Mit der Corona-Pandemie wuchs die Hilfsbereitschaft, neue Ideen wurden unbürokratischer realisiert, Unterstützungsnetzwerke rascher aufgebaut. Aber es mehrten sich Nachbarschaftskonflikte, Existenzsorgen und psychische Probleme. Das Institut für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen, IFSAR- FHS, analysierte die Situation.
CAROLINE HAAG, NICOLA HILTI,
IFSAR-FHS, von unserem Schweizer Partnermagazin Wohnen.
Die Corona-Pandemie hat unser Leben radikal verändert, zumindest vorläufig. In nahezu allen Lebensbereichen müssen wir uns mit großer Geschwindigkeit auf neue Situationen einstellen, nicht zuletzt in unserer Arbeit. Dies gilt auch für Fachleute, die mit Nachbarschaften arbeiten – so wie Katharina Barandun, Sozialarbeiterin bei der Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (BEP) in Zürich.
Sie begleitet, berät und unterstützt die Menschen in den Siedlungen. Dabei stellte sie fest: „Ich muss derzeit viel mehr Streit schlichten, beobachte aber auch ganz viel Hilfe und Unterstützung in den Nachbarschaften.“
Mit dieser Beobachtung ist Katharina Barandun nicht allein unter den Fachleuten, die sich professionell um das nachbarschaftliche Zusammenleben in Genossenschaften, Quartieren oder Gemeinden kümmern. Dies zeigen 13 Interviews, die Forscher des Instituts für Soziale Arbeit und Räume der FHS St. Gallen im April 2020 geführt haben. Sie wollten wissen: Was bedeutet die Corona-Pandemie für die nachbarschaftsorientierte Arbeit?
Zuvor schon hatten sie sich im Rahmen des Projekts „Nachbarschaften als Beruf“ mit diesem Berufsfeld beschäftigt und beschrieben, wie nachbarschaftsorientierte Stellen konzipiert und entwickelt werden können. Mitgewirkt hatten unter anderem Fachleute der Baugenossenschaften ABZ, Freiblick, Gaiwo, Gesewo, mehr als wohnen, Glattal, BEP und Littau.
Vieles neu erfinden
Die Corona-Pandemie hat die Arbeit der Nachbarschaftsprofis tatsächlich gehörig durcheinandergebracht, wie eine erste Auswertung der Interviews zeigt. Es scheint, als wankten sämtliche Grundpfeiler, an denen ihre Arbeit ausgerichtet ist.
Dabei gibt es sowohl neue Herausforderungen als auch neue Chancen: Im Zusammenleben der Menschen vor Ort zeigen sich viele neue und kreative Ansätze. René Fuhrimann, Leiter Fachbereich Zusammenleben bei der Baugenossenschaft Glattal, erzählt:
„Bei uns ist vieles in Selbstorganisation entstanden. Eltern haben die Nutzung des Spielplatzes via WhatsApp-Chat organisiert. Eine Gruppe hat ein Programm für den ‹Tag der Nachbarn› auf die Beine gestellt, das wohnen auf Distanz über die Balkone hinweg funktioniert. Und Familien haben T-Shirts gestaltet und diese auf einer Schnur quer durch die Siedlung aufgehängt, um einander zum Durchhalten zu motivieren.“
Hinzu kommt all die Hilfe, die Nachbarn einander im Alltag nun leisten – der junge Mann, der für die ältere Nachbarin einkaufen geht; das Paar, das besonders darauf achtet, wie es dem alleinstehenden Mann nebenan geht; die Familie, die sich zeitweise um die kleinen Kinder der alleinerziehenden berufstätigen Nachbarin kümmert.
In der Arbeit mit den Menschen vor Ort zeigt sich, dass sich vorhandene Strukturen und Beziehungen jetzt ausbezahlen: Je mehr diese schon etabliert sind, umso eher tragen sie auch in der Not und begünstigen beispielsweise ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe. Zugleich nehmen durch die ökonomische Krise prekäre Lebenslagen zu, die mancherorts dazu führen, dass die Menschen ihre Mieten nicht mehr bezahlen können…