Von Daniel Schmidt, Mitglied des Vorstandes des Deutschen Instituts für Normung e. V.
Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung aus Schwarz und Rot steht es wieder geschrieben: Primäres Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot in Deutschland ist Bauen, Bauen, Bauen. Nur wurden die gesteckten Ziele von 400.000 neuen Wohneinheiten pro Jahr in den vergangenen Jahren nicht erreicht, und auch für 2025 liegen die Prognosen weit unter dem gesteckten Ziel.
Dass es mit dem Neubau nicht wie gewünscht vorangeht, liegt nach Meinung Vieler, auch vieler Medien, an den hohen Kosten beim Bauen. Gerne sieht man die Ursache hierfür bei den Standards und Normen im Baubereich. Dabei hat eine von DIN e.V. in Auftrag gegebene Befragung von mehr als 300 Expertinnen und Experten der Baubranche ergeben, dass es die Baukosten als Ganzes sind, also Kosten für Baumaterialien, Transport und Logistik sowie Energie- und Personalkosten, die Kostentreiber Nr. 1 sind. Nicht zu vergessen die uneinheitlichen Vorgaben im Baurecht der einzelnen Bundesländer.
Standards und Normen sind also nicht die wahren Kostenverursacher – Über die Jahre hinweg helfen sie sogar dabei, Kosten zu senken, indem zum Beispiel durch die Festlegung gemeinsamer Regeln die Planung und Bauausführung erleichtert wird. Zudem bilden sie die Grundlage für einen reibungslosen Bauablauf auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses aller Beteiligten. Außerdem verbergen sich hinter Normen jede Menge Wissen und Erfahrung, sodass durch deren konsequente Anwendung Fehler und entsprechende Fehlerkosten vermieden werden. Laut einer Studie aus dem Jahr 2019 könnten somit 24 Mrd. Euro, die durch Baufehler entstehen, eingespart werden.
Darüber hinaus gibt es durch den Gesetzgeber immer höhere Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Klimaschutz, was das Bauen insgesamt immer komplexer macht. Damit, so scheint es, sind Kostensteigerungen unausweichlich. Dies schlägt sich auch in Normen und Standards nieder – und kann Baukosten erhöhen. Aber es geht auch andersrum: Normen können selbstverständlich durch die interessierten Kreise aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand und Verbraucherschutz angepasst oder auch zurückgezogen werden, wie die Praxis immer wieder belegt.


Normen und Standards: Für Qualität und Sicherheit beim Bauen mit entsprechender Flexibilität
Normen sind im Bauwesen von unschätzbarem Wert. Sie schaffen klare Vorgaben und fördern Effizienz. Aber: Viele Menschen glauben, DIN-Normen hätten Gesetztes-Charakter, was nun überhaupt nicht der Realität entspricht. Im Gegenteil: Normen sind freiwillige technische Standards, die vor allem der Qualitätssicherung und der Gewährleistung von Sicherheit im Bau dienen – aber sie sind nicht verbindlich.
Erst wenn DIN-Normen zum Inhalt eines Vertrages werden oder der Gesetzgeber auf diese verweist, sind sie verbindlich. Normen tragen also einen hohen Grad an Flexibilität in sich, statt, wie immer wieder behauptet, starr und unflexibel zu sein. Denn auch im Normungsprozess ist das meiste nicht in Stein gemeißelt.
Niemand normt für sich allein
Auch zur Frage, wie Normen und Standards eigentlich gebildet werden, gibt es immer wieder Irrtümer. Diese entstehen bei DIN eben nicht im Alleingang und mit wenigen Akteuren im stillen Kämmerlein, sondern in offenen, transparenten Prozessen. Hierbei arbeiten Fachexpertinnen und -experten aus verschiedenen Bereichen in diversen Ausschüssen zusammen, um praxisorientierte Lösungen zu entwickeln. Ziel dabei ist, Orientierung und Sicherheit zu bieten, ohne gesetzlich verpflichtend zu sein.
Wie schon betont, sind Normen dynamisch und passen sich an aktuelle Herausforderungen an, um stets relevant zu bleiben. DIN übernimmt an dieser Stelle eine Moderatorenrolle zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen, den Vorgaben der Politik und den praktischen Umsetzungsmöglichkeiten der Baubranche, ohne selbst Inhalte vorzugeben. DIN als gemeinnütziger Verein – dafür steht das e.V. – bietet somit eine neutrale Plattform, auf der Wissen zusammenfließt und praxistaugliche Lösungen entstehen.


Normen und Standards als kollektives Ergebnis eines öffentlichen Prozesses
Normen entstehen nicht hinter verschlossenen Türen – weder bei DIN noch bei der Industrie. Normen und Standards werden im Normierungsgremium durch Fachleute aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft erarbeitet, die auch die darin beschriebenen Anforderungen festlegen.
Die Expert*innen nehmen bei Bedarf auch Bezug auf gesellschaftliche und politische Anforderungen und lassen diese in die Entwürfe einfließen. Dies betrifft zum Beispiel den Klimaschutz oder Barrierefreiheit. Der offene Prozess stellt sicher, dass alle relevanten Akteure ihre Perspektiven einbringen. Falls dann doch erforderlich, werden Normen angepasst – für bessere Umsetzbarkeit und Wirtschaftlichkeit.
Der erste Entwurf einer jeweiligen Norm wird dann online veröffentlicht und kann von Jeder und Jedem kommentiert werden.
Die mehrwöchige öffentliche Kommentierungsphase ist ein Kernelement des Normungsprozesses. In dieser Zeit können alle Interessierten – von Fachleuten bis zu Privatpersonen – Stellung nehmen. Kritik und Verbesserungsvorschläge sind dabei ausdrücklich erwünscht. Nach der Kommentierungsphase wertet der Ausschuss alle Rückmeldungen aus. Ein Ergebnis kann dabei sogar die Einstellung des Projekts sein.
So geschehen unlängst beim Norm-Entwurf DIN 94681. Die geplante Norm sollte bestimmte Standards und Normen im Wohnungsbau unter dem Aspekt der „Verkehrssicherheit in Wohngebäuden“ clustern und zusammenführen. Nach Abschluss der öffentlichen Kommentierungsphase hat der zuständige Ausschuss für den Entwurf der betreffenden Norm jedoch beschlossen, das Normungsprojekt einzustellen. Dies geschah aufgrund der eingegangenen Kommentare.
Für die weitere Bearbeitung des Themenkomplexes „Verkehrssicherheit von Wohngebäuden“ plant der Ausschuss einen Workshop mit den Einsprechern.
Das Beispiel des Norm-Entwurfs DIN 94681 macht deutlich: Normung ist eben kein starres System, sondern ein lebendiger Prozess. Und spätestens nach fünf Jahren prüft DIN jede Norm und ändert sie bei Bedarf – oder zieht sie zurück. So bleiben Normen immer auf technischer Höhe und berücksichtigen, was Gesellschaft und Wirtschaft wirklich brauchen.
Normen und Standards als Motor für Innovation und Kostensenkung oder doch eher Preistreiber beim Bauen?
Wie schon betont, können Normen eine zentrale Rolle bei der Senkung der Baukosten und der Erleichterung des Wohnungsbaus spielen. Sie bieten standardisierte Lösungen und klare Richtlinien, die Planungs- und Bauprozesse optimieren, sodass qualitativ hochwertige Bauweisen ermöglicht werden, die dann auch noch kostengünstig sind.
Änderungen in der Normung können direkt zu angestrebten Einsparungen beitragen, wenn sie in einem offenen und transparenten Dialog entstehen. Denn wie ebenfalls schon geschrieben, spiegeln Normen die aktuellen Anforderungen und Bedarfe der Gesellschaft wider und stellen den aktuellen Stand der Technik dar. Dabei fördern sie Innovationen und bieten standardisierte Lösungen und klare Richtlinien. Damit können sie dazu beitragen, dass Planungs- und Bauprozesse optimiert und Innovationspotenziale erschlossen werden können. Sie bilden somit die Grundlage für Fortschritt.
Und trotzdem: Es sind die Normen und Standards, die in der Öffentlichkeit unter dem Generalverdacht stehen, die Misere im Baubereich zu verschulden. Und auch wenn laut Aussage von Expertinnen und Experten der Branche eher die Baukosten die wahren Urheber für schleppendes Bauen, insbesondere im sozialen Wohnungsbau sind, so DIN nimmt diese Einschätzung sehr ernst. Denn sie zeigt, dass eine breite Diskussion erforderlich ist, um Anforderungen so zu gestalten, dass Sicherheit, Qualität, Klimaschutz und gesellschaftliche Anforderungen an attraktiven Wohnraum mit der Wirtschaftlichkeit beim Bauen in Einklang stehen.


DIN hat darum eine Reihe von Schritten zu einer Reform der Normungsprozesse im Bauwesen eingeleitet:
Die Folgekostenabschätzung – Brauch ich das, oder kann das weg?
So führte DIN anfangs des Jahres eine Folgekostenabschätzung für Baunormen ein. Dies ist das Ergebnis einer gemeinsamen Initiative zwischen dem Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) und DIN, um die Baukosten im Wohnungsbau zu senken. Mit diesem neuen Prozess unterstützt DIN die Bestrebungen von Bund und Ländern, die Folgekosten neuer oder geänderter Normen im Geschosswohnungsbau zu begrenzen und so bezahlbaren Wohnraum zu fördern.
Künftig soll auch deutlicher erkennbar sein, ob es sich um Mindestanforderungen oder darüber hinaus gehende Anforderungen handelt. In DIN-Normen können zudem Leistungsstufen definiert werden. Ziel ist es, praxistaugliche Standards zu entwickeln, die technischen Fortschritt ermöglichen.
Bereits heute werden auf vertraglichen Vereinbarungen die rund 600 bauaufsichtlichen Normen – d.h. die Normen, auf die der Gesetzgeber direkt verweist – so erstellt, dass Mindestanforderungen deutlich von weitergehenden Anforderungen getrennt sind. Es geht darum, einfaches und kostengünstiges Bauen zu gewährleisten und gleichzeitig durch die Ausweisung weitergehender Anforderungen den Stand der Technik zu beschreiben.
Grundsätze der Arbeit – noch mehr Transparenz
Die Normungsarbeit bei DIN stützt sich auf drei wesentliche Grundsätze:
- Einer ist die breite Beteiligung aller interessierten Stakeholder. Sie ist ein wesentlicher Grund für das hohe Vertrauen in DIN-Normen. In den Ausschüssen bei DIN arbeiten die interessierten Kreise aus Wirtschaft, Wissenschaft, öffentlicher Hand sowie Verbraucher- und Arbeitsschutz gemeinsam an den Inhalten von Normen. DIN steuert den Normungsprozess als privatwirtschaftlich organisierter Projektmanager.
- Ein weiterer ist der der Grundsatz „Konsens statt Mehrheit“ Dabei wird im Gegensatz zu Mehrheitsentscheidungen bei DIN ein Konsens angestrebt, um einseitige Einflussnahme zu verhindern.
- Und der dritte Grundsatz gilt dem offenen Dialog. Dabei geht es darum, dass besonders im Baubereich die Möglichkeit besteht, dass viele unterschiedliche interessierte Akteure ihre Expertise und Perspektiven in den Prozess einbringen können. Dies wird deutlich durch die Online-Veröffentlichung eines jeden Normenentwurfs, der dann ganz öffentlich diskutiert und von Jedermann und Jederfrau kommentiert werden kann.
Um den Wunsch verschiedener Stakeholder nach noch mehr Transparenz bezüglich der Zusammensetzung der Gremien und Ausschüsse nachzukommen und die Akzeptanz der Normung weiter zu stärken, wird DIN die Darstellung der Ausschüsse zukünftig nachvollziehbarer gestalten, zunächst durch die Nennung der Zusammensetzung der Ausschüsse nach Branchen.
Zusammenfassend lässt sich sagen: DIN ist die Plattform für einen offenen Dialog, in dem alle relevanten Stimmen Gehör finden. Normungsarbeit ist nicht nur für die Industrie da, sondern für die gesamte Gesellschaft. Die Ergebnisse sind anerkannte Normen, die nicht nur Qualität und Effizienz sichern, sondern auch das Vertrauen in Prozesse, Produkte und Technologien stärken und den internationalen Handel erleichtern.
Daniel Schmidt
Daniel Schmidt ist Mitglied des Vorstandes des Deutschen Instituts für Normung e. V. (DIN). Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre in Chemnitz war er für viele Jahre als Steuerberater für PriceWaterhouse¬Coopers AG tätig. Ab 2006 trug er die Verantwortung in verschiedenen Führungspositionen im Finanz- und Rechnungswesen bei der Überlandwerk Fulda AG in Fulda. Als Wirtschaftsprüfer leitete er anschließend wechselnde Teams bei der KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Berlin. 2010 wechselte er zunächst als Führungskraft im Rechnungswesen zu DIN. Im Januar 2014 berief ihn der Vorstand zum Mitglied der Geschäftsleitung Finanzen und Controlling. Seit September 2020 ist er Mitglied des Vorstandes.