Enzyklopädie der Rekonstruktion

Angesichts von Klimakrise, Dekarbonisierung und steigender Grundstücksknappheit führt an einem Um- und Neudenken unserer Wohnbaukultur kein Weg vorbei. Im Bereich von Recycling und materieller Innovation gibt es tolle Pioniere, doch der Weg ist steinig. Umso erfinderischer geben sich die gemeinnützigen Wohnbauträger im Bereich des Reconstructing. Eine interdisziplinäre Annäherung.
WOJCIECH CZAJA

Kvadrat Really, ein Spin-off des dänischen Textilkonzerns Kvadrat, schreddert alte Textilien wie etwa T-Shirts, Bettwäsche und sogar Jeans und verpresst diese zu Tischplatten. Honext, zu Hause am Stadtrand von Barcelona, hat eine Zusammenarbeit mit den lokalen Abfallwerken und verarbeitet den aufbereiteten Altpapierschaum zu hochverdichteten Platten, die im Möbelbau sowie im Trockenbau als Alternative zu Gipskarton verwendet werden können.

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Und das Wiener Start-up Abaton hat mit der TU Wien, der Universität Wien und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) eine Kühlplatte aus recycelten und kreislauffähigen Rohstoffen entwickelt, die in der Lage ist, Feuchtigkeit aufzunehmen, den Taupunkt zu unterschreiten und auf diese Weise den Energiebedarf für Flächenkühlungen zu reduzieren. Das Produkt eignet sich vor allem für Sanierungen und Innenausbauten.

Produkte und Innovationen wie diese wurden beim dreitägigen, von Christine Bärnthaler veranstalteten Ofroom-Nachhaltigkeitsforum „Material für die Zukunft“ im Wiener Semperdepot präsentiert. Da passte auch der Impuls von Herzog & de Meuron dazu: In Kooperation mit dem Vorarlberger Lehmbau-Spezialisten Martin Rauch (Lehm Ton Erde) errichten die Schweizer Architekten gerade das Bürogebäude „Hortus“ in Basel, bei dem direkt vor Ort eine Feldfabrik aufgebaut wurde.

Mit dem anfallenden Aushubmaterial werden – nur wenige Meter von der Baustelle entfernt – vorfabrizierte Holzrippendecken manuell und maschinell mit Stampflehm gefüllt. Der Lehm in den Deckenbauteilen fungiert als Brandschutz, Feuchtigkeitsregulator und speicherfähige Trägheitsmasse.

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Bernhard Sommer, Präsident der Länderkammer Wien, Niederösterreich und Burgenland: „Diese Pionierprojekte sind großartig, auf Österreich sind sie allerdings leider nicht umlegbar. Wir stehen der Kreislaufwirtschaft scheinbar kritischer gegenüber als andere Länder. Sobald man hierzulande ein Fenster ausbaut, und sei es noch so hochwertig, in einem noch so guten, gepflegten Zustand, hält man in der Sekunde des Ausbaus ein Stück Sondermüll in Händen.“

Solange man dieses Problem auf rechtlicher Ebene und in Einklang mit der Industrie nicht in den Griff kriege, so Sommer, hätten Recycling, Reconstructing und Kreislaufwirtschaft einen schweren Stand. Daran müsse sich dringend etwas ändern.


Reconstructing in Wien

Auch in der Großstadt spielt Reconstructing eine große Rolle. Direkt am Handelskai in Wien-Leopoldstadt errichtete die Wigeba mit querkraft architekten einen Gemeindebau Neu, der auf dem Dach einer zweigeschoßigen, 430 Meter langen Anrainergarage balanciert. Das Projekt war sozial sensibel, weil es direkt vor die 1974 errichtete Gemeindebauanlage von Anton Holtermann, Engelbert Eder und Hugo Potyka gestellt wurde. Um den bestehenden Bewohnern (Adresse Engerthstraße) möglichst wenig Ausblick auf die Donau zu nehmen, arrangierte querkraft die insgesamt 333 neuen Gemeindewohnungen quer zur Donau und stellte die sieben unterschiedlich hohen Riegel vor die Stiegenhäuser des Bestandsbaus.

„Wo die nötige Infrastruktur vorhanden ist, ist es sinnvoll, die Stadt nachzuverdichten“, sagt Peter Sapp, Partner bei querkraft. „Wichtig ist allerdings, bei einem Reconstructing- Projekt nicht nur an die neuen Mieter zu denken, sondern auch den bestehenden Mietern einen Mehrwert zu bieten.“ In diesem Fall ist dies ein neues, öffentlich begehbares Gartendeck auf dem Dach der Garage. Wo früher ein ödes Schotterdach war, erstreckt sich nun ein grüner Dschungel mit Spielplätzen und Fußgängersteg zur Donau.

Vom Wettbewerb 2017 bis zur Schlüsselübergabe 2022, erzählt Wigeba-Geschäftsführer Peter Steurer wurden regelmäßig Informationsveranstaltungen für die Bewohner* innen abgehalten. Diese seien wichtig gewesen, um auch Ängste, Sorgen und Emotionen abzufedern. „So ein Prozess bedarf einer sensiblen, minutiösen Planung, denn die Anrainer sind hier monatelang mit Lärm und Staub konfrontiert und in ihrer gewohnten Lebensqualität eingeschränkt.“ Das nächste Wigeba- Nachverdichtungsprojekt über einer Garage ist bereits in Planung: Eipeldauer Straße in der Donaustadt.

Foto: Hertha Hurnaus/querkraft

Recycling als sozialer Auftrag

Auch vor der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft macht das Thema nicht Halt. Das Thema Recycling ist dabei in der Tat ein Nischenphänomen. In der Waldmühle Rodaun, die selbst sieben Jahre nach Fertigstellung immer noch als Best-Practice-Beispiel für Materialrecycling gilt, wurde der Beton des Zementwerks vor Ort zerkleinert und den Straßen und Gehwegen als Zuschlagstoff beigemischt. Ansonsten kann man die Wohnbauten, bei denen Recycling eine zentrale Rolle spielt, an einer Hand ablesen. Meist handelt es sich dabei um kosmetische Behübschungen in den optischen Oberflächen.

Bei Projekten wie etwa der Stöbergasse (Sozialbau, ehemalige Volkshochschule) oder dem ehemaligen Sophienspital am Neubaugürtel wurde das Wiener BauKarussell beauftragt, die Altbauten mit Transit-Arbeitskräften auszuweiden und nach wiederverwend- und wiederverwertbaren Altstoffen zu durchforsten. „Die Prozesse funktionieren mittlerweile reibungslos, wir können sinnvolle sozialwirtschaftliche Arbeit leisten und Menschen in den Arbeitsmarkt reintegrieren, ohne dass das den Auftraggeber auch nur einen Cent mehr kostet“, sagt BauKarussell-Vorstand Thomas Romm.

„Nur leider beginnt mit jedem neuen Projekt ein Kampf gegen Normen, Bauvorschriften und festgefahrene Meinungen. Viele potenzielle Auftraggeber bleiben skeptisch.“ Und die WBV-GPA plant mit pos architekten aktuell ein Wohnbauprojekt aus sogenanntem Cleancrete. Dabei handelt es sich um einen betonähnlichen, aber zementfreien Baustoff, der von der ETH Zürich entwickelt wurde und bei dem Löss und Ton vom eigenen Baugrund verwendet wird. Darüber hinaus wird Reduced Carbon Concrete (RCC) – also Beton mit reduziertem Zementanteil – eingesetzt.

Das Projekt „Ildefonso“ ist Resultat des dialogorientierten Bauträgerwettbewerbs „Klimafit leben an der U1“ in der Kurbadstraße, Wien-Oberlaa. Die TU Wien hat in der Zwischenzeit errechnet, dass in Produktion und Errichtung von „Ildefonso“ 53 Prozent Kohlendioxid einspart werden können.


Die wichtigsten „R“s nachhaltiger Bauwirtschaft

  • Re-Use, Wiederverwenden: An erster Stelle steht die Prämisse der Abfallvermeidung und Lebenszyklus-Verlängerung. Intakte Bauteile werden ausgebaut und wiederverwendet – z. B. Türbeschläge, Zementfliesen, Parkettböden, Holzvertäfelungen. Diese Taktik wird in Österreich beispielsweise vom BauKarussell sowie von den Materialnomaden verfolgt. Einem umfassenden Re-Use stehen heute noch Normen, Baurecht, ungeklärte Haftungsfragen sowie fehlende Berechnungs- und Zertifizierungsmodelle im Weg.
  • Repair, Remanufacture: Das betroffene Produkt oder Bauteil ist beschädigt oder weist altersbedingte Abnutzungserscheinungen auf und muss ertüchtigt, repariert oder in einzelnen Komponenten ersetzt werden. Die Reparatur von Bauteilen ist in Österreich nach derzeitiger Lage rechtlich und wirtschaftlich noch schwieriger darstellbar als der Re-Use.
  • Recycle, Wiederverwerten: Im Gegensatz zum Re-Use und Repair braucht es beim Rezyklieren eine mechanische, physikalische oder chemische Weiterverarbeitung des Baustoffs. Recycling wird in der Baubranche schon oft angewendet, meist handelt es sich dabei jedoch um ein Downcycling, also um eine Weiterverarbeitung zu einem hierarchisch minderwertigeren Produkt. Das Gegenteil davon wäre Upcycling (Möbelbau, Freitag- Taschen).
  • Renovate, Sanieren: Im Gegensatz zum Recycle werden in diesem Fall nicht die Baustoffe einem „Umbau“ unterzogen, sondern das Gebäude als Gesamteinheit. Die Bandbreite der Sanierung reicht von klassischem Umbau über technische, thermische und energetische Ertüchtigung bis hin zur Revitalisierung ganzer Häuserblöcke und Quartiere. Eine ökologisch vorbildliche Sanierung ist etwa das Wohnprojekt in der Geblergasse (Österreichischer Staatspreis Architektur und Nachhaltigkeit 2021).
  • Reconstruct: Der Begriff umfasst selbst innerhalb der Baubranche unterschiedliche Definitionen – von einem Umdenken innerhalb der bestehenden Wertschöpfungskette über Re-Use und Recycle von Bauteilen im Falle von Abbruch oder Umbau bis hin zum kompletten Abbruch und Neubau ohne Rücksicht auf materielle und energetische Ressourcen (siehe auch Interview mit Angela Köppl, Seite 17). Nicht zu verwechseln mit dem denkmalpflegerischen Begriff der Rekonstruktion.
  • Reduce: Die potenzielle Reduktion bezieht sich auf den materiellen Einsatz, auf den Input von grauer Energie im Zuge von Produktion, Transport und Errichtung oder aber auf den Ausstoß von CO₂-Emissionen. In jedem Falle geht Reduktion mit einem Umdenken und Neu-Evaluieren des tatsächlichen Bedarfs einher. Im Sinne der Suffizienz müssten wir unseren ökologischen Fußabdruck stark reduzieren.
  • Refuse, Avoid, Vermeiden, Verzichten: Ob Baustoffe, Bauprodukte, Ausstattungs- und Komfortgrade von gebauten Räumen oder sogar ganze Projekte: Worauf können wir verzichten? Im Einzelfall ist diese Strategie anwendbar, doch sie steht in einem diametralen Verhältnis zur Konsumkultur und zum gegenwärtigen Wirtschaftsmodell.
  • Rethink: Wie können wir das Bauen neu denken? Wie können wir Kostenwahrheit schaffen? Wie können wir Standards und Gepflogenheiten hinterfragen? Und wie können wir Normen, Bauordnungen und diverse Vorschriften und Richtlinien adaptieren, damit nachhaltiges Bauen ohne Hindernisse realisierbar wird?
  • Rot, Verrotten: Wenn alle Re- Möglichkeiten ausgeschöpft sind und das Bauteil oder Bauwerk tatsächlich sein Lebensende erreicht hat, kann es leicht demontiert und im Idealfall sogar – ohne ökologische Belastung – kompostiert werden. Solche Ansätze werden etwa von Anna Heringer und Martin Rauch (Lehm Ton Erde) verfolgt.

Werksiedlung in Mühlbach am Hochkönig: Seit 2014 wird die Siedlung weiterverdichtet – von ursprünglich 50 auf insgesamt 80 Wohnungen. Foto: Bergland

Salzburger Land nachverdichten

Ein ähnlich ökologischer, ebenso CO₂- reduzierter Baustoff, hat die Recherche für diesen Artikel ergeben, wird außerhalb der Großstädte immer wieder eingesetzt, wenn es gilt, dem baulichen Bestand aus den 1940er-, 1950er- oder 1960er-Jahren mit einem meist miserablen ökologischen Fußabdruck ein klimafittes Pendant gegenüberzustellen.

Mehrere Bauträger, wie etwa die Wohnbau-Genossenschaft Bergland oder die Neue Heimat Tirol, greifen gerne auf Iso-Span zurück – im Grunde genommen nichts anderes als ein gewichts- und CO₂-reduzierter Mantelstein aus Beton und recycelten Holzspänen, der auf der Baustelle aufgemauert und anschließend als verlorene Schalung mit Ortbeton ausgegossen wird. Der Recycling-Baustein ist EPD-zertifiziert (Environmental Product Declaration) und wird im Lungau produziert. Das Unternehmen ist europaweit tätig.

Reconstructing in Kufstein: Die NHT nützt den Bestand zum Weiterbauen. Visualisierung: Parc Architekten

Abgesehen von diesen Piloten und Impulsen beschränkt sich das Thema Recycling in der heimischen Wohnbauwirtschaft jedoch weniger auf die Wiederverwertung von Baustoffen und Bauprodukten als vielmehr auf die Wiederverwendung von Bauland. Vielerorts werden Wohnhausanlagen und ganze Siedlungen nachverdichtet, zum Teil abgetragen und punktuell mit neuen Implantaten ergänzt – oder aber flächendeckend abgerissen und mit zeitgenössischen, ökologisch nachhaltigeren, vor allem aber wirtschaftlich effizienteren Neubauten komplett neu bebaut. „Reconstructing“ nennt sich diese mittlerweile vielfach praktizierte Bauweise, wobei der Fachbegriff in den letzten Jahren einen erstaunlich euphemistischen Wandel vollzogen hat.

Bei der Bergland, die in Salzburg rund 10.000 Wohnungen verwaltet, machen Reconstructing-Projekte im Sinne der Nachverdichtung und Neubebauung mittlerweile mehr als 30 Prozent aus. „Das Land Salzburg ist steil und gebirgig, Naturgewalten wie etwa Bäche, Muren und Lawinen sind prägende Parameter, entsprechend rar und wertvoll sind die Bauflächen, die nicht in gelben oder roten Zonen liegen“, so Bergland-Obmann Philipp Radlegger. „Daher haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, unseren Bestand kontinuierlich zu prüfen und auf technische Ertüchtigung und Nachverdichtungspotenziale zu untersuchen.“ Mit Erfolg.

Einfach weiterbauen

Das erste, umfassendste und mit einer Gesamtlaufzeit von rund 20 Jahren auch längste Projekt ist die Nachverdichtung einer ehemaligen Werksiedlung in Mühlbach am Hochkönig. Peu à peu wird die Siedlung seit 2014 verdichtet, bebaut, umgesiedelt, abgerissen und weiterverdichtet – von ursprünglich 50 auf insgesamt 80 Wohnungen. Ein ähnliches Bauvolumen ist auch in der Hanuschgasse 1 in Bischofshofen vorgesehen. Auf Basis einer Studie von Hochhäusl & Moosbrugger werden die bestehenden Häuser abgerissen und durch Neubauten ersetzt.

Das Projekt hat 2021 begonnen und ist bis 2026 anberaumt. Und in Saalfelden hat unlängst ein Reconstructing- Projekt auf industriellem Brownfield gestartet. Dabei wird das Areal einer ehemaligen Textilfabrik mit 17 frei finanzierten Eigentumswohnungen namens „Kukuruz“ bebaut. Die Planung von Hasenauer Architekten sieht eine vertikale Lattenfassade vor und fügt sich harmonisch in die Landschaft.

Hochschwab-Siedlung der Gemysag wird erweitert und saniert und die freiräumliche Qualitäten genützt. Foto: Gemysag

„Bei einem industriellen Reconstructing ist der Prozess sehr unproblematisch, wir können uns voll und ganz auf die technische und ökologische Nachhaltigkeit konzentrieren“, sagt Radlegger. „Weitaus schwieriger ist das in bestehenden Wohnsiedlungen, wo wir die Mieter umsiedeln und ihnen entsprechende Ersatzwohnungen anbieten müssen.“ In der Regel erfolgt dies in persönlichen Einzelgesprächen. Bei der Übersiedelung hilft die Bergland mit, für Einbauküchen und aufwendiges Tischlerinventar gibt es bei Bedarf Ablösen nach individueller Vereinbarung.

Update für Südtiroler Siedlungen

Reconstructing ganzer Siedlungen ist ein zentrales Thema in Tirol. Aufgrund der geografischen und einst sogar landespolitischen Nähe entstanden hier in den 1940er-Jahren die meisten sogenannten Südtiroler Siedlungen – insgesamt 23 Stück in ganz Tirol, mehr als irgendwo anders in Österreich. Zurückzuführen sind die Siedlungen auf ein Abkommen 1939, demnach sich die Südtiroler zwischen einem Verbleib im faschistischen Italien oder einer Rückkehr ins Deutsche Reich entscheiden mussten. Bis Kriegsende wanderten rund 75.000 Südtiroler aus, für sie wurden in kürzester Zeit – in meist mäßiger technischer und architektonischer Qualität – die Südtiroler Siedlungen geplant. In den meisten Fällen stammen die Planungen vom Stuttgarter Architekten Helmut Erdle.

Projekt Erbse ist ein Umnutzungs- und umfassendes Sanierungsprojekt der OSG, mit Volksschule und Wohnungen. Foto: Pumar

Eine solche, in die Jahre gekommene Südtiroler Siedlung befindet sich in Kufstein. Nachdem die Bausubstanz technisch veraltet und aufgrund der engen, minderwertigen Bauweise eine technische, barrierefreie und den heutigen Wohnanforderungen entsprechende Sanierung nahezu unmöglich war, entschied sich die NHT, die 292 Wohnungen abzureißen und für die Neubebauung einen geladenen Architektur- Wettbewerb mit insgesamt 15 Büros auszuschreiben. Der Zuschlag ging an die Innsbrucker parc architekten, die zweit- und drittplatzierten Büros RT Architekten und DIN A4 bekamen den Zuschlag für die zweite und dritte Baustufe.

Bewohner an Bord

„Unser städtebaulicher Ansatz war, nicht nur die Südtiroler Siedlung neu zu errichten, sondern auch ein Zentrum für den gesamten Stadtteil zu schaffen“, sagt Michael Fuchs, Geschäftsführer parc architekten. „Dennoch ist die bestehende Siedlung eine wichtige atmosphärische Grundlage, denn obwohl wir hier in den kommenden Jahren 669 Ersatzwohnungen mitsamt Kindergarten, Schule und Nahversorgern errichten, sollen die Größe und Qualität des einstigen Grünraums erhalten bleiben.“ Die Lösung liegt in der weitaus höheren Bebauung: Erdgeschoß plus fünf Geschoße. Um die große Baumasse vor der Tiroler Bergkulisse zu kaschieren, werden die Häuser in eine dunkel imprägnierte Holzfassade gehüllt.

In Kematen wickelt die NHT ebenfalls das Reconstructing einer Südtiroler Siedlung ab, diesmal jedoch handelt es sich um die Sanierung und Nachverdichtung eines Ensembles aus 129 Wohnungen, das 2012 – als einzige Südtiroler Siedlung Tirols – aufgrund des technischen, architektonischen und freiräumlichen Zustands unter Denkmalschutz gestellt wurde. Die Fassaden bleiben bestehen, die Häuser selbst werden entkernt und nach Plänen von Hanno Vogl-Fernheim mit neuen Grundrissen gefüllt, die Dachböden werden ausgebaut, die Wärmedämmung erfolgt an der Innenseite mit hocheffizientem Aerogel, die Kastenfenster werden rekonstruiert. Zwischen die bestehenden Altbauten setzt die NHT zur Erhöhung der Bebauungsdichte punktuelle Neubauten. Der erste Neubau ist im Gange, im Frühjahr werden die Bewohner umgesiedelt, im Sommer 2024 startet die Sanierung.

„Die Südtiroler Häuser wurden zwischen 1939 und 1942 errichtet, und sie sind am Ende ihres Lebenszyklus angelangt, ein Reconstructing ist daher unvermeidbar“, sagt Engelbert Spiß, technischer Leiter Bau bei der NHT. „Wichtig ist nur, die Bewohner schon möglichst früh mit an Bord zu holen, denn die Projekte sind mit der Errichtung von Manövrierwohnungen und der Absiedelung der bestehenden Mieter logistisch sehr komplex – und mitunter auch psychologisch fordernd. Wer trennt sich schon gern von seiner Wohnung!“ Für unbefristete Mietverträge bietet die NHT eine Ablöse an, als Übersiedelungshilfe werden pro Haushalt 15.000 Euro zur Verfügung gestellt, im Einzelfall gibt es sogar weitere individuelle Unterstützungen. Bis dato, freut sich Spiß, habe man in den Reconstructing-Siedlungen 94 bis 97 Prozent der Bewohner halten können.

Reconstructing? Resettlement!

Auch im Mur-Mürz-Tal, das bedingt durch Bergbau und Industrie im Laufe des 20. Jahrhunderts massiv entwickelt wurde, sind nun ganze XXL-Siedlungen in die Jahre gekommen und müssen dringend saniert sowie thermisch und energetisch ertüchtigt werden. Die Gemysag verwaltet in Kapfenberg an die 3.800 Wohnungen, davon 700 in der Hochschwab-Siedlung und weitere 700 Wohneinheiten am Schirmitzbühel.

„Die beiden Siedlungen wurden zwischen den 1940er- und 1960er-Jahren errichtet und haben zum Teil tolle freiräumliche Qualitäten“, sagt Hans-Peter Korntheuer, Sprecher der Geschäftsführung Gemysag, „doch an einem Reconstructing führt kein Weg vorbei. Nachdem die bauliche Materie sehr heterogen ist, müssen wir auch auf unterschiedliche Weise darauf reagieren.“

Die OSG baut beim Projekt Erbse den alten Silo der ehemaligen Fabrik zu Wohnungen um. Visualisierung: Pumar

Abbruch oder Neubau

Der Handlungskatalog umfasst den Anbau von Balkonen, energetische Sanierungen im bewohnten Zustand, umfassende Sanierungen mit Absiedelung sowie die Variante Abbruch und Neubau. Ein Ausbau der bestehenden Dachböden wäre so aufwendig, dass die Gemysag beschlossen hat, hier stattdessen Kellerersatzräume einzubauen. Das Reconstructing basiert auf Konzepten und Leitentwürfen von Arge Architekten Gómez Pretterhofer (Hochschwab- Siedlung, Planung in Arbeit) und Gangoly & Kristiner Architekten (Schirmitzbühel, in Bau seit 2018).

Beide Projekte sind hochkomplex in der Logistik, umfassen ein Gesamtbudget von jeweils rund 70 bis 75 Millionen Euro und sind für eine Gesamtdauer von zehn bis 15 Jahren anberaumt. „Seit 1980 ist Kapfenberg um 20 Prozent geschrumpft“, meint Korntheuer. „Ich hoffe, dass wir damit einen Beitrag leisten können, dass die Gemeinde wieder als attraktiver Lebensort wahrgenommen wird und die Siedlungen rückbesiedelt werden. Immerhin haben wir Tag für Tag rund 7.500 Berufseinpe ndler. Zumindest einige davon möchten wir mit unseren Reconstructing-Projekten ansprechen.“

Die Wiedergeburt der Erbse

Dass das Thema Reconstructing nicht nur das Wohnen und die Effizienzsteigerung von Lebensräumen betrifft, sondern auch eine baukulturell spannende, lustmachende Bauaufgabe sein kann, beweist die Revitalisierung der ehemaligen Erbsenschälfabrik in Bruckneudorf. Erst unlängst wurde das 1896 errichtete, denkmalgeschützte Industriebauwerk saniert und beherbergt nun eine zwölfklassige Volksschule sowie ein Kultur- und Veranstaltungszentrum. Realisiert wurde das Projekt von der Oberwarter Bau-, Wohn- und Siedlungsgenossenschaft, für die Planung ist das Wiener Büro pumar (Pesendorfer und Machalek Architekten) zuständig. Die Räume wurden sehr behutsam saniert und überführen die Geschichte des Gebäudes auf frische und freundliche Weise in eine lesbare Gegenwart.

Auch der Aushub kann wiederverwendet werden – wie das Projekt Hortus in Basel von Herzog & de Meuron zeigt. Visualisierung: Herzog & de Meuron

Auf dem ehemaligen Fabrikareal wurden bereits 14 Reihenhäuser errichtet, zudem wird das 4,2 Hektar große Gelände in den kommenden Jahren mit weiteren 120 bis 130 Wohnungen in fünf Bauabschnitten bebaut. Absolutes Highlight der „Erbse“, wie das Projekt im Volksmund mittlerweile genannt wird, ist der Umbau der beiden Getreidesilos aus den 1970er- und 1980er- Jahren. Die bestehende Betonstruktur wird aufgebrochen, die Kammern werden perforiert, Decken eingezogen, Balkone angebaut, Begrünungselemente vorgesehen. Insgesamt wird der Silo 72 Wohnungen umfassen. OSGObmann Alfred Kollar freut sich, dass es schon jetzt – lange vor Baubeginn – an die 600 Anfragen gibt.

OSG und pumar setzen hier einen Pionierschritt und liefern damit eine mögliche Schablone für einen künftigen Umgang mit den unzähligen Silos und Getreidespeichern, die im Osten Österreichs überall in der Landschaft herumstehen und zum Teil nicht mehr benötigt werden. Das Projekt macht Vorfreude. Besser (und näher dran am Kern der ursprünglichen Bedeutung des Wortes) kann man Reconstructing nicht machen.

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