Ein Campus fürs Baby bis zur Omama

Vor rund einem Jahr wurde der Lebenscampus Wolfganggasse im neuen Stadtteil Wolfganggasse in Meidling an seine Bewohner:innen übergeben. Auf den ersten Blick ist die Architektur wenig spektakulär. Die wahren Qualitäten des Projekts offenbaren sich erst bei näherer Betrachtung des Nutzungsmix und der gesamtheitlichen Berücksichtigung aller Generationen. Ein Besuch vor Ort.
WOJCIECH CZAJA

In Wiens erster Food-Hall gibt’s gebratene Wan Tan, Souvlaki mit Tzatziki und Tajine mit Couscous, Kichererbsen und Kokos-Mango-Sauce, je nach dem, an welcher der vielen Küchenstationen man sich gerade angestellt hat. Dazu ein großes Vienna-Kraft-Krügerl, entzapft aus Wiens Bierlokal des Jahres 2024. Und rundherum ganz viele Palmen, Bäume und Sitzbänke, die sich um ein Crossover aus Heurigen und Bobo-Paradies bemühen. Irgendwie sehr charmant.

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In den Medien ist der sogenannte Gleis//Garten bislang nicht immer gut davongekommen. Das Konzept sei zwar in Anlehnung an die Markthallen in Rom, London, Sevilla, Barcelona entstanden, heißt es in den Berichten, doch mit dem quirligen Treiben des Essens, Trinkens und Einander- auf-die-Füße-Steigens hat die revitalisierte Remise, in der einst die Waggons der Badner Bahn geschlafen haben, nicht viel gemein. Da helfen auch die vielen Eigentümer- und Gesellschafterwechsel, die der Gleis// Garten seit seiner Geschäftsgründung 2022 bereits über sich ergehen lassen musste, nicht weiter. In den Nachmittagsstunden ist das Publikum überschaubar, an ein paar Tischen sitzen Laptop-Jugendliche und trinken Soda Zitron, die Köche indes lehnen, mit den Ellbögen am Tresen aufgestützt, halbgelangweilt an der Kassa.

Merve Erbas: Bewohnerin einer Smart-Wohnung mit Superförderung im Lebenscampus Wolfganggasse.

Weniger international zwar, bei Weitem aber nicht weniger wild in der Mischung der Menschen, Nutzungen und Institutionen geht es nebenan im sogenannten Lebenscampus Wolfganggasse zugange. Nachdem klar war, dass die Badner Bahn – offiziell bekannt unter dem Firmennamen Wiener Lokalbahn – absiedeln wird und auch der benachbarte Holzplatz, an dem der Autor dieser Zeilen schon etliche Male Rohmaterial für Regale, Schreibtische und Küchenarbeitsplatten eingekauft hatte, aufgelöst werden soll, hat die Stadt Wien 2016 ein kooperatives städtebauliches Verfahren durchgeführt.

Im Frühjahr 2018 war es dann soweit. Der Betriebsstandort der blauweißen Züge wurde aufgelassen, das hochwertige Holz auf Lkw verräumt und abtransportiert, unmittelbar nach Beschluss einer neuen Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung wurde für das 31.000 Quadratmeter große Areal schließlich ein Bauträger-Wettbewerb für rund 850 Wohnungen ausgeschrieben. Die ersten Bagger sind Corona-Lockdown 2020 angerollt, die Übergabe der einzelnen Häuser erfolgte zwischen Oktober 2022 und Mai 2023.

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Die vorderen zwei Bauplätze 3 und 5 im Trapez zwischen Gaudenzdorfer Gürtel, Eichenstraße, Hermann-Glück- Weg, Marx-Meidlinger-Straße und der turmlosen Kirche Neumargareten wurden von den beiden Bauträgern Neues Leben und wbv-gpa zum sogenannten Lebenscampus Wolfganggasse ausgebaut und umfassen heute 323 geförderte Mietwohnungen, ein Senior:innenwohnheim, diverse Wohngruppen und Sonderwohnformen sowie ein Berufspädagogisches Ausbildungsinstitut der Österreichischen Jungarbeiterbewegung (ÖJAB). Das Projekt ist Teil der Internationalen Bauausstellung IBA_Wien 2022.

Wilder Mix für alle Lebensphasen

„Es ist ein ziemlich wilder Mix, und die Anforderungen, die wir uns hier gestellt haben, um einen Lebenscampus zu bauen, der auch wirklich alle Phasen des Lebens abbildet, von der Geburt über Kindheit und Jugend bis hinein ins hohe Alter, für manche der hiesigen Bewohner: innen sogar bis zum Tod, hatten es wirklich in sich“, sagt Christian Seethaler, Partner bei M&S Mascha Seethaler Architekten, die das Areal in Kooperation mit gerner gerner plus geplant haben. „Aber ich denke, es ist uns gelungen, das dichte Raum- und Funktionsprogramm in dieser dichten Bebauung in eine gute, adäquate Form zu gießen. Wir haben einen Campus des Lebens gebaut.“

Das Logo der Badner Bahn ist noch deutlich zu erkennen: Die revitalisierte Remise macht sich schön im neuen Lebenscampus.

Auffälligstes Element – und auch Auftakt und Visitenkarte des Areals – ist der zehnstöckige, intensiv begrünte Baukörper vorne am Gürtel. Über einem keramischen Terracotta-Sockel erhebt sich ein vertikaler Garten, eine Art vorgeblendete Loggien- und Balkonschicht mit Waldreben, Klettergurken und Schildknöterich. Die Pflanzen wachsen in knapp 50 Zentimeter breiten und ebenso hohen, automatisch bewässerten Trögen, als Kletterhilfe dienen verzinkte, miteinander verschweißte Bewehrungsmatten, ein billiges, clever eingesetztes Readymade also.

Entwickelt wurde das Bepflanzungskonzept in Zusammenarbeit mit Yewo Landscapes. Schon jetzt, gerade mal ein Jahr nach Besiedelung, scheint die Flora bereits Wurzeln geschlagen zu haben – und hat sich stellenweise bereits um einige Meter nach oben gekämpft.

„Wir wissen aus Messungen, Beobachtungen und den Gesprächen mit Yewo, dass die Pflanzenschicht entgegen der volkstümlichen Meinung keinerlei akustischen Schutz bietet“, sagt Seethaler, „denn dazu müsste die Flora viel, viel dichter und auch großblättriger sein. Sehr wohl aber können wir mit Sicherheit sagen, dass die Menschen mit dem grünen Filter vor dem Fenster ein subjektiv leiseres Empfinden der umgebenden Geräuschkulisse haben. Und sie haben weitaus weniger Blendungen durch die vorbeifahrenden Autos.

Allein das zahlt sich schon aus.“ Für Seethaler ist der grün eingekleidete Baukörper nicht zuletzt auch eine Fortführung des grünen Gürtels, der von hier oben in der Tat als grüner Stadtwald in Erscheinung tritt.

Gründerzeitlicher Dichte

Hinter dem Auftaktgebäude, das bis auf seine grüne, gürtelseitige Fassade zutiefst unspektakulär erscheint, spaziert man durch ein hell verputztes, vollwärmeschutzgedämmtes Gemengelage mit gefühlter gründerzeitlicher Bebauungsdichte.

Die einzelnen Baukörper stehen an einigen Eckpunkten überraschend nah aneinander, an ein paar Stellen möchte man wie in Neapel Wäscheleinen von einem Balkon zum anderen spannen, dann wieder öffnen sich breite Canyons und lassen ungeahnte Durchblicke zu – mal auf den historischen Gleis//Garten, mal auf den Reumannhof, mal auf den sich um die Kurve schmiegenden Metzleinstaler Hof. In diesem kontrastreichen Spektrum aus Rotem Wien und aktueller Auffassung leistbaren Wohnens ist man im Herzen schon irgendwie hin- und hergerissen zwischen damals und heute.

„Wir wollten einen Lebenscampus bauen, der wirklich alle Phasen des Lebens abbildet. Ein großer Anspruch!“
Christian Seethaler

„Ja, das verstehe ich“, sagt Christian Seethaler, M&S Architekten, „aber im Rahmen der heutigen Förderrichtlinien und Baukostenobergrenzen ist einfach nicht mehr drin. Schon gar nicht, wenn wir uns auf einen schönen, heterogenen Freiraum konzentrieren, wie das auf diesem Wohncampus nötig war, und noch viel weniger, wenn wir begrünte Fassaden vorsehen und im Inneren der Gebäude einen funktionalen Mix aus unterschiedlichen Wohntypologien mit Pflege- und Ausbildungseinrichtungen unterbringen möchten.

Der Fokus bei diesem Projekt richtete sich auf Menschen in prekären Lebenssituationen – ob dies nun schwer vermittelbare Jugendliche, alleinerziehende Mütter und Väter in Patchwork-Konstellationen oder Menschen am Ende ihrer Lebenstage sind. Über das Gefallen und Nicht-Gefallen der Architektur müssen sich die Menschen selbst ein Bild machen.“

Praxis-Check: 
Remise zum sozialen Wohnen 
Am Donnerstag, dem 20. Juni, veranstaltet die Wohnen Plus Akademie am Lebenscampus Wolfganggasse einen Praxis- Check. Im Gespräch mit den Bauträgern, den Architekt:innen und dem wohnfonds_wien wird das Projekt auf den Prüfstand gestellt: Was hat sich im Alltag bewährt? Was weniger? Und was können wir daraus für die Zukunft lernen? Eine Führung durch den Campus sowie ein Einblick in Stiegen und Privatwohnungen rundet das Programm ab. 9:30 bis 16 Uhr. 
wohnenplus-akademie.at

Viele kleine Gemeinschaftsräume

Wir fragen nach. „Wir haben eine Smart-Wohnung mit Superförderung, der Grundkostenanteil war sehr gering, und auch die Miete ist wirklich leistbar“, sagt Merve Erbas, aktuell in Mutterkarenz, die mit ihrer pink-teddy-eingepackten Tochter gerade nach Hause gekommen ist. Sie bewohnt eine der insgesamt 108 Smart-Wohnungen, 65 Quadratmeter Wohnnutzfläche.

„Erstmals im Leben können wir uns eine wirklich schöne Wohnung in einem Neubau leisten, und das in dieser tollen Lage im 12. Bezirk, mit ein paar Straßenbahnen vorm Haus. Wir wohnen wirklich gerne hier, dank der Gemeinschaftsräume hat sich eine schöne Nachbarschaft entwickelt, und ja, mir gefällt die Architektur mit den roten und orangen Wohnungstüren wirklich gut.“

Genau diese Gemeinschaftsräume sind Produkt eines intensiven Schärfungsprozesses mit dem deutschen Soziologen Joachim Brech. Anstatt ein oder zwei 80 Quadratmeter große Gemeinschaftsräume pro Stiege zu errichten, die sich meist nur für Kindergeburtstags- Partys eignen und darüber hinaus eine recht hohe psychologische Buchungsschwelle haben, schlug dieser nämlich vor, die kollektiven Flächen auf viele 20 Quadratmeter große Gemeinschaftsräumchen aufzuteilen. Die meisten davon liegen – großzügig belichtet und mit einer Glaswand zum Gang abgetrennt – am Ende der langen Korridore.

Der verspiegelte Bewegungsraum animiert zur Bewegung. So muss Gemeinschaft!

In manchen Zimmerchen wird vor der Spiegelwand schweißtreibend getanzt und geturnt, in anderen gibt es eine Boulder-Wand, auf der sogar schon mal der Meidlinger Bezirksvorsteher posiert hat, ein anderer Raum wiederum dient als Home-Cinema mit bequemen Lümmel-Fauteuils, und dann gibt es noch die kleinen Wohnzimmer-Bibliotheken. „Die sind eigentlich recht unscheinbar“, sagt Merve Erbas, „aber wenn uns daheim mal die Decke auf den Kopf fällt, sind das die perfekten Joker-Räume, um kurz mal allein zu sein oder mit jemandem ganz anderen außerhalb der eigenen Familie ins Gespräch zu kommen.“

Wunderbar für eine Mittagspause

Wir fragen weiter. Bei den Gewerbetreibenden am Areal. Robert Scheifler ist Angestellter im Grafikbüro Typothese, Hermann-Glück-Weg 6, Top 1D. „Mir gefällt vor allem, dass es trotz der großen Dichte und trotz der vielen Wohnungen, die hier errichtet wurden, gelungen ist, eine gewisse architektonische Qualität zu wahren“, sagt er. „Die Häuser sind ansprechend gestaltet, es gibt weitaus Schlimmeres im Neubaubereich, und die Freiräume dazwischen sind grün und wunderbar geeignet für eine Mittagspause.“

In den untersten zwei Geschoßen am Gürtel befindet sich eine Berufsausbildungsstätte des ÖJAB.

Im Büro nebenan, Top 1A, ist das Designbüro Studio RE.D eingemietet. In den Auslagen sieht man Vasen, Stühle, diverse Prototypen, die gerade auf dem Salone del Mobile in Mailand ausgestellt waren. „Wir haben bis vor Kurzem in einer Ateliergemeinschaft im 20. Bezirk gearbeitet, wollten jetzt aber endlich einmal ein Büro ganz für uns allein“, sagen die beiden Geschäftsführer* innen Kerstin Pfleger und Peter Paulhart. „Es ist zwar noch alles nicht so lebendig wie im 6. oder 7. Bezirk, aber dafür sind wir hier Pioniere – und können die Entwicklung der ehemaligen Badner Bahn-Remise mitgestalten. Das ist schon auch sehr reizvoll.“

Und schließlich werfen wir noch einen Blick ins ÖJAB-Büro. Die ÖJAB ist am Lebenscampus gleich dreimal vertreten – mit dem Berufspädagogischen Institut samt Unterrichtsräumen und Werkstätten, mit dem Ausbildungsprogramm BPI Bildung, Perspektive, Integration für Jugendliche ab 15 Jahren, die in der regulären Lehre nicht Fuß fassen konnten und sich am Arbeitsmarkt entsprechend schwer tun, sowie mit dem ÖJAB-Pflegewohnhaus Neumargareten mit insgesamt 214 Wohnund Pflegeplätzen. Und ja, Letzteres, geplant von B18 Architekten, das muss man ganz offen und ehrlich sagen, ist das mit Abstand schönste, sympathischste Haus am Campus.

„Wir waren früher im alten Gewerbehaus in der Flurschützstraße untergebracht“, sagt Erika Karner, Angestellte im ÖJAB-Schulungszentrum, in dem es für die Jugendlichen voll ausgestattete Werkstätten und Trainingsräume gibt – für angehende Schlosser, Tischlerinnen, Elektromechaniker, Fahrrad-Spezialistinnen und allerhand Pflegejobs. „Mit dem Ambiente eines Altbaus ist das alles hier natürlich nicht vergleichbar. Hier sind die Räume kleiner und niedriger, daran mussten wir uns erst gewöhnen. Aber dafür ist es hell, und wir haben Terrassenflächen.“

Gewünscht waren hochwertige fußläufige Verbindungen von einem Stadtteil in den anderen. Das scheint gelungen, wie auch die abwechslungsreiche Außenraumgestaltung.

Die größte Kritik übt Karner am Partizipationsprozess, denn in diesen war der ehemalige Geschäftsführer involviert, die in der Zwischenzeit jedoch das Unternehmen verlassen hat. Der Grund für ihre Unzufriedenheit: Der alte Chef hatte sehr klare Vorstellungen, mit denen er sich eingebracht hat, zum Teil gegen die Interessen seiner Kolleg:innen und Mitarbeiter:innen. „Nun ist er weg, und wir müssen mit dem arbeiten, was da ist. Eine zu intensive, zu spezielle Partizipation hat auch ihre Schattenseiten.“

Reibungsflächen von Normalitäten

Andernorts wiederum hat die Beteiligung der Stakeholder:innen und LOI-Involvierten die besten Früchte hervorgebracht – ob das nun das ÖJABJugendwohnheim mit 87 Heimplätzen ist, die Housing-First-Übergangswohnungen von neunerhaus mit insgesamt 52 Plätzen, der ÖJAB-Stützpunkt für Krankenhauspflege, die zwei Wohngemeinschaften der MA 11 (Wiener Kinder- und Jugendhilfe) oder die WG für Menschen mit Behinderungen, die aus Gründen der Barrierefreiheit direkt im Erdgeschoß untergebracht wurden.

Auf den ebenerdigen Loggien – mit Rollstühlen, spastischen Bewegungen und manchmal auch mit lautem Geschrei – entstehen Schnittmengen und Reibungsflächen der vielen unterschiedlichen Definitionen von Normalität. So muss Stadt.

„Der vielleicht größte Erfolg dieses Projekts ist von außen aber unsichtbar“, sagt Architekt Christian Seethaler am Ende der Führung durchs Quartier. „Gemeinsam mit gerner gerner plus und den beiden Bauträgern Neues Leben und wbv-gpa haben wir hier spezielle, vielfältig nutzbare Grundrisse für alleinerziehende Elternteile entwickelt. Zu Beginn waren all diese Alleinerziehenden-Wohnungen konzentriert in einem Haus geplant. Doch dann wurden wir im Gespräch mit dem Soziologen eines Besseren belehrt.“ Im Sinne der Diversität und sozialen Durchmischung wurden die Alleinerziehenden- Wohnungen schließlich quer über den gesamten Lebenscampus verteilt. „Es ist ein Projekt voller Learnings“, so Seethaler. „Auch als Architekten haben wir dabei ständig dazugelernt.“

Fazit der Besichtigung: Dieses Projekt schillert nicht durch seine Architektur und auch nicht durch die freiräumlichen Bezüge der Baukörper zueinander. Daran können auch die begrünten Fassaden und die alte, revitalisierte Remise nichts ändern, Wan Tan und Dim Sum hin oder her. Ein gebautes Wow sieht anders aus. Nein, der Lebenscampus Wolfganggasse benötigt einen zweiten und dritten Blick hinter die Kulissen, und schon jetzt, ein Jahr nach Fertigstellung und Inbetriebnahme, scheint er seinem Namen gerecht zu werden.

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