Eine Frage des Gelds

Die Mindestanforderungen an Barrierefreiheit sind in den Bauordnungen der Länder festgelegt. Viele Bauträger leisten aber freiwillig mehr, sei es, um an Förderungen zu gelangen oder sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Was sich alle Stakeholder:innen wünschen, ist eine Vereinheitlichung der Regeln, Branchenvertreter:innen fordern mehr Flexibilität. Als Vorbild könnten die Niederlande dienen.
BERND AFFENZELLER

Barrierefreiheit ist ein Thema, an dem sich traditionell die Geister scheiden. Was dem einen zu viel ist, geht dem anderen nicht weit genug. „Barrierefreiheit ist eine wesentliche Voraussetzung für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen“, erklärt Franz Groschan, Präsident des größten österreichischen Behindertenverbands KOBV. Die aktuellen Regelungen hält er für nicht zielführend.

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„Die Länderbestimmungen sind zu unterschiedlich und sehen zu wenige verpflichtende Vorgaben für Barrierefreiheit vor“, so Groschan. Vor allem der stufenlose Zugang sollte laut Groschan verpflichtend sein. „Die erlaubten zwei Zentimeter Türanschlag sind zu viel, Nullschwellen-Optionen gibt es längst.“ Zudem würde sich Groschan wünschen, das Thema größer zu betrachten. „Barrierefreiheit hilft allen Menschen, nicht nur Menschen mit Behinderung.“

Appell an die Politik 
Was sich der größte österreichische Behindertenverband KOBV von der Politik wünscht: 
- Die Berücksichtigung der Barrierefreiheit in den Lehrplänen der entsprechenden Studien und Ausbildungen. 
- Die verpflichtende Beiziehung von Sachverständigen für Barrierefreiheit im Baubewilligungsverfahren.
- Österreichweit einheitliche Vorgaben und Regelungen zur Barrierefreiheit.

Das beginnt beim Hantieren mit Kinderwägen oder schweren Einkäufen und reicht bis zu Mobilitätseinschränkungen im Alter oder aufgrund von Verletzungen. Doch jede zusätzliche Maßnahmen kostet zusätzliches Geld. Eine Studie des deutschen Städte- und Gemeindebunds aus dem Jahr 2017 kam zu dem Schluss, dass sich die Mehrkosten bei vollständiger Barrierefreiheit auf 1,26 Prozent der reinen Baukosten pro Quadratmeter Wohnfläche belaufen. In einer zweiten, kostengünstigeren, aber immer noch barrierefreien Variante, sind es 0,54 Prozent.

Bezogen auf die Gesamtinvestitionskosten liegen die Mehrkosten zwischen 0,35 und 0,83 Prozent. Wird die Barrierefreiheit von Anfang an mitgeplant, sind die Kosten am geringsten. Teuer wird es, wenn Wohnungen mit gleicher Zimmeranzahl deutlich größer sein müssen oder wenn Aufzüge nötig werden. Die teuerste Variante ist die nachträgliche Herstellung der Barrierefreiheit, die zudem meist nur eine Verringerung der Barrieren, aber keine echte Barrierefreiheit erreicht.

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Freiwillige Mehrleistungen

Das Mindestmaß an Barrierefreiheit ist in den Bauordnungen der Länder festgelegt. Zusätzliche Anforderungen müssen erfüllt werden, um in den Genuss von Förderungen zu kommen. Die Mindeststandards werden von vielen Bauträgern freiwillig übererfüllt. Bei der Arwag etwa werden alle Wohnungen entsprechend der aktuellen Ausführung der OIB Richtlinie 4 „Nutzungssicherheit und Barrierefreiheit“ geplant und realisiert. Zu den Maßnahmen zählen die Barrierefreiheit aller Allgemeinbereiche, einschließlich eines barrierefreien WC.

Bei der Arwag wird großer Wert darauf gelegt, dass Eingangsbereiche und Vorzimmer entsprechende Anfahrtsbereiche bieten, damit Türen auch mit Gehhilfen oder Rollstühlen problemlos geöffnet werden können.

Darüber hinaus sind Arwag-Wohnungen grundsätzlich „anpassbar“ gestaltet. „Das bedeutet, dass wir flexible Raumkonzepte nutzen, um beispielsweise installationsfreie Anpassungen zwischen getrenntem WC und Bad zu ermöglichen“, heißt es seitens der Arwag. Auch bei der Buwog wird das in den Bauordnungen festgelegte Mindestmaß an Barrierefreiheit „in den meisten Fällen weitergedacht und umgesetzt“. So ist es aus Sicht der Buwog nicht ausreichend, lediglich die Zugänge zu Allgemeinflächen und -räumen barrierefrei zu gestalten, es müsse auch die Nutzung von gemeinschaftlichen Aktivitäten im Wohnumfeld für alle Bewohner:innen möglich sein.

„Ein Beispiel dafür sind etwa die Hochbeete in unserem Projekt Amelie. Diese sind mit dem Rollstuhl unterfahr- und erreichbar, sodass ein gemeinsames Garteln barrierefrei ermöglicht wird“, erklärt Geschäftsführer Andreas Holler. Noch einen Schritt weiter geht eines der aktuell größten Inklusionsprojekte Österreichs in Linz-Wegscheid. Dort werden von der Lawog in Zusammenarbeit mit der oberösterreichischen Lebenshilfe nicht nur Wohnplätze für 58 Menschen mit Beeinträchtigung geschaffen, sondern auch gleich integrative Beschäftigungsmöglichkeiten.

Die Übererfüllung der Mindeststandards stellt für viele Bauträger auch ein immer wichtigeres „Verkaufsargument“ dar. „Kunden sind zunehmend sensibilisiert für die Vorteile einer barrierefreien Gestaltung und bevorzugen häufig Projekte, die diesen Ansprüchen gerecht werden“, heißt es bei der Arwag. Andreas Holler ist überzeugt, dass angesichts der Bevölkerungsentwicklung im Zusammenhang mit einer Überalterung der Gesellschaft Barrierefreiheit in Zukunft denselben Stellenwert haben wird wie Nachhaltigkeit oder Klimaschutz. „Eine Übererfüllung der Mindestanforderungen sehe ich durchaus schon heute als Wettbewerbsvorteil, da bedauerlicherweise Inklusion und Barrierefreiheit im gesellschaftlichen Diskurs noch zu wenig Raum bekommt“, so Holler.

Förderungen für barrierefreies Bauen 
(Beispiel Burgenland) 
Wird ein gefördertes Objekt barrierefrei errichtet, können für diese Maßnahmen zusätzliche Förderungen lukriert werden. Diese sind in jedem Bundesland anders gestaltet. Beispiel Burgenland: 87 Euro je Quadratmeter förderbarer Nutzfläche. Gefördert werden Treppenlifte, der Einbau von Aufzügen oder sonstige erforderliche Maßnahmen, die zum Abbau von Barrieren führen und ein behindertengerechtes Wohnen ermöglichen.

Neun Länder, neun Regelungen

Nicht nur KOPV-Präsident Franz Groschan sind die unterschiedlichen Länderbestimmungen ein Dorn im Auge. Wohnbauexperte Wolfgang Amann vom Institut für Immobilien, Bauen und Wohnen, würde eine bundesweite Regelung begrüßen, auch Andreas Holler würde eine Vereinheitlichung in den Bauordnungen als sinnvoll erachten. Davon ist man aktuell weit entfernt, noch kocht jedes Land sein eigenes Süppchen. Jedes Land hat seine eigenen Vorgaben und Förderungen, mal liegt der Schwerpunkt im Neubau, mal in der Sanierung. Die einen setzen auf nicht-rückzahlbare Zuschüsse, die anderen auf Förderungskredite oder Annuitätenzuschüsse.

Neben der bundesweit einheitlichen Regelung, wie sie etwa durch die verbindliche Anerkennung der Normen für Barrierefreiheit in allen Bauordnungen möglich wäre, sprechen sich auch viele Branchenvertreter für mehr Flexibilität aus. Als Vorbild könnte ein Modell aus den Niederlanden dienen. Dort werden in jedem Wohnbau einzelne Wohnungen, insbesondere im Erdgeschoß und im ersten Obergeschoß, vollständig barrierefrei ausgestattet. Bei den restlichen Wohnungen entfallen diese Anforderungen und sie können kosteneffizienter und raumsparender gestaltet werden, etwa durch schmalere Gänge. Die Bewohner: innen ziehen je nach Bedarf und Lebenssituation innerhalb der Wohnanlage um. Diesem Ansatz stehen derzeit in Österreich aber mehrere rechtliche Bestimmungen entgegen.

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