Noch fehlen wichtige Puzzlesteine, aber es geht voran auf dem Grazer Reininghaus-Areal. Selbst wenn sie von den Wohnhochhäusern in die Mangel genommen wird, ist die alte Tennenmälzerei ein kraftvoller Ort der Begegnung.
— FRANZISKA LEEB
Gerade einmal eine Viertelstunde hat es mit der Straßenbahn vom Hauptbahnhof auf die sonnige Caféterrasse mit Blick auf den Reininghauspark gedauert. Das gut besuchte Bäckerei-Café im „Mirror“ genannten rostbraunen Wohnhochhausensemble ist der einzige Ort, den ich ausfindig machen kann, um mich bei einem doppelten Espresso auf einen Tag im größten Grazer Stadtentwicklungsgebiet einzustimmen.


Ein Stück weiter ist der schicke Pavillon mit Holzwaben-Dach und verspiegelten Alu-Fronten ein Blickfang an der UNESCO-Esplanade, der zentralen Erschließungsachse des neuen Stadtteils. Erst später stelle ich fest, dass der Nahversorger- Kiosk nicht ausnahmsweise geschlossen ist, sondern neue Betreiber sucht. Immerhin ist auch eine öffentliche Toilette integriert, so steht der fesche Bau bis zur Neuübernahme nicht ganz nutzlos da.
Hier an der Ostseite des Parks befindet sich die Stadtterrasse von Reininghaus. Sie ist Schauplatz des freitäglichen Bauernmarkts, im Acht-Minuten-Takt bleibt die Straßenbahnlinie stehen, kein Autolärm, nur Baulärm im Hintergrund. Die Szenerie ist die eines modernen europäischen Stadtteils und könnte ganz ähnlich auch in Kopenhagen oder Lyon stattfinden. Ich bin überrascht, wie sympathisch sich mir der neue Stadtteil auf den ersten Blick präsentiert, dessen Entwicklung sich eine Zeit lang etwas holprig gestaltet hat.


75-jähriges Jubiläum
Die 54 Hektar sind in 20 Baufelder, sogenannte – von Q1 bis Q20 durchnummerierte – Quartiere unterteilt, die von insgesamt 17 Bauträgern bebaut werden. Drei davon entwickelt die ÖWGWohnbau, die an diesem sonnigen Frühlingstag anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens einlädt. Auf den Reininghausgründen stellte sie voriges Jahr das Quartier 6a Süd mit den charakteristischen orangefarbenen Beschattungspaneelen (Architekten KFR) fertig.
Nördlich davon herrscht gerade Baustellengewurl in der Baugrube für das Prestigeprojekt, das Wohnhochhaus direkt am Park, das wie auch die anderen Parkquartiere ein Entwurf von Pentaplan ist. Insgesamt werden es in allen ÖWG-Objekten auf den Reininghausgründen rund 1.000 Wohnungen sein. Seit Herbst 2024 ist man daher auch mit einem Service- Büro für die bereits bestehenden und zukünftigen Bewohner:innen vor Ort.


Lange Geschichte
Als die ÖWG 1950 gegründet wurde, spielte die aus Westfalen zugewanderte Industriellenfamilie Reininghaus schon beinahe ein Jahrhundert lang eine wichtige Rolle im österreichischen Brauereigewerbe. Auf dem Grazer Steinfeld stellten die Brüder Reininghaus nicht nur Bier, sondern auch Malz, Spiritus, Likör, Essig und Presshefe her. Im Zweiten Weltkrieg war die Brauerei unter die Herrschaft der Nazis geraten. Nach dem Krieg bauten die Nachfahren der Gründer das Unternehmen wieder auf, seit den 1990er-Jahren ist die Marke Reininghaus Teil der Brau Union Österreich AG und das Reininghaus- Areal ein Hoffnungsgebiet der Grazer Stadtentwicklung.
„Ein neuer Stadtteil braucht Zeit, bis er seine DNA entwickelt.“
Florian Stadtschreiber, ÖWG
2005 kauft die Immobilienentwicklungsgesellschaft Asset One das Areal und erstellt fünf Jahre später mit der Stadt Graz den Rahmenplan zur Entwicklung des neuen Stadtteils. Nach dem Rückzug von Asset One und einer Bürger:innenbefragung, die sich 2012 gegen den Ankauf des Areals durch die Stadt Graz aussprach, werden die Reininghausgründe an die verschieden Bauträger verkauft. Und ab 2017 erste Bauprojekte umgesetzt.


Florian Stadtschreiber ist der perfekte Begleiter, um Nachschau zu halten, was seitdem geschehen ist. Er leitet die Projektentwicklung der ÖWG und ist Vorstandsmitglied im Verein Stadtteil Graz Reininghaus. „So ein neuer Stadtteil braucht einige Zeit, bis er seine DNA entwickelt“, weiß er. Der aus dem Eigentümerboard der Bauträger hervorgegangene Reininghaus- Verein unternimmt einiges, um diese DNA jenseits des Gebauten zu entwickeln. Man kooperiert mit Kunstfestivals wie der Diagonale oder Klanglicht, ermöglicht Kunstprojekte und fördert die Entstehung eines lebendigen Stadtteils. 2023 gab es dafür eine Auszeichnung mit dem Kunstsponsoring- Preis Maecenas. „Wir haben uns hier auch manches von der Stadtteilarbeit und den Kulturinitiativen in der Seestadt Aspern abgeschaut“, gibt Florian Stadtschreiber zu.
Pro Quartier gibt es Gemeinschaftsräume, deren Größe in den Bebauungsbestimmungen festgeschrieben ist. Deren ursprünglich quartiersübergreifendes, über eine App geplantes Management ist nicht gelungen; nun kümmert sich jede Hausverwaltung um die Organisation auf der eigenen Liegenschaft, in der Regel mit eigener App und einem Schließsystem. Jedenfalls muss niemand irgendwo hinfahren, um sich den Schlüssel abzuholen und ihn nach dem Kindergeburtstag wieder zurückzubringen.


Neue Puzzlesteine
Mit dem Graz östlich und westlich der Mur verhält es sich so ähnlich, wie mit Wien diesseits und jenseits der Donau. Der Grazer Osten hat die pittoreske Altstadt und die Touristenattraktionen, der Westen die Neubaugebiete auf ehemaligen Industrieflächen und gefühlt liegt eine Weltreise dazwischen, in Wahrheit keine zwei Kilometer. Das Reininghaus-Areal soll das Zentrum dieses wachsenden Westens werden. Noch muss man sich in Geduld üben, so richtige Zentrumsstimmung mag trotz charmanter Ecken noch nicht aufkommen, aber es kommt Puzzlestein für Puzzlestein hinzu.
„Schön ist, dass sich viel mehr tut, seitdem die beiden Schulen den Unterrichtsbetrieb im vergangenen Herbst aufgenommen haben“, freut sich Florian Stadtschreiber. Um die Mittagszeit beginnen die Schüler: innen aus Volksschule und AHS (übrigens die erste neugebaute in Graz seit 30 Jahren), über die Alte Poststraße zur Straßenbahn zu strömen. Sie sind auch die ersten Frequenzbringer auf dem noch brachliegenden Baufeld Q2 im Herzen des Areals, indem sie Schlupflöcher im Bauzaun nutzen, um die Direttissima von der Schule zur Haltestelle zu nehmen. Hier sollen die mit 63 und 75 Metern höchsten Türme von Reininghaus entstehen.
Der Gebäudekomplex aus der Feder von Architektur Consult und Coop Himmelb(l)au, Auftraggeber ist die GA Immo aus dem Umfeld von Architektur Consult-Chef Hermann Eisenköck, soll mit Handels- und Büroflächen, Gastronomie, zwei Hotels und einem Kongresszentrum das Stadtteilzentrum von Reininghaus werden. Vorläufig bleibt zur Befriedigung der Konsumlaune – bereits ab zehn vor sieben – nur der Lebensmittelmarkt im von Thomas Pucher geplanten Green Tower der Wohnbaugruppe Ennstal. Im zweiten Stock sorgt seit Jänner das Gesundheitszentrum Reininghaus für die medizinische Primärversorgung im Stadtteil. Gegenüber befindet sich ein tim-Mobilitätsknoten. Das steht für täglich, intelligent, mobil, bekomme ich erklärt, und ist ein Mobilitätsangebot der Holding Graz, in diesem Fall mit e-Carsharing und Lastenrad.
Identität durch Industrie
Im Schatten des Turms behauptet sich die denkmalgeschützte Tennenmälzerei als Kraftort und Begegnungsstätte. Hier wurde ab 1888 das Getreide für die Bierproduktion aufbereitet. Das von den neuen Hochhäusern bedrängte Relikt des alten Reininghaus wurde vom Breathe Earth Collective und Hohensinn architektur saniert und mit wenigen reversiblen Eingriffen minimalinvasiv unter Wiederverwendung von gebrauchten Elementen wie Scheinwerfern aus der alten Vorklinik oder Möbeln aus der Arbeiterkammer in Wien adaptiert.
Im Obergeschoß der beeindruckenden Gewölbestruktur, die von der Stadt Graz angekauft wurde, befinden sich die Räumlichkeiten des Stadtteilbüros und Raum für Initiativen aus der Nachbarschaft. Die Veranstaltungsebene im Erdgeschoß kann kostenpflichtig für Veranstaltungen jedweder Art gebucht werden.


Central Park
Von anderer Dimension als die alte Malztenne ist die hinter den nördlichen Parkquartieren gelegene Mälzerei der Stadlauer Malzfabrik. Damit ihre Lärm- und Geruchsemissionen die angrenzenden Wohnquartiere nicht beeinträchtigen, haben die Bauträger Maßnahmen zur Beseitigung derselben mitfinanziert. Wie die wenigen erhalten gebliebenen umgenutzten Relikte der Brauerei trägt auch die bestehende Industrie eindeutig zur Stadtteil-Identität bei. Das gilt auch für das in Sichtweite befindliche Stahlwerk Marienhütte, das aus Eisenschrott Betonstahl erzeugt. Ob die Produkte auf den Baustellen nebenan zum Einsatz kommen? Vielleicht. Ganz sicher genutzt wird auf den Reininghausgründen die Prozessabwärme der Marienhütte, die mittels hocheffizienter Wärmepumpen für das Nahwärmenetz nutzbar gemacht wird.
Der von ZwoPK geplante Reininghauspark ist ein Gegenpol zu Industrie und das Grüne Herz des Stadtteils. Aus manchen Blickwinkeln sieht er aus wie eine einzige Wildnis, im Begehen erweist er sich als äußerst weitläufige, gut zonierte, abwechslungsreiche Landschaft mit Angeboten für alle denkbaren Bedürfnisse. Die nördliche Parkseite säumen Wasserflächen, eine Reminiszenz an die Eisteiche der Brauerei. Dass das Grün schon so viel atmosphärische Macht entwickelt, liegt zu einem Gutteil am prächtigen alten Baumbestand, wie den prächtigen Pyramidenpappeln, die riesige grüne Wände bilden oder den alten Eschen und Platanen.
Man kann sich schon jetzt gut ausmalen, dass dies einmal der Central Park von Graz sein wird, wo vieles stattfinden kann, ohne dass sich die Nutzer: innen in die Quere kommen und wo man schnell einmal auch aus der Innenstadt per Bim anreist, um die Weitläufigkeit zu genießen. Entlang der Domenico‐dell’Allio‐Allee, die vom Park Richtung Süden ein grünes Band bildet, sind Naturwiesen angeordnet. Auf den ersten Blick ziemlich versiegelt wirken hingegen auf den ersten Blick die Flächen am Jochen- Rindt-Platz beim Q6. Der Eindruck täuscht, denn hier wurden die Bäume nach dem Schwammstadt- Prinzip verpflanzt und können sich dank des großen Wurzelraums unter dem Stadtpflaster, der mit Steinen und Pflanzenkohle gefüllt ist, gut mit Wasser und Nährstoffen versorgen.
Schaut so aus, als hätten nicht nur die neuen Bäume gute Entwicklungschancen, sondern auch der ganze Stadtteil. Für eine abschließende Beurteilung ist es zu früh, aber es lohnt sich wohl, hin und wieder auf einen Kaffee vorbeizuschauen.