Von der realen zur digitalen Öffentlichkeit

Sabine Knierbein spricht im Interview über das Zusammenwachsen der digitalen und der realen Welt im Bereich des öffentlichen Raums und über die Bedeutung von Gemeinschaft in der Stadt.
— PETER REISCHER

Sie befassen sich mit Stadtkultur und öffentlichem Raum. Wie würden Sie Ihren Forschungsbereich kurz beschreiben?

Viele Menschen würden sagen – das ist Stadtforschung. Ich befasse mich wissenschaftlich mit Stadtentwicklung aus dem Blickwinkel der „urban studies“ (Internationale Urbanistik). Wir analysieren bei der Stadtentwicklung den Zusammenhang zwischen der gelebten und der gebauten Stadt. Ich unterrichte an der Fakultät für Architektur und Raumplanung, also geht es dabei um die gestaltende Disziplin in den Ingenieurwissenschaften. Wir vermitteln hier jedoch auch Ansätze, wie man Raum als menschliche Erfahrung verstehen kann, mit Perspektiven auch aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Also, zusammenfassend geht es um einen interdisziplinären Zugang, um Architekt:innen und Planenden unterschiedliche Raumverständnisse erklären zu können.

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Stadtkultur und öffentliche Räume sind sehr weitreichende Gebiete, wie weit fassen Sie diese Begriffe?

Wenn es um Stadtkultur geht, gibt es sehr viele verschiedene Zugänge. Unser Zugang ist der der Alltagskultur, weil das viel mit Stadtleben zu tun hat und sich daraus auch andere Formen der Stadtkultur entwickeln: Hochkultur, Subkultur etc.

Gehen Sie da material- oder kontextbezogen vor?

Wir betrachten das Materielle nicht ohne das Relationale. Also nicht ohne die menschlichen Beziehungen.

Ist der Begriff Öffentlicher Raum mit Gemeinschaft gleichzusetzen?

Wir würden das nicht gleichsetzen, denn Gemeinschaft kann ja auch die Gemeinschaft von einigen bedeuten, versus Gemeinschaft von allen oder vielen. Wir sprechen eher vom öffentlichen Leben als einem separaten Teil des Alltagslebens. Wenn man in die Politikwissenschaft schaut, sprechen wir über die öffentliche Meinungsbildung, die öffentliche Sphäre. In der Urbanistik haben wir einen starken Diskurs über Gemeinschaft – der Begriff ist umstritten, weil sich Gruppierungen oft in Abgrenzung zu anderen Gruppierungen als Gemeinschaft fühlen. Das ist für öffentliche Räume problematisch, weil das Abgrenzen zu In- und Exklusionen von Menschen führen kann.

Was kann oder soll die Architektur und Stadtplanung zur Stadtkultur und Gemeinschaft beitragen?

Da gibt es mehrere Punkte: Die Demokratisierung – wir befassen uns zurzeit sehr stark mit dem Thema der Leerstände in Wien und welche Räume für Kunst und Kultur, also für das öffentliche Gemeinwesen und die Alltagsökonomie eröffnet werden könnten. Es geht aber auch um Inklusivität für alle möglichen Gemeinschaften. Das kann für Menschen, die man heute als neurodivers bezeichnet, sein. Das kann aber auch über sprachliche oder andere Barrieren hinweg gehen. Das Kriterium dafür ist die Offenheit der Räume und der in ihnen möglichen räumlichen Praktiken. Da sind die Erdgeschoßzonen, die Stiegenhäuser oder in den Gründerzeitbauten die Hinterhöfe sehr wichtig als Räume möglicher zivilgesellschaftlicher Aneignung.

Gibt es einen Widerspruch zwischen Kultur, Gemeinschaft und Öffentlichkeit?

Je nachdem, wie man es auslegt. Prinzipiell sehe ich einen gemeinsamen Nenner bei den Begriffen öffentlicher Raum, öffentliches Leben und Stadtkultur, die setzen sich alle mit den unterschiedlichen Formen der Alltagskultur und des Alltagslebens in der Stadt auseinander. Der Begriff „Gemeinschaft“ kann da widerspruchslos integriert werden, wenn man ihn als offenen Begriff sieht. Wenn man ihn als Wertegemeinschaft versteht, die enge Grenzen zieht, kann es Widersprüche geben. Im öffentlichen Raum kann man einen demokratischen Grundkonsens über unterschiedliche eng gefasste Gemeinschaften hinweg ausverhandeln.

Was überwiegt im öffentlichen Raum: Individualisierung oder Gemeinschaft?

Das Schöne an der Stadtentwicklung ist, dass wir diese Prozesse meistens gleichzeitig oder im Ping-Pong miteinander sehen. In den westlichen Gesellschaften zeichnen sich in den öffentlichen Räumen Individualisierungstendenzen ab, ebenso wie Konsumorientierung. Der öffentliche Raum wurde mit der Leipziger Charta (2005 von den EU-Innenminister:innen entwickelt) für Branding und Standortentwicklung sehr ökonomisch vereinnahmt. Die neue Leipziger Charta (2020) ist ein gewisser Pendelschlag in die Gegenrichtung, also eine auf neue Allianzen zwischen Zivilgesellschaft und Stadtverwaltung – eine Betonung auf Gemeinwohl und Gemeinwesen.

Welche architektonischen Voraussetzungen sind nötig, um bei der Aneignung öffentlicher Räume durch die Zivilgesellschaft eine friedvolle Nutzung zu sichern?

Architektur, Städtebau, Raumplanung und Landschaftsarchitektur spielen da eine große Rolle. Aber sie können nicht alles gewährleisten, der Staat muss auch gewisse Regulierungen schaffen oder aufheben. Man sieht in Stadtentwicklungsgebieten (Sonnwendviertel), dass öffentliche, halbprivate Räume mit Stadtmöblierung zugestellt werden. Das ist nett gemeint, aber „too much“, ein bisschen Alibihandlung, weil man auch die Menschen selbst entscheiden lassen könnte: Was braucht so ein Raum an Möblierung und v. a. wer braucht welche Möblierung? Kollektive Großnarrative (etwa in Klassenunterschieden), die vor 30 Jahren noch Kraft hatten, zerfallen in kleinere, identitätspolitische Zuschreibungen. Somit wird Raumaneignung identitätsstiftender und Teil der Identitätskonstruktion.

Prof. Dr. Sabine Knierbein
leitet den Forschungsbereich für Stadtkultur und öffentlicher Raum an der Fakultät für Architektur und Raumplanung der TU Wien. Sie unterrichtet zudem Internationale Urbanistik.

Gibt es da Wertungen?

Das kann man analytisch betrachten – was bewirkt was? Ein gutes Beispiel ist das Guerillagardening. In Liesing hat man in der Nähe eines alten Gemeindebaus so ein Projekt angedacht, da haben die Menschen eine Unterschriftenaktion dagegen gestartet. Sie hatten Angst, dass da was Neues kommt und vielleicht ihr Bau abgerissen wird. Man sieht, dass solche Initiativen, je nach Bevölkerungsgruppe oder -gemeinschaft ganz unterschiedlich aufgefasst werden können.

Gewalt im öffentlichen Raum, Aneignung durch nicht demokratische Gruppierungen?

Wir haben in unterschiedlichen Gebieten von Wien eine Studie gemacht, um festzustellen, wie der nichtdigitale und der digitale Zugang von Jugendlichen zum öffentlichen Raum ist. Über sozioökonomische und andere Merkmale hinweg. Und dabei festgestellt: Er ist gar nicht so unterschiedlich zwischen wohlsituierten und weniger gut situierten Jugendlichen. Bei der Polarisierung spielt Social Media auch bei der Aneignung öffentlicher Räume eine zentrale Rolle. Bevor man mit dem Finger auf diese Gruppen zeigt, sollte man sich als Stadtentwicklungsverantwortlicher erst anschauen, was beeinflusst diese Gruppen, wie sozialisieren sie sich. Da ist zum Beispiel die toxische Maskulinität, die über die sozialen Medien verbreitet wird, zu erwähnen.

Sind kulturelle und geschichtliche Bildung eine wesentliche Voraussetzung für ein demokratisches Herangehen im Hinblick zur Nutzung öffentlicher Räume?

Diese Frage kann man gar nicht verneinen. Geschichtsbewusstsein ist zwingend notwendig, Geschichte wird heute teils aber anders entdeckt. Jugendliche zum Entdecken kluger Inhalte im Internet anzuleiten, gelingt der älteren Generation nicht, weil die älteren Generationen wenig, bis keine „literacy“ haben, wir sind quasi Analphabet: innen, was neue digitale Nutzungsmuster betrifft. Das ist eine große strukturelle Herausforderung.

Können bauliche Maßnahmen helfen?

Ja, aber ich würde es immer auf Nutzungsprogramme von Bauten erweitern. Wir reden in der Raumplanung und Architektur viel über soziale Infrastrukturen. Das könnten vakante Räume sein, die für gemeinschaftliche Initiativen freigegeben werden, die vielleicht generationenübergreifende Schulungen zur digital literacy betreffen. Unser Zugang zu „Raum“ ist, dass es um gesellschaftliche Produktionsprozesse geht, die aus gesellschaftlichen Schritten und Verhandlungen erwachsen.

Wird das Thema Stadtkultur in der politischen Agenda in Wien vernachlässigt?

Das muss man mit JA beantworten. Die Raumverfügbarkeit für derartige Initiativen ist meist wenig bis gar nicht gegeben. Stadtkultur ist immer ein Bereich der „Software“ von Stadtentwicklung, für die es Ressourcen geben muss (z. B. Referat für Soziokultur) und auch bei der „Hardware“, also beim Bereitstellen von leer stehenden Infrastrukturen gibt es Schwierigkeiten, die den Eigentumsbegriff betreffen.

Wie kann man den Widerspruch zwischen materiellem/realem und digitalem öffentlichen Raum lösen?

Bei der Jugend gibt es diese Trennung nicht (mehr). Das Digitale ist real und das andere ist auch real. Vi(rtual)-Realspaces: Man nennt das vireale öffentliche Räume. Wenn sich junge Menschen außerhalb der Wohnung verabreden, ist der Ort zwar real, aber auch digital anpassbar. Wenn jetzt irgendwas nicht passt, geht die Gruppe einfach woanders hin, wo sie sich verabreden können. Diese neue Mobilität von jugendlichen Gruppen auch über Grätzlgrenzen hinweg hat diese vireale Welt neu ermöglicht, sie bleiben nicht mehr unbedingt allein in ihrem Grätzl.

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