Vom Einküchenhaus zur Zwei-Küchen-Garçonnière

Wie wollen wir in prekären, dynamischen und hochbetagten Lebensphasen leben? Mit dieser Frage beschäftigen sich Architekt:innen und Errichter:innen schon seit weit mehr als 100 Jahren. Die Wohnkonzepte variieren im Laufe der Zeit – und haben doch eine stete Konstante: Räume zum Teilen.
WOJCIECH CZAJA

Schon 1901 veröffentlichte die deutsche Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Lily Braun das Konzept des sogenannten Einküchenhauses. In ihrem Text unter dem Titel Frauenarbeit und Hauswirtschaft, erschienen in der Frauenzeitschrift Die Gleichheit, skizziert sie eine Wohnhausanlage mit geteilten Räumen. „An Stelle der 50 bis 60 Küchen, in denen eine gleiche Zahl Frauen zu wirtschaften pflegt“, schreibt sie, „tritt eine im Erdgeschoß befindliche Zentralküche, die mit allen modernen arbeitsparenden Maschinen ausgestaltet ist.“ Auf diese Weise sollte die arbeitende Frau zeitlich und logistisch entlastet werden, sodass sie einer vollwertigen Beschäftigung nachgehen und sich in vollem Umfang ins wirtschaftliche Erwerbssystem integrieren konnte.

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Das europaweit erste Einküchenhaus wurde 1903 in Frederiksberg, Kopenhagen, errichtet – sogar mit drei verschiedenen Speiseaufzügen, mit denen das Essen direkt in die darüber liegenden Wohnungen transportiert werden konnte. Ähnliche Pionierprojekte folgten in Berlin, Hamburg, Zürich, Stockholm und Amsterdam. Auch Wien erhielt 1923 ein Einküchenhaus, und zwar im Heimhof in Rudolfsheim-Fünfhaus, errichtet von Otto Polak-Hellwig. „Sicher bedeutet auch das Einküchenhaus nicht die höchste hauswirtschaftliche Glückseligkeit“, schrieb Benedikt Fred Dolbin damals in der Allgemeinen Bau- Zeitung. „Aber eine aussichtsreiche Station auf dem Wege zur Befreiung der mit Kopf und Hand arbeitenden Menschheit (…) ist es gewiss.“

Die Idee der Einküchenhäuser lebt bis heute weiter, sei es im Modell der Wiener und Berliner Baugruppen, der Zürcher Cluster-Wohnungen oder der Londoner Mini- Apartment-Häuser mit kollektiven Etagen-Wohnküchen. Nach wie vor geht es um das sozial und ökonomisch bedingte Teilen von Flächen. Eine auffällige Neuerung in dieser Entwicklung ist die immer breiter werdende Definition der Zielgruppen. Nicht mehr nur die arbeitende, erwerbstätige Frau gilt es zu unterstützen, sondern auch jene Menschen, die in volkswirtschaftlicher Hinsicht unattraktiv geworden sind – Pensionist: innen und Senior:innen. Immer mehr Architekt:innen, Bauträger und Wohnprojekte fokussieren sich auf genau diese Klientel jenseits der 60 und bieten Wohnmodelle an, die das Gemeinsame dem Einsamen vorziehen.

Für alle Lebensstationen

Das Österreichische Siedlungswerk (ÖSW) errichtete vor mehr als zehn Jahren das generationenübergreifende Projekt Platform L im Wiener Sonnwendviertel, wobei das Initial nicht nur auf die Fensterformate und auskragenden Balkonplatten Bezug nimmt, sondern auch auf den Begriff „Lebensstationen“ anspielen möchte.

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Unter der (unverkennbar durchgewinkelten) Planung von Delugan Meissl Associated Architects entstanden 92 Wohnungen für Singles, Paare, Familien und Senior: innen sowie allerhand gemeinschaftlich genutzte Bereiche, in deren Planung und Programmierung die Mieter: innen bereits im Vorfeld involviert wurden: Küche, Marktplatz, Bibliothek und Dachterrasse mit Kräuterbeeten und Elektrogrill. Was in vielen Wohnprojekten heute bereits sozialer Standard ist, war vor einem Jahrzehnt noch ein junges Pflänzchen.

Ob jung oder alt

„Tauschen, Teilen und Sharing- Themen zählen zu jenen Qualitäten, die für das Entstehen einer Hausgemeinschaft besonders wichtig sind“, sagt Petra Hendrich, Partnerin bei RealityLab, „ob das nun Gemeinschaftsräume, Food-Coops oder Flohmärkte für Bücher, Kleidung, Spielzeug oder Haushaltswaren sind. Es geht um das Ausleben und Zelebrieren von gemeinsamen Interessen und bandstiftenden Tätigkeiten.“ Und zwar längst nicht nur bei jungen Leuten und Jungfamilien, sondern immer öfter auch bei Mid-Fourties, Mid-Fifties und sogar Silver-Agern. Denn: „Es gibt in ganz Mitteleuropa bereits viele realisierte Vorbildprojekte, und damit nimmt auch die Fantasie zu. Die Leute werden immer visionärer und immer anspruchsvoller.“

Ein schönes, gemeinsames Leben ist auch das Planungsmotto des Tiroler Unternehmensberaters Anton Stabentheiner, und das schon seit fast zehn Jahren. Unter der Vereinsdachmarke Haus im Leben entwickelt der heute 64-Jährige Mehrgenerationen-Wohnprojekte, die sich explizit auch an Senior: innen richten. Das erste Haus dieser Art entstand 2015 in Vomp und umfasst 29 Wohneinheiten. Weitere Projekte folgten im Zillertal, in Innsbruck und sogar im niederösterreichischen Ybbsitz, die Projektgröße variiert zwischen 16 und knapp 100 Wohnungen.

Aktuell in Bau befindet sich das Haus im Leben Nassereith, Bezirk Imst, mit insgesamt 78 Wohnungen. Außerdem gibt es sozialgesundheitliche Einrichtungen wie etwa Arztpraxis, Kosmetik, Fußpflege, Physiotherapie und Friseursalon. Gemeinschaftliches Herzstück ist – wie in jedem Haus im Leben seit der ersten Stunde an – ein prominent platziertes Café im Eingangsbereich.

Platform L – Lebensstationen, ist eines der ersten Projekte, das auf „gemeinsam statt einsam“ setzte, im Sonnwendviertel, vom ÖSW

„Wir bieten den Bewohner:innen, ob jung oder alt, sämtliche Annehmlichkeiten eines guten, gesunden und komfortablen Alltags an“, sagt Stabentheiner, der das Projekt in Nassereith in Kooperation mit dem gemeinnützigen Wohnbauträger Frieden realisiert. „Aber wir sind kein Wohnheim und auch keine Pflegeeinrichtung. Wir sind ein ganz normales Wohnhaus, das mit geförderten Mitteln errichtet wird und das sich an Menschen richtet, die ein selbstständiges Leben in Gemeinschaft führen wollen.“ Immer wieder gelingt es, dass sich unter den Mieter*innen auch Erwerbstätige aus dem Sozialund Gesundheitsbereich wiederfinden – für den medizinischen Notfall und die zwischenmenschliche Ansprache zwischendurch.

Wohnen im Duett

Genau dieser humanistische Anspruch treibt auch die Wohnbauvereinigung für Privatangestellte an. Aktuell entwickelt die wbv-gpa im Projekt Ildefonso in Wien-Oberlaa ein Baugruppenhaus mit gleich zwei Baugruppen, unter anderem für den Verein Kolokation, der sich an Menschen in der zweiten Jahrhunderthälfte richtet. Passend dazu gibt es innerhalb der Baugruppe neben den ganz klassischen Gemeinschaftseinrichtungen auch einen Kneipp-Wanderpfad im Garten.

Vor allem aber bemüht sich wbvgpa- Geschäftsführer Michael Gehbauer gerade darum, das von ihm entwickelte Modell Wohnen im Duett zu etablieren, es jenseits der Pilotphase zu skalieren und im gemeinnützigen Wohnbau zu verankern. Im Grunde geht es dabei um zwei Single-Garçonnièren mit zwei Küchen, zwei Bädern und zwei getrennten Strom- und Heizkreisen, die für ältere Ehepaare und Lebensgemeinschaften temporär – also für absehbare Zeit – an einer Sollbruchstelle in der Wohnungstrennwand zusammengelegt werden.

„Gerade wenn ältere Paare umziehen, zeichnet sich ab, dass eines Tages der eine oder die andere das Lebensende erreicht haben und versterben wird“, sagt Gehbauer. „Wir wissen aus Erfahrung, dass die einst gemeinsame Wohnung für Witwen und Witwer oft zu groß und auch zu teuer in der Erhaltung ist. Eine vorübergehende Zusammenlegung und spätere Trennung stellt sicher, dass der Verbliebene an dem ihm vertrauten Lebensort verbleiben kann.“ Kurze Nachdenkpause. „Tod ist in unserer Gesellschaft ein leider tabuisiertes Thema, vor allem im gemeinnützigen Wohnbau. Doch gerade in einer demografisch alternden Gesellschaft gilt es, daran vorbeizukommen. Ein guter Zusammenhalt in vertrauter Nachbarschaft begegnet der Einsamkeit mit Gemeinschaft.“

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