Zivilgesellschaft und Umbaukultur

Das Projekt „Nachbarschaft Samtweberei“ in Krefeld kombiniert die Revitalisierung einer denkmalgeschützten Textilfabrik mit der gezielten Förderung von gemeinwohlorientierter Stadtteilentwicklung. Hier hat die „Montag Stiftung Urbane Räume“ die Entwicklung initiiert, wissenschaftlich begleitet und einen bemerkenswerten Umbauprozess realisiert.
ANNA JÄGER und JULIA FRÖHLICH, wohnlabor

„Ein Viertel auf der Kippe“, lautete 2013 noch das Ergebnis der Bewohnerbefragung in der Krefelder Südweststadt, Deutschland. Armut, Bildungsdefizite, Leerstände und schwierige Lebensverhältnisse zählten zu den Kennzeichen des Stadtteils, in dem rund 6.800 Menschen leben. Gleichzeitig engagierten sich eine Vielzahl an Initiativen, Vereine und Institutionen für ein vielfältiges Stadtteilleben. In zentraler Lage befindet sich die alte Samtweberei, sie wurde 2014 von der Montag Stiftung Urbane Räume im Erbbaurecht als Pilotprojekt zur innovativen Stadterneuerung übernommen.

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Dass die gelingende Revitalisierung von Bestand möglicherweise nicht bloß neue Planungsstrategien, sondern auch eine neue Bestellerkultur verlangt, scheint der Prozess rund um die Samtweberei aufzuzeigen. Anstatt der Substanz ein fertiges Raumprogramm überzustülpen, wird ein anderer Zugang gewählt: Die Suche nach dem passenden Projekt für den Ort. „Welche Bedürfnisse bestehen in der Umgebung? Welche architektonischen und räumlichen Qualitäten zeichnen den Bestand aus? Welche Nutzungen passen in die Bauten?“ – das waren zentrale Fragen des Prozesses, die nicht nur das Quartier in ein einzigartiges und bedarfsgerechtes Projekt verwandelten, sondern auch eine sensible Umbaukultur skizzieren.

Für die unterschiedlichen Baukörper der alten Samtweberei – Shedhalle, Denkmal, Pionierhaus und Torhaus – mit insgesamt etwa 4.500 Quadratmeter Nutzfläche wurde ein Nutzungskonzept aus Wohnen, Arbeiten und verschiedenen öffentlichen Räumen mit Stadtteilbewohnern erarbeitet. Die Realisierung des Pilotprojekts erfolgte Schritt für Schritt, der erste Baustein war die Inbetriebnahme des Pionierhauses im Herbst 2014. Bis 2019 erfolgte die Baufertigstellung aller Bausteine.

Pionierhaus im Selbstbau

Im Verwaltungsgebäude der Samtweberei aus den 1960er-Jahren wird heute entworfen, beraten, gestaltet, organisiert und gewirtschaftet. Da eine vollständige Sanierung zu aufwendig erschien, war eine schnelle Wiederinbetriebnahme des Gebäudes durch sogenannte „Pioniere“ das Ziel. Die Instandsetzung beschränkte sich auf Allgemeinflächen und Gebäudetechnik, die Büro- und Arbeitsräume wurden im Rohbau zum Selbstausbau übergeben. Die architektonische Aneignung durch die Nutzer zeigt sich in den vielfältig gestalteten Räumlichkeiten des Pionierhauses. Fünf Stockwerke voller Leben: mit Gestaltern und Tüftlerinnen, mit Geschäftsleuten und Kulturschaffenden. Die Pioniere mieten zum reduzierten Mietzins von 6,00 Euro pro Quadratmeter und verpflichten sich damit, ehrenamtlich am Projekt „ViertelStunden“ teilzunehmen.

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Der denkmalgeschützte Gebäudeteil der Samtweberei bietet heute Platz für 37 Mietwohnungen unterschiedlicher Größe für verschiedenste Wohnformen. Ein Drittel der Wohnungen ist öffentlich gefördert. Der Umbau zeichnet sich durch sensible Eingriffe in die Bestandsstruktur aus. Hohe Räume, große Fenster sowie der Charme der historischen Fabrikmauern erzeugen eine besondere Wohnqualität. Hofseitig wurde das Gebäude um eine Laubengangstruktur erweitert. Diese ermöglicht einerseits die Erschließung kleinerer Wohneinheiten, andererseits erweitert sie die Wohnflächen um private und geteilte Freiflächen wie die Gemeinschaftsterrasse.

Neben der baulichen Entwicklung haben auch viele soziale Prozesse stattgefunden, die eine Stärkung der Nachbarschaft erzielen konnten. Foto: Marcel Rotzinger-Damm

Einfache Instandsetzung

Im Innenhof war zunächst der Abbruch der einstigen Produktionshallen mit den charakteristischen Sheddächern geplant, sie sollten einem grünen Nachbarschaftsgarten weichen. Im gemeinschaftlichen Planungsprozess mit den Stadtteilbewohnern zeigte sich aber der Bedarf nach einem „großen Möglichkeitsraum für Projekte und Aktivitäten in der Nachbarschaft“. So erfolgte eine einfache Instandsetzung der Halle, lediglich barrierefreie Zugänge, ein Gemeinschaftsgarten und ein Sportfeld wurden ergänzt. Der Mehrwert zeigt sich hier in der vielfältigen Nutzung, je nach Bedarf ist der Raum Selbstbauwerkstatt, Spielplatz oder gemeinsamer Festplatz.

Grundstein der Entwicklung durch die Montag Stiftung Urbane Räume ist die Idee des „Initialkapital-Prinzip“. Ziel ist es, Menschen in Stadtteilen mit besonderen ökonomischen und sozialen Herausforderungen in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Durch Investitionen in eine geeignete Immobilie soll ein spürbarer Impuls vor Ort gesetzt werden. So kann die Basis für ein sozial gemischtes Viertel mit Teilhabemöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen geschaffen werden.

Nachbarschaft Samtweberei 
- Grundstücksfläche: 6.700 m², Erbbaurechtsvertrag mit Stadt Krefeld über 60 Jahre
- Nutzfläche: 4.700 m² in den Gebäuden, 3.000 m² Shedhalle
- 37 Wohnungen, davon 1/3 öffentlich gefördert; 27 Büro- und Gewerbeeinheiten; Gemeinschaftsräume für die Nachbarschaft: Nachbarschaftszimmer (180 m²), Shedhalle (3.000 m²)
- Projektentwicklung: Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH in Kooperation mit der Montag Stiftung Urbane Räume gAG
- Planung: Böll Architekten (Umbau Pionierhaus, Torhaus, Wohnen im Denkmal), Strauß | Fischer Historische Bauwerke GbR (Sanierung Shedhalle)
- Freiraumplanung Innenbereich/Hof: Elke Lorenz

Die Entwicklung der alten Samtweberei erfolgte im Erbbaurecht. Dieses wurde von der Stadt Krefeld an die Stiftung übertragen mit der Verpflichtung, innerhalb von vier Jahren mindestens 70 Prozent des Gebäudebestands zu sanieren. Zudem wurde im Vertrag festgehalten, dass die Stadt auf die Erhebung des Erbbauzinses verzichtet, solange das Projekt gemeinnützig bleibt. Die Gewinne aus der Immobilienwirtschaft werden für die Stadtteilarbeit verwendet, so wurden beispielsweise nutzungsoffene Räume wie ein Nachbarschaftszimmer finanziert.

Es war von Beginn an geplant, dass die Projektarbeit nach Abschluss der Baumaßnahmen von der Montag Stiftung Urbane Räume an einen lokalen Träger übergeben wird. Daraus entstand die Idee, eine Stiftung in der Nachbarschaft zu gründen, damit die Menschen, die sich für den Stadtteil engagieren, die Zukunft dessen eigenständig gestalten können. Heute koordiniert die NachbarschaftStiftung Samtweberviertel Krefeld das Projekt, auf ihrer Website heißt es: „Wenn sich viele engagieren, kann Außergewöhnliches entstehen. Genau das wurde mit dem Projekt ‚Alte Samtweberei‘ gezeigt.“

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