Lernen von Le Lignon

Die von 1962 bis 1971 errichtete Wohnhausanlage Le Lignon in Genf zählt zu den größten Wohnbauten Europas – und musste dringend thermisch saniert werden. Der radikale strukturelle Ansatz in enger Zusammenarbeit mit der Universität und die Erstellung eines Bauteilkatalogs sind beispielhaft.
WOJCIECH CZAJA

„Ich wohne hier nun seit 20 Jahren“, sagt Gerth Sauter, Barkeeper aus Zimbabwe, Stiege 5, „und im Winter gab es immer Probleme. Jetzt hat sich die Situation deutlich gebessert.“ Tristan Schultes, 23-jähriger Chemiestudent, Stiege 16, meint, „dass man dem Haus deutlich ansieht, dass in den 60er-Jahren die räumliche Konzeption und die architektonische Komposition wichtiger waren als bauphysikalische und haustechnische Aspekte. Doch das hat sich nun geändert. Das Raumklima ist angenehm.“

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Und Carine Bloch, vollbepackt mit Einkaufstaschen und zwei Kindern im Schlepptau, am Weg nach Hause, Stiege 22, ist erst kurz nach der Sanierung eingezogen: „Mit dem Umbau ist das Projekt auf die mentale Landkarte dieser Stadt gekommen. Viele Architekten, Designer, Ingenieure, Künstler und Politiker ziehen hierher, weil sie das Gefühl der Stadt in der Stadt so schätzen. Es ist wieder chic, hier zu wohnen.“

Die XXL-Wohnhausanlage Le Lignon am westlichen Stadtrand von Genf, das einzige Haus in der Schweiz mit einer eigenen Postleitzahl, ist ein interdisziplinäres und auch interinstitutionelles Musterbeispiel für Bestandsanierung am lebenden Patienten. Mit 84 Stiegen und einst 3.000 Wohnungen, die im Laufe der Jahre zu 2.700 Wohnungen zusammengelegt wurden, ist Le Lignon, errichtet in den Jahren 1962 bis 1971 nach Plänen von Georges Addor, Louis Payot, Jacques Bolliger und Dominique Julliard, auch heute noch eines der größten Wohnhäuser Europas.

Denkmalschutz als Chance

Und auch eines der außergewöhnlichsten. Mit dem hexagonalen Grundriss, der scheinbar bildhauerisch geschnitzten Topografie des Grundstücks und der nach wie vor original erhaltenen Curtain-Wall-Fassade erkannten die Behörden den Wert der Anlage – und stellten die über ein Kilometer lange, mehrfach geknickte Wohnschlange 2009 unter Denkmalschutz. Es war das erste Mal, dass ein so großes Bauwerk der Nachkriegsmoderne in der Schweiz gesetzlich geschützt wurde.

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„Es war klar, dass in Le Lignon dringende Sanierungsarbeiten anstehen“, sagt Stephan Gratzer, Projektleiter und Partner im Genfer Architekturbüro Jaccaud + Associés, „und die Unterschutzstellung war die einzige Chance zu verhindern, dass dieser Sanierungsbedarf mit einer großflächigen Verfremdung oder gar Zerstörung der Bausubstanz einhergeht.“ Mit diesem Kniff war es möglich, das einzigartige Erscheinungsbild und die charakteristische Fassade mit ihren dunkelgrauen Gläsern, ihren kantigen Aluminium-Einfassungen und ihren Loggien aus warmem Zedern- und Mahagoniholz zu schützen. Ja, sogar die bunten Stoffrollos in Gelb, Orange, Flaschengrün und Taubenblau in den Fenstern wurden als charakteristisch und somit erhaltenswert eingestuft.

Analyse der Bauteile

Als Nächstes wurde das Institut für Technik und Schutz der modernen Architektur, Techniques et sauvegarde de l’architecture moderne, TSAM, der École Polytechnique Fédérale de Lausanne, EPFL, beauftragt, mit ihren Studierenden die einzelnen Bauteile zu analysieren und einen detaillierten Sanierungskatalog zu entwickeln. Schließlich galt es, das Haus Stiege für Stiege bei laufendem Betrieb und ohne Baugerüst zu sanieren – und zwar so, dass der Unterschied zwischen den sanierten und unsanierten Fassaden möglichst wenig in Erscheinung tritt.

Le Lignon
- Studie: Techniques et sauvegarde de l’architecture moderne (TSAM) 
- Planung: Jaccaud + Associés 
- Bauherren: Anlagestiftung Pensimo, Bellerive Immobilien, Comité Central Du Lignon, Immobilien Anlagestiftung Turidomus, Imoka Immobilien Anlagestiftung, La Fondation HBM Camille Martin, La Rente Immobilière, Marconi Investment 
- Gemittelter Gesamt- U-Wert: 0,62 W/m²K

„Die Schwierigkeit in Le Lignon ist, dass die 84 Stiegen verschiedenen Bauträgern und Hausverwaltern gehören“, erklärt Gratzer. „Das Bauwerk muss trotz aller Veränderungen und unabhängig vom jeweiligen Sanierungsfortschritt dennoch wie aus einem Guss erscheinen.“ Der Eigentümermix umfasst neun unterschiedliche Bauträger, Betreiber, Eigentümer und Genossenschaften, wobei die meisten Stiegen der Zürcher Anlagestiftung Pensimo, der Marconi Investment SA und der Pensionskasse BVK gehören. Die Genfer Sozialwohnungsstiftungen, denen der nördliche Teil der Anlage gehört, haben sich dem Projekt bislang nicht angeschlossen.

Penibel laut Handbuch

Um die Logistik zu vereinfachen und die Amtswege zu beschleunigen, musste für das gesamte Sanierungsprojekt in Absprache mit der Baubehörde lediglich um eine einzige Rahmenbaubewilligung angesucht werden – ein absolutes Novum auf diesem Gebiet. Darüber hinaus hat das Büro Jaccaud + Associés auf Basis der Analyse und des Bauteilkatalogs der EPFL eine Art Handbuch mit einigen hundert technischen Leitdetails entwickelt. Darin sind nicht nur potenzielle Dämm-Maßnahmen und Sanierungsanleitungen für die unterschiedlichen Bauteile enthalten, sondern beispielsweise auch Arbeitsschritte, Materialbeispiele und Produktsammlungen für die neuen zweiglasigen Loggienfenster, die aufgrund des engen Stiegenhauses in zwei Teilen produziert und mit einem Kämpfer in zwei Meter Höhe ausgeführt werden mussten.

„Le Lignon ist trotz seiner räumlichen Qualitäten eine starre, rigide Stahlbeton-Matrix mit wenig baulicher Flexibilität“, sagt Gratzer. „Daher mussten sich die Generalunternehmer und Handwerker dazu verpflichten, sich penibel an das Handbuch zu halten. Vor allem bei der Wärmeisolierung musste sehr effizient gearbeitet werden.“ Die Decken und Parapete wurden mit Glaswolle gedämmt, auf den Laubengängen kamen sogenannte Aerogel- Kügelchen zum Einsatz, unter den Terrassen und Laubengängen wurden, umum wertvolle Höhe zu sparen, Vakuum- Dämmplatten verlegt. „Nicht gerade billig, aber es funktioniert.“

Radikaler Stadtumbau

Die größte Qualität dieses Projekts – das unter anderem bereits mit dem European Heritage Nostra Award ausgezeichnet wurde – ist die Subtilität und Suffizienz in den baulichen Maßnahmen. Wo Bauteile repariert oder ersetzt werden mussten, kamen Materialien zum Einsatz, die auch in den 1960er- Jahren schon üblich waren: Linoleum, Aluminium, dunkle Holzfurniere. Andernorts wurden lediglich punktuelle Reparaturen durchgeführt – etwa im Bereich der Wohnungsheizkörper, der teils beschädigten Trani-Steinbodenplatten und der Holzuntersichten in den Loggien sowie auf den Laubengängen.

Oder, wie Gratzer dies ausdrückt: „Das Ziel war ja nicht, das Haus zu Tode zu sanieren, sondern es bei Wahrung seines Charakters thermisch fit zu machen.“ Mit Erfolg: Bei den meisten Bewohnern haben sich die Heizkosten durch die Sanierung halbiert. Damit sind die Werte sogar besser als in den Simulationen errechnet wurde.

Zurückhaltende Sanierung unter Wahrung des Charakters des Gebäudes. Foto: Joel Tettamanti

Auch in Österreich steht uns mit der rechtlich verankerten Dekarbonisierung bis 2040 ein radikaler Stadtumbau bevor, der in seinen sozialen, ökonomischen und stadtplanerischen Ausmaßen mit der Gründerzeit, ja vielleicht sogar mit dem Bau der Wiener Ringstraße zu vergleichen ist. Zehntausende Wohnhäuser, die in den Nachkriegsjahren errichtet wurden und die schlecht gedämmt und an fossile Energieträger gebunden sind, müssen zukunftsfit gemacht werden. Ohne standardisierten Katalog, ohne kollektiven Rückhalt aus Politik, Forschung und Bauindustrie und ohne die große Vision, die in Le Lignon spürbar ist, wird das nicht gehen.

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