft heute in Kooperation mit RENN.nord. 192 Seiten, 18,90 €

Nachhaltig Wohnen und Bauen Teil 1 von 3

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