Wohnen und Pflege neu denken

Mit neuen Pflegekonzepten und ihrer räumlichen Organisation befasste sich die Forschungsgruppe Space Anatomy an der Fakultät für Architektur und Raumplanung an der TU Wien. Längst geht es um viel mehr als Gebäude- und Grundrisstypen.
JUDITH M. LEHNER

Die Organisation der wohnungsbezogenen Pflege in städtischen Quartieren und im ländlichen Raum sowie der Pflege in institutionellen Einrichtungen ist eine drängende gesellschaftliche Herausforderung. Die Notwendigkeit, Gesundheits- und soziale Infrastrukturen an der Schnittstelle von deren Planung, Architektur und Sorge-Praktiken neu zu denken, erfordert zunächst eine transdisziplinäre Vernetzung, die weit über Diskussionen zu Gebäudetypologien hinausgeht.

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Was bedeutet Alter und Altern für den Gestaltungsprozess von gebauter Umwelt? In Planung und Architektur werden Fragen nach verschiedenen Perspektiven zum Alter und zum Prozess des Alterns oft nur unzureichend gestellt. Soziale Infrastrukturen wie Senior:innen- und Pflegeheime, Geriatriezentren oder barrierefreie Wohnanlagen für betreutes Wohnen orientieren sich vielfach an funktionalen oder chronologischen Alterszuschreibungen.

Mitdafinerhus 
Nach jahrzehntelanger Nutzung als Ferienheim wurde das typische Rheintaler Bauernhaus im Ortskern von Dafins wegen feuerpolizeilicher Mängel zum Leerstand. Eine lokale Bürger:inneninitiative hatte die Idee, das Haus für Betreutes Wohnen umzubauen. Man investierte selbst und erfand das Mitdafinerhus – das Haus, das mit den Dafinser:innen lebt. (Architektur: Marte Marte Architekten). Die Eigentümergesellschaft vermietet das Haus an den Betreiber, das Sozialzentrum der acht Gemeinden umfassenden Region Vorderland. Dieser vermietet die elf Einheiten mit je 42 Quadratmetern an die einzelnen Bewohner:innen.

Der demografische Wandel, und damit einhergehend auch eine höhere Lebenserwartung der Menschen, führt auch dazu, dass Lebensentwürfe im Alter ausdifferenzierter und vielfältiger sichtbar sind. Daraus ergeben sich für die Planung wesentliche unterschiedliche Bedürfnislagen, die es zu berücksichtigen gilt. In der Planungspraxis fokussieren Akteur:innen oft isoliert auf die barrierefreie, alternsgerechte Gestaltung eines Segments des Wohnumfelds – vielfach am Defizit der Bewohner:innen orientiert – und vergessen, die Schnittstellen zwischen öffentlichem Raum, privatem Wohnraum und sozialer Infrastruktur als Quartier adäquat in den Blick zu nehmen.

Kulturelles Konstrukt

Wo Akteur:innen der Planung und Architektur der Forderung nach alternsgerechten Städten und Regionen ausgesetzt sind, können sowohl Erkenntnisse der Alternsforschung als auch Wissensformen älterer Menschen, die bereits Projekte initiieren und die Verhältnisse vor Ort kennen, Möglichkeiten für eine Perspektivenerweiterung und schlussendlich transdisziplinäre Herangehensweisen zur Thematik aufzeigen.

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Während in Planung und Architektur oft ein chronologisches Alter als Orientierung zur Entwicklung von Lösungs- und Gestaltungsansätzen herangezogen wird, arbeitet die aktuelle Alternsforschung mit verschiedenen Altersbegriffen. Altern wird hier als körperlicher Prozess und Zustand beschrieben, als entwicklungspsychologischer Vorgang, als soziale Konstruktion oder auch als kulturelles Konstrukt. Wesentlich ist die Sichtweise des Alterns als Prozess und das Verstehen, dass innerhalb derselben Altersgruppe körperliche und geistige Möglichkeiten unterschiedlich sind.

Auch erscheint es wesentlich, Fragen zu Machtbeziehungen, Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit im Rahmen der Vielfältigkeit rund um den Alternsprozess zu reflektieren. Wie sehen Handlungs- und Entscheidungsspielräume beziehungsweise Teilhabe von welchen Akteuren im Entstehungsprozess sowie im Gebrauch von Gesundheits- und sozialen Infrastrukturen und alternsgerechten Wohnräumen aus?

Komplexes Gefüge

Wir alle erhalten und leisten Praktiken der Sorge und Pflege in verschiedenen Phasen unseres Lebens jenseits des Gesundheits-, Kinder- und Altenbetreuungssektors. Diese Sichtweise eröffnet den Blick auf innovative Projekte alternsgerechten Wohnens und deren sorgetragenden Initiator:innen jenseits von architektonischen Typologien. Anhand solcher Projekte und ihrer baulichen Umsetzung werden nicht nur die komplexen Verflechtungen von Sorge-Praktiken sichtbar, sondern auch die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen Alltagspraktiken von älteren Menschen und der gebauten Umwelt.

In interdisziplinären Talks wurden Schnittstellen zwischen der planerischen Praxis, den Institutionen und der Alltagspraxis rund um das Thema Altern und Infrastrukturen beleuchtet:

Wie unterscheiden sich Formen der Pflege in städtischen Quartieren und in ländlichen Gebieten? Wie gestaltet sich der Bezug von alternsgerechten sozialen und Gesundheitsinfrastrukturen zur Umgebung und zum öffentlichen Raum? Was sind die Möglichkeiten und Grenzen der derzeitigen Typologien von Alters- und Pflegeheimen? Und wo liegen die Unterschiede zwischen Wohnen im Heim und Pflege in der Wohnung? Was benötigen innovative Beispiele des betreubaren Wohnens und der alternsgerechten Quartiere, um replizierbar zu werden? Wie sehen die Schnittstellen zwischen Pflegeeinrichtungen, Gesundheitsinfrastrukturen und der unmittelbaren gebauten Umgebung aus? Welche Aspekte müssen in der Planungspraxis für den Alltag beachtet werden?

Aspekte für die zukünftig notwendige Auseinandersetzung zu Gesundheits- und sozialen Infrastrukturen des Alterns ließen sich im Talk in drei Themenbereiche zusammenfassen: „Das Spiel mit Zahlen und die Maßstäblichkeit des Alltags“, „Vielfältigkeit und neue Modelle zum Wohnen im Alter“, „Die Unsichtbarkeit des Pflegeaspekts und die Gebrauchsperspektive im Entwurf“.

Innerhalb der Themenbereiche finden sich so unterschiedliche Aspekte wie die Notwendigkeit für das sorgsame Entwerfen von im Alltag essenziellen Details, die Abkehr von einer Defizitorientierung des Alterns oder auch das Erlernen von Gemeinschaft im Alter. Die Titel verdeutlichen, wie eng verwoben planerische Herangehensweisen, alltägliche Gebrauchsanforderungen und die bauliche Umsetzung sind – und welche Widersprüche sich aus der komplexen Verwobenheit ergeben.

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