Forensik und ihre Relevanz für die Digitale Zukunft 

„In der diesjährigen Kampagne zum Europäischen Monat der Cybersicherheit tauchen wir tief in die Welt des Social Engineering ein, in der Cyberkriminelle clevere Manipulationstaktiken anwenden, um unsere Sicherheitsvorkehrungen zu durchbrechen.“ So wirbt die Europäische Union im Internet für den diesjährigen Cybersicherheitsmonat. Wenn es um das Wissen und die Werkzeuge geht, die wir benötigen, um uns vor Cyberkriminellen zu schützen, dann spielt die Digitale Forensik bei der Aufklärung von Straftaten im Cyberraum eine wichtige Rolle. 

Die mysteriöse Wissenschaft

Der Cyberraum ist keine rechtsfreie Zone, deshalb ist es wichtig, dass kriminelle Handlungen auch in Verbindung mit der virtuellen Welt aufgeklärt werden können. Dafür gibt es eine junge und spannende Disziplin: die digitale Forensik! Diese junge Wissenschaft hat ihren Ursprung in der realen (analogen) Welt:

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England, 19. September 1987, Colin Pitchfork wurde für den Mord an zwei Mädchen verhaftet. Das Besondere an diesem Fall ist, dass Pitchfork die erste Person war, die mit Hilfe eines DNA-Tests überführt wurde. Seine Spur wurde mit Hilfe einer DNA-Reihenuntersuchung gefunden. Die hier zum ersten Mal angewandte Untersuchungsmethode ist heute Standard für den Nachweis einer Personenidentität. Dieser Fortschritt hat dazu beigetragen, das Bewusstsein für die Notwendigkeit und den Wert forensischer Wissenschaften im Bereich der Kriminalermittlung zu schärfen.

Eine beträchtliche Zeit ist seitdem vergangen und die herkömmliche Forensik hat Fortschritte gemacht und gehört zum Standardwerkzeug der kriminalistischen Arbeit. Ein Blick in die jüngere Geschichte aber zeigt, wie sich mit der Digitalisierung auch die Verbrechensbekämpfung wandeln muss. So haben sich ehemals leere Briefkästen zu Online-Marktplätzen entwickelt.

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Im April/Mai 2019 wurde beispielsweise die Darknet-Plattform „Wall Street Market“ vom BKA in Kooperation mit dem FBI ausgehoben. Auf dem zweitgrößten kriminellen Online- Marktplatz wurden gestohlene Daten, Drogen, Schadsoftware und gefälschte Dokumente zum Verkauf angeboten. Zugänglich war diese Plattform ausschließlich über das TOR-Netzwerk im sogenannten Darknet. Es war auf illegale und kriminelle Güter ausgerichtet. Die Bezahlung der Ware erfolgte durch BITCOIN. Auf der Online-Plattform wurden 63.000 Verkaufsangebote eingestellt und 1.150.000 Kundenkonten mit über 5.400 Verkäufern angemeldet. [1]

Dies ist lediglich ein Beispiel dafür, wie sich Kriminelle im Internet organisieren und agieren, um Cyberkriminalität zu verschleiern und ihre Kunden zu schützen. Um lokale und globale Cyberkriminalität rechtskonform nachzuweisen, bedarf es der IT-Forensik, um Straftäter für ihre Handlungen verantwortlich zu machen. 

Die Forensik umfasst interdisziplinär alle Wissenschaften, die zur kriminalistischen Aufklärung einer Straftat beitragen können. Beispiele dafür sind die Erfassung biometrischer Tatortspuren wie Fingerabdrücke, die Auswertung von Tatortfotos oder das Rekonstruieren von Daten auf beschlagnahmten Festplatten. Ein essenzielles Prinzip der Forensik (Locardsches Austauschprinzip) besagt, dass bei jeder Interaktion zwischen zwei Objekten Spuren ausgetauscht werden. Dafür müssen Forensiker unter anderem auf die Wissenschaften der Medizin, Chemie und Informatik zurückgreifen. Eine Spur muss dabei immer so gesichert werden, dass sie vor Gericht Bestand hat und zweifelsfrei korrekt gewonnen wurde. Aus diesem Grund und dem ständigen technischen Fortschritt ist die Forensik eine spannende Wissenschaft mit vielen offenen Forschungsfragen. 

Ein Beispiel für eine neu entstandene Forschungslücke ist der Übergang der klassischen Forensik auf digitale Fragestellungen, z. B. wie können Verbrechen, die mit moderner künstlicher Intelligenz, wie dem bekannten Chatbot „ChatGPT“ oder dem Bildgenerator „DALL-E“ oder autonomen Fahrzeugen begangen werden könnten, auch nachgewiesen werden. Genau hierfür ist die IT-Forensik mit ihren Eigenschaften Objektivität und Rechenschaftspflicht prädestiniert und grenzt sich dadurch als anerkannte Wissenschaft von dem Versuch, KI erklärbar zu machen (XAI) ab. 

Um solche Systeme in der digitalen Forensik zu untersuchen, müssen zahlreiche Eigenschaften erfüllt sein. Sollte ein Gericht Zweifel an der Transparenz, Integrität, Glaubwürdigkeit, Wiederholbarkeit oder Akzeptanz forensischer Methoden sowie an der Dokumentation der Beweiskette hegen (Chain of Custody), kann dies dazu führen, dass der Wert eines Beweises herabgesetzt oder für unzulässig erklärt wird.

Welche Rolle spielt die Agentur für Innovation in der Cybersicherheit GmbH (Cyberagentur) in der digitalen Forensik?

Die Cyberagentur beschäftigt sich mit Fragestellungen, die in voraussichtlich 10 bis 15 Jahren für die Cybersicherheit eines digital vernetzten Deutschlands relevant sind. Die Abteilung „Sichere Gesellschaft“ setzt in der Cyberagentur den Fokus auf die digitale Souveränität im Rahmen einer sozio-technischen Perspektive. In dem am 08.09.2023 ausgeschriebenen Forschungsprojekt „Forensik intelligenter Systeme“ (FIS) sollen Methoden und Tools gefunden werden, um komplexe Systeme künstlicher Intelligenz gerichtsfest auswerten zu können (https://www.cyberagentur.de/fis/).

Da es bisher fast keine Forschungsansätze in diesem Bereich gibt und die Fragestellung der gerichtsfesten Überprüfbarkeit möglicher Verbrechen im Cyberraum für die zukünftige Sicherheit unserer Gesellschaft immens wichtig ist, kann dieses Projekt einen erheblichen Erkenntnisgewinn beisteuern, in dem die technische mit der juristischen Perspektive verbunden wird.

Als Vorgabe soll es dabei um die KI-Systeme gehen, die eine hohe Anzahl an Parametern haben. Sie werden als „tiefe neuronale Netze“ bezeichnet und können in ihren Entscheidungen nicht mehr ohne Weiteres nachvollzogen werden (Blackbox Charakter). Durch die forensische Auswertung soll es zukünftig möglich sein, Angriffe zu erkennen, die gegen diese Systeme ausgeübt wurden.

Beispiele für das Ziel solcher Angriffe sind der unautorisierte Zugriff auf die Daten, die zum Trainieren der KI verwendet wurden oder eine Manipulation der KI mit „falschen“ Trainingsdaten (Data Poisoning). Die Folgen können gravierend sein, weil z. B. fehlerhafte Fahrzeuge zu Unfällen führen oder vertrauliche Daten von Chatbots gestohlen werden können. Dieses Projekt könnte die Grundlage für zukünftiges Patchen der dadurch erkennbaren Schwachstellen sein.

Hintergrund des Forschungsprojektes FIS der Cyberagentur ist die Tatsache, dass etwa 87 % der deutschen Unternehmen intelligente Systeme als entscheidenden Faktor für ihren wirtschaftlichen Erfolg betrachten[2]. Unternehmer erhoffen sich durch KI-Anwendungen Zeit- und Kostenersparnisse. Durch das fehlende Fachwissen folgen aber Risiken der Manipulation.

Das Mysterium um die Wissenschaft der digitalen Forensik ist aufgeklärt. Viele Fälle von Cyberkriminalität noch nicht. Zusammenfassend soll jedoch durch das Forschungsprojekt der Cyberagentur der rasanten Verbreitung von KI-Systemen begegnet werden, um einem Missbrauch vorzubeugen und Strafverfolgungsbehörden im Zeitalter der Digitalisierung weitreichendere und rechtssichere kriminalistische Werkzeuge an die Hand zu geben.

Michael Lindner

Weitere Informationen:

fis

Die Agentur für Innovation in der Cybersicherheit GmbH (Cyberagentur) wurde im Jahr 2020 als vollständige Inhouse-Gesellschaft des Bundes unter der gemeinsamen Federführung des Bundesministeriums der Verteidigung und des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat durch die Bundesregierung mit dem Ziel gegründet, einen im Bereich der Cybersicherheit anwendungsstrategiebezogenen und ressortübergreifenden Blick auf die Innere und äußere Sicherheit einzunehmen. Vor diesem Hintergrund bezweckt die Arbeit der Cyberagentur maßgeblich eine institutionalisierte Durchführung von hochinnovativen Vorhaben, die mit einem hohen Risiko bezüglich der Zielerreichung behaftet sind, gleichzeitig aber ein sehr hohes Disruptionspotenzial bei Erfolg innehaben können.

Die Cyberagentur ist Bestandteil der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesrepublik Deutschland.

Der Cyberagentur stehen Prof. Dr. Christian Hummert als Forschungsdirektor und Geschäftsführer sowie Daniel Mayer als kaufmännischer Direktor vor.

[1] https://www.bka.de/DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2019/Presse2019/190503_WallStreetMarket.html (besucht am 24.10.2023)

[2] Deloitte, Hrsg. „KI-Studie 2020: Wie nutzen Unternehmen Künstliche Intelligenz? KI-relevante Technologien, Strategien, Skills & Herausforderungen in der Praxis.“ (2022), Adresse: https://www2.deloitte.com/de/de/pages/technology-media-and-telecommunications/articles/ki-studie-2020.html (besucht am 28. 09. 2022) (siehe S. 2–4).

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