Modernes Bauen mit Lehm

Modernes Bauen mit Lehm: Wie „altmodisch“ auf einmal „cool“ wird

Von Werner Kiwitt

„Echt krass – und das hält sogar in unserem Klima?“ Der Student aus Berlin ist völlig begeistert von seiner neuen Entdeckung beim Rundgang durch das Zentrum für nachhaltige Entwicklung, artefact in Glücksburg, dann kommen wieder Zweifel: „Aber wenn Alle so bauen würden, dann würde der Lehm doch sicher auch bald knapp?“

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Nein, der neben Holz älteste Baustoff der Welt dürfte selbst bei nur einmaliger Verwendung auch noch in Jahrtausenden in jedem Land der Welt reichlich vorhanden sein, denn wo Menschen Häuser und Städte gebaut haben, gibt es auch Lehm, denn sonst hätten sie dort ja nicht gebaut: die Mischung aus Schluff, Sand und Ton – so bezeichnet man die unterschiedlichen Partikelgrößen im Lehm – ermöglichte erst das Bauen langlebiger Häuser, die nicht irgendwann von Termiten, Holzwürmern und anderen Zellulose-Freunden angegriffen werden können.

In Deutschland stehen 200 Jahre alte fünfstöckige Gebäude, im trockeneren Klima des Jemen sind die ältesten Gebäude 1000 Jahre alt und bis zu 10 Stockwerke hoch. Aus alten Lehmwänden können zudem neue Steine hergestellt werden, solange der Lehm nicht zum Backstein gebrannt wird: der Ziegel ist dadurch auch in der ungeschützten Außenwand wetterfest, benötigt aber die zwanzigfache Prozessenergie für die Herstellung im Vergleich zum ungebrannten Stein – ein Vorteil, den sich seit dem Mittelalter immer mehr Städter leisten konnten, solange die Ressourcen Holz und Torf verfügbar und günstig waren. Der ungebrannte Lehm hingegen galt zunehmend als zweite Wahl und „Arme-Leute-Baustoff“, da er nicht ganz so hart ist und sorgfältig gegen Außenfeuchtigkeit geschützt werden muss.

Außerdem störten jahreszeitliche Einschränkungen und längere Trocknungszeiten in der Vorproduktion beim Schritt zur industriellen und immer internationaleren Massenherstellung.

Die regionale Verfügbarkeit des Baustoffs Lehm wurde in Zeiten von Lockdowns und Lieferkettenengpässen jedoch zu einem Standortvorteil. Steigende Energie- und CO2-Preise treffen die Lehmbaustoff-Anbieter nicht in dem Maße wie Ziegel- und Zementindustrie.

Das Tagungs- und Gästehaus des Glücksburger Zentrums für nachhaltige Entwicklung, artefact, integriert schleswig-holsteinische und internationale Architektur-Elemente: Mit Speicherhausfassaden nach Norden, Solararchitektur mit tonnenförmigen nubischen Gewölben und begrünten Lehmkuppeln mit Dachfenstern auf der Südseite verknüpfte der Architekt Günter zur Nieden die kulturellen Erfahrungen zurückgekehrter „Entwicklungshelfer“. Indische Fachleute lernten deutsche Handwerker an. Etwa 80 Prozent des Gebäudes ist aus lokalem Lehm gebaut, im Fussboden ersetzen 100.000 verkratzte, aber heile Mehrwegflaschen 20 Zentimeter Massivbeton, der Dachstuhl wurde mit getrocknetem Seegras gedämmt. Mehrere der damals „verrückten“ Ideen wurden inzwischen von start ups weitentwickelt. Aktuelle Innovationen im Gästehaus sind neue Lehm-Wandheizungen und 800 kleine Solarpfannen auf dem runden Kegeldach des Hauptgebäudes, die im Sommerhalbjahr das Hauptgebäude fast energieautark mit Strom versorgen.

Gut fürs Raumklima

„Lange nicht mehr so gut durchgeschlafen!“ grüßen die Urlauber beim Frühstück im zu 80 Prozent aus Lehm gebauten Gästehaus. „Und das Zimmer kühlte nachts nicht so stark aus.“

Dass der Arme-Leute-Baustoff in den Wirtschaftswachstumsjahren nicht völlig verschwand, verdankt er den Klimatisierungseffekten im Innenraum: Lehmwände speichern nachweislich Temperatur und Feuchtigkeit über längere Zeiten, die Luftfeuchtigkeit von meist 60 Prozent ist nicht nur bei Asthma und Bronchitis angenehm. Als besonders ökologischer Baustoff fristete der Lehm gleich-wohl ein Nischendasein. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs forcierte die Arbeitsgemeinschaft für Zeitgemäßes Bauen noch das preiswerte Schaffen von Wohnraum für hunderttausende Flüchtlinge in Schleswig-Holstein, doch die private Nachfrage kam fast zum Erliegen.

Erst in den Achtziger Jahren wurden in Deutschland erste Selbstbauprojekte initiiert. Internationales Know-how über klimaangepassten Lehmbau floss in den Bau des Tagungs- und Gästehauses des „appropriate rural technologies Flensburg alternative cooperation team“, kurz artefact, das von auslandserfahrenen ehemaligen Entwicklungshelfern und indischen Fachleuten in Glücksburg an der deutsch-dänischen Grenze errichtet wurde. Die erste Exkursion des neu gegründeten Dachverband Lehm führte vom Museumsdorf Molfsee 1993 auf die Baustelle, wo versucht wurde, uralte altsudanesische Bauweisen an norddeutsche Klimabedingungen und betriebswirtschaftliche Zwänge anzupassen.

Weiterbildung zur „Fachkraft Lehmbau“

„Können Sie mir eine erfahrene Lehmbaufirma im Raum Hamburg empfehlen?“ fragt der Anrufer aus Norderstedt im artefact-Büro an. Es hat sich herumgesprochen, dass dort bereits der zweite Weiterbildungskurs für Bauhandwerk und Planungsbüros zur „Fachkraft Lehmbau“ stattfindet: Architektinnen, Zimmerleute, doch auch Steinmetze und Maler nahmen am ersten dreiwöchigen Kurs teil und bestanden die Abschlussprüfung der Handwerkskammer Flensburg.

Zu den intensiven Theorie- und Praxis-Einheiten gehören dabei nicht allein historische Techniken wie Strohwickellehm, Fachwerk mit Weidengeflecht und Nasslehmstein-Mauern, sondern auch Lehmfaser-Platten und moderne Spritzputztechniken. Besonders nachgefragt bei Bauherr*innen ist die Lehm-integrierte Wandheizung in Verbindung mit einer Wärmepumpe. Die Anbieter kommen derzeit kaum hinterher mit der Produktion – und der Suche nach qualifizierten Handwerkern. Mehrere hundert Lehmbau-Profis hat der Dachverband Lehm in Kooperation mit Partnern in Biberach, Koblenz und anderen Standorten in 15 Jahren geschult, doch das Interesse an dem früher als altmodisch angesehenen Baustoff wächst immer mehr.

Hochschulen arbeiten längst an Konzepten für Geschosswohnungsbau und Innenstadtverdichtung mit Lehmbautechniken, denn es wird immer offensichtlicher, dass Sand und Zement bei weiterer Verknappung und CO2-Besteuerung weit kritischere Materialien sind als der klima- und recyclingfreundliche Lehm. Dass der auch für die Gesundheit der Hausbewohner wie der verarbeitenden Handwerker Vorteile hat, trägt zu seiner freudigen Wiederentdeckung bei.

Lehm braucht Imagewechsel

„In unseren Schulbüchern und Köpfen gilt Lehm als peinlich!“ Zivilisierte Menschen leben in Betonhäusern mit Wellblechdach, hat der Berufsschullehrer aus Sierra Leone gelernt, der zur Fortbildung nach Glücksburg gekommen ist und nun einen echten Kulturschock erlebt: statt Hightech im Skyscraper aus Stahl und Beton erwartet ihn bei artefact ein zweigeschossiges nubisches Gewölbe, wie die Wandheizung komplett in Lehm gebaut.

Diese viertausend Jahre alte Kulturtechnik vom mittleren Nil im heutigen Sudan kommt weder in afrikanischen Schulbüchern vor noch in der Ausbildung der afrikanischen Eliten in Paris, London oder Berlin. Die Renaissance und Weiterentwicklung eigenen Wissens und Wertschätzens hat in ehemaligen Kolonialländern und darüber hinaus noch einen weiten Weg vor sich. Zwar werden uralte Bauwerke aus Lehm etwa im nirischen Agadez oder iranische und marokkanische Burgen und Schlösser mit ausgeklügelten Belüftungstechniken nicht allein für die ausländischen Touristen gepflegt, aber im Neubausektor gilt Lehm vielfach noch als Indikator für Armut.

Internationale Studiengänge und Kooperationen etwa der französischen Organisation CraTerre oder zuletzt der Studierenden des Lübecker Hochschulprofessors Heiner Lippe in Ghana engagieren sich immer wieder, mit überzeugenden Lehmbauprojekten Referenzobjekte zu schaffen und damit die Akzeptanz zu erhöhen. Doch selbst auf dem Land wird fast jedes Neubaugrundstück erst einmal mit einem Erdgeschoss aus Hohlblocksteinen und Zwischendecke aus Beton in Besitz genommen, um ein oder zwei Regenzeiten später weiter nach oben zu bauen. Lehmwände hingegen müssen konsequent trocken gehalten werden.

Werner Kiwitt, Technikpädagoge und Geschäftsführer des Zentrums für nachhaltige Entwicklung, artefact, baute sein erstes Lehmhaus während eines Aufenthaltes im westafrikanischen Liberia, wo er 1985 bis 1990 im Bereich Curriculumentwicklung und Umweltbildung arbeitete. www.artefact.de

Innenausbau in Alt- und Neubauten

„Hätte ich das mal früher gewusst. Nun ist unser Haus von der Stange schon fertig.“ bedauert ein Gast nach dem Besuch des artefact Klimaparks. Doch dem Mann kann geholfen werden: Lehm ist hervorragend für den Innenausbau geeignet und kann mit bestehenden Alt- und Neubauten kombiniert werden.

Auch wenn die tragende Struktur aus Kalksand- oder Betonstein schon vorhanden ist, schließt das Zwischenwände und Innenputze nicht aus, im Gegenteil: für die Verbesserung des Wohnraumklimas sind 3-5 cm starke Putze und Platten tonangebend – und für die Energiebilanz ist ein schon gebautes und länger genutztes Betonhaus allemal besser als Abriss und Neubau. Wenn life cycle-Analysen und Energiebilanzen von Baustoffen und Gebäuden endlich in konkrete Stadtentwicklung und Bauleitplanungen einfließen, sind nachwachsende Rohstoffe und Lehm nicht nur cool für ökologisch engagierte Vordenker, sondern auch angesagt bei betriebswirtschaftlich motivierten Nachmachern.

NACHHALTIG WOHNEN UND BAUEN

Ein Themenheft von Wohnungswirtschaft heute in Kooperation mit RENN.nord. 192 Seiten, 18,90 €

Nachhaltig Wohnen und Bauen Teil 1 von 3

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