Altersgerechtes Wohnen im anpassbaren Wohnbau

Monika Anna Klenovec ist eine ausgewiesene Expertin für barrierefreies Bauen. Im exklusiven Interview erzählt sie über gesellschaftliche und gesetzliche Entwicklungen wie auch Standards in puncto Barrierefreiheit – und ihrem Anspruch ans Wohnen fürs ganze Leben.
PETER REISCHER

Was hat Sie zu der Beschäftigung mit barrierefreiem Design in der Architektur bewogen?

Zum Teil die eigene Betroffenheit als junge berufstätige Mutter mit zwei Kleinkindern und am Stadtrand wohnend sowie meine Mutter mit altersbedingten Mobilitätseinschränkungen. Bereits während meines Architekturstudiums habe ich Vorlesungen über Barrierefreiheit besucht, und das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.

Nach Berufsjahren im eigenen Architekturbüro bin ich als Komitee- Managerin ins Österreichische Normungsinstitut gewechselt, wo ich zahlreiche Komitees im Baubereich auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene 15 Jahre begleitet habe.

Monika Anna Klenovec
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Würden Sie altersgerechtes Wohnen mit Barrierefreiheit gleichsetzen?

Kurze Antwort: Ja! Allerdings ist altersgerechtes Wohnen in Österreich und in der internationalen und europäischen Baunormung als Stand der Technik nicht definiert. Meist wird die Rollstuhl- bzw. Rollatortauglichkeit einer Wohnung in allen Bereichen samt den Sanitärräumen sowie dem zugehörigen Balkon, Terrasse etc. darunter verstanden. Objekte für betreutes Wohnen gehören zu den speziellen Gebäuden wie Senior:innenwohnheime etc., wo die ÖNORMEN B 1600 mit B 1601 Barrierefreie Gesundheitseinrichtungen anzuwenden sind.

Wir sprechen in der ÖNORM B 1600 Barrierefreies Bauen wie auch in der europäischen Norm ÖVE/ÖNORM EN 17210* von der barrierefreien und nutzbaren Umgebung für alle – das sind 90 bis 95 Prozent der Bevölkerung. Bei barrierefreien Wohngebäuden sind die Erschließung und die allgemein nutzbaren Bereiche barrierefrei ausgeführt. Auch die Wohnungen sind barrierefrei zu planen. Der Sanitärbereich kann jedoch anpassbar geplant werden. Das heißt, dass zukünftig notwendige Adaptierungen möglichst einfach und kostengünstig und nur in geringfügigem Ausmaß vorgenommen werden. Der größere Platzbedarf aufgrund der Nutzung eines Rollstuhls, Gehhilfe oder Rollators kann z. B. durch die Zusammenlegung von Sanitärräumen ermöglicht werden, erfordert aber mehr Planungs-Know-how von Architekt: innen. Dieses Konzept des anpassbaren Wohnbaus ist für mich Wohnen fürs ganze Leben.

Monika Anna Klenovec

Gibt es Lücken im Architekturstudium, die diesen Bedürfnissen angepasst werden müssen?

Riesige Lücken. Daran habe ich an der TU immer gearbeitet. In den Empfehlungen des Baukulturreports „Barrierefreies Bauen – Design for All“ wurde 2011 schon gefordert, dieses Thema in allen Bauausbildungen verpflichtend aufzunehmen. An der TU Wien habe ich diesen Themenbereich seit 1996 bis 2019 im Institut für Bauökologie in einem Wahl-Modul unterrichtet. An der TU Graz gibt es auch Vorlesungen dazu, an der TU Innsbruck keine, an den Akademien für Architekturausbildungen ist mir dazu nichts bekannt.

Monika Anna Klenovec

Sollte sich das Studium anders aufbauen, oder sollten nur die Bereiche erweitert werden?

Eigentlich müsste dieser Themenbereich schon in den Lehrplänen der Bau-HTL integriert sein. Ebenso sollte Design for All/Barrierefreies Bauen als integraler Planungsbestandteil in alle Entwerfen-Programme der Architekturausbildungen mit aufgenommen werden, als eines der wesentlichen Elemente eines nachhaltigen Bauens.

Im postgradualen Programm der TU Wien „Professional MBA-Facility Management“ sowie im Universitätslehrgang „Nachhaltiges Bauen“ konnte ich „Design for All“ als Pflichtfach viele Jahre vortragen. Die Selbsterfahrung gehört auch dazu: Einmal sich selbst im Rollstuhl durch die Stadt bewegen, eine Simulationsbrille für die Kontrastwahrnehmung verwenden und kurzzeitig einen Alterssimulationsanzug probieren.

Monika Anna Klenovec
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Glauben Sie, dass aufgrund der demografischen Entwicklung sich das altersgerechte Wohnen und die Ansprüche daran stark ändern werden müssen?

Die demografische Entwicklung wurde mit der ÖNORM B 1600 zu barrierefreiem Bauen samt dem Konzept des anpassbaren Wohnens – vor allem durch die OIB Richtlinie 4 und deren Verankerung in den Bauordnungen der Länder seit 2007 – bereits gut berücksichtigt. Allerdings haben wir Anpassungsbedarf in den Bauordnungen der Länder. Darüber hinaus wird das Konzept des betreuten Wohnens mit rollstuhlgeeigneten Wohneinheiten sicher weiter ausgebaut werden müssen, obwohl ich da eine Gettobildung sehe, ähnlich wie im teuren Senior:innenwohnheim.

Auch bei größeren Umbauten von bestehenden Gebäuden ist die barrierefreie Adaptierung mit einzuplanen. Und die Einbeziehung eines „Access Consultant“ in die Planungsprozesse und bei Wettbewerben, wie in UK, Australien und USA schon lange üblich, ist bei uns noch sehr selten zu sehen.

Monika Anna Klenovec
Monika Klenovec studierte Architektur in Wien. Sie war 1989 bis 2003 Komitee-Managerin bei Austrian Standards für Hochbau Allgemeines, Barrierefreies Bauen, Planungsgrundlagen im Wohnbereich, Bauphysik etc. Ab 1996 unterrichtete sie „Design for All/ Barrierefreies Bauen“ an der Architekturfakultät der TU Wien sowie im CEC im MBA „Facility Management“ und im TU-Lehrgang „Nachhaltiges Bauen“ bis 2019. Sie ist Mitbegründerin von „Design for All“ und seit 2003 Mitglied beim UIA Work Program „Architecture for all“. Zudem war sie Leiterin der EN 17210:20211, dem europäischen Standard für barrierefreies Bauen.

Wie ist die gesetzliche Lage in Österreich bezüglich barrierefreiem, anpassbarem Wohnbau?

Seit der UN-Behindertenrechts- Konvention sind Bund und Länder verpflichtet, dass einheitliche Mindeststandards für barrierefreies Bauen bestehen und neue Wohnbauten barrierefrei anpassbar errichtet werden! In Österreich wurden dazu die OIB-Richtlinie 4 „Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit“ auf Basis der ÖNORM B 1600 erarbeitet, die inzwischen in den Bauordnungen der Länder integriert ist.

Ab welcher Geschoßzahl ein Aufzug eingebaut werden muss und ab wie vielen Wohnungen diese anpassbar zu planen sind, ist allerdings in den Bundesländern unterschiedlich geregelt und sollte vereinheitlicht werden. Hier besteht Verbesserungsbedarf in Richtung einer Angleichung an das Niveau von Wien. Umfragen zeigen, dass Menschen überwiegend in ihrem gewohnten Umfeld bleiben wollen.

Monika Anna Klenovec

Oft hört man, dass barrierefreier Wohnbau zu teuer sei?

Die Planung eines barrierefreien Sanitärraums ist für Architekt:innen oft zu wenig „sexy“, bzw. mit Unsicherheit verbunden. Dann plant es eben der Installateur oder Haustechnikplaner und der will eher hochpreisige Dinge verkaufen. Da kommt dann das große, überteuerte Waschbecken (dreifache Kosten zu einem kleineren flachen und unterfahrbaren Waschtisch) und ein teurer Kippspiegel.

Dem Kostenargument, anpassbare und barrierefreie Wohngebäude sind zu teuer, muss ich ernsthaft widersprechen: Eine Studie der ETH Zürich belegt, dass bei Berücksichtigung dieser Anforderungen bei Planungsbeginn, abhängig von den Gesamtbaukosten die Mehrkosten bei Wohngebäuden zwischen 0,5 und 3,5 Prozent liegen – je größer das Bauvolumen desto günstiger.

Monika Anna Klenovec

*ÖVE/ÖNORM EN 17210:2021 Barrierefreiheit und Nutzbarkeit der gebauten Umgebung – funktionale Anforderungen

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