Sozialer Pionier mit Schönheitsfleck

Mitte September veranstaltete das WohnenPlus Fachmagazin einen Praxis-Check im Wiener Sonnwendviertel. Gemeinsam mit der Wohnen Plus Akademie, den gemeinnützigen Bautägern Heimat Österreich und EGW Heimstätte, den zuständigen Architekten und Hausverwaltern sowie mit Nutzern und Bewohnern wurde das Pionierprojekt besucht.
WOJCIECH CZAJA

Im Foyer hängen Schwarzweiß-Fotografien. Porträts, Hände, faltige Haut, schüttere Haare am Kopf, und dann plötzlich ein altes, hochbetagtes Ehepaar, das sich abbusselt und leidenschaftlich wild umarmt. Es sind wunderschöne, berührende Bilder, die einen Lebensabschnitt zeigen, der in unserer Gesellschaft gerne totgeschwiegen wird. Weil wir Angst davor haben, einen wohlwollenden Blick auf das Altsein zu werfen. Und auf das Sterben sowieso.

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„Es ist schade, dass sich die Menschen mit diesem Thema so schwer tun, denn das Alter wird uns früher oder später alle betreffen“, sagt Dagmar Treitl, Leiterin des Pflegewohnhauses Casa Sonnwendviertel. „Wir haben uns sehr darum bemüht, die Wohn- und Aufenthaltsräume unserer Klientinnen und Klienten so zu gestalten, dass sie sich hier wohl fühlen und dass sie eine bestmögliche Anknüpfung und Erinnerung an ihr altes Zuhause haben.“

Möbel, die schon auf den ersten Blick Abwischbarkeit und Urinresistenz ausstrahlen, wie dies in Pflegeeinrichtungen früher zum Alltag gehörte, wird man hier vergeblich suchen. Die Stoffe und Materialien wirken angenehm, sind in fröhlichen Holz- und Pastelltönen gehalten, und über allem liegt ein Hauch Kurhotel- und Reha-Flair. Doch die größte Überraschung verbirgt sich in den Gängen und offenen Aufenthaltsbereichen. Es gibt Hirschgeweihe, alte Schreibmaschinen, Stickbilder in goldenen Barockrahmen, antike Schaukelstühle mit Omastoffbezügen und eine gläserne Kommode mit DVD-Hüllen mit sämtlichen Staffeln der texanischen Schulterpolster-Seifenopersaga „Dallas“. Dabei muss auch die Leiterin schmunzeln.

Die Casa Sonnwendviertel mit insgesamt 84 Pflegeplätzen ist Teil einer größeren, multifunktional bespielten Wohnhausanlage am Helmut-Zilk-Park, die von den beiden Bauträgern Heimat Österreich und EGW Heimstätte errichtet wurde. Im Sommer 2017 wurde das Projekt, das darüber hinaus 265 geförderte Wohnungen mit einem auffällig hohen Anteil an Smart-Wohnungen, einen viergruppigen Kindergarten, ein Caritas-Tagesstrukturzentrum, eine Verwaltungszentrale des Vereins LOK („Leben ohne Krankenhaus“), eine Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche, mehrere Gewerbeflächen sowie einen großen Gemeinschafts- und Veranstaltungsraum enthält, an seine Mieter übergeben. Das Projekt, Resultat eines 2012 ausgeschriebenen Bauträger-Wettbewerbs, ist in seinem heterogenen Funktionsmix wienweit einzigartig.

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Einzigartiges Projekt

Grund genug, die Wohnhausanlage einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. So geschehen am 12. September 2019, als das Wohnen Plus Fachmagazin gemeinsam mit der Wohnen Plus Akademie Fachleute aus mehreren Disziplinen zu einem umfassenden Praxis-Check einlud. „Dieses Projekt war und ist in dieser Stadt in dieser Form einzigartig“, sagt Stefan Haertl, Prokurist bei der Heimat Österreich.

„Ich bin mit der Qualität der Architektur und der Dichte des hier untergebrachten Programms mehr als zufrieden.“ Und auch Herbert Mühlegger, Projektleiter und Bautechniker bei der EGW Heimstätte, zählt die Wohnanlage im Sonnwendviertel zu den außergewöhnlichsten geförderten Projekten der letzten Jahre: „Solche komplexen Bauvorhaben realisiert man nicht alle Tage. Das ist österreichisches Spitzenfeld.“

Die Heimat Österreich errichtete den pfirsichfarbenen Bauteil direkt am Park. Das Teilprojekt umfasst 92 Wohnungen sowie den Kindergarten im Erdgeschoß und die sich über vier Etagen erstreckende Casa Sonnwendviertel. Aufgrund der auffälligen Farbe und der fast quadratischen Fenster, die das Architekturbüro RLP Rüdiger Lainer + Partner zwecks erhöhter Tageslichtzufuhr mit 45-gradig gefasten Faschen umrahmte, wird das Haus von seinen Bewohnern intern gerne auch als „Manner-Haus“ bezeichnet. Die Farbe macht einen zwar süßen, kitschigen Eindruck, erweist sich in der Praxis aber als warmer, schmeichelnder Reflektor.

Die EGW Heimstätte hingegen errichtete gemeinsam mit BKK-3 Architektur den weitaus dichter ineinander verschachtelten Bauteil im Westen des Grundstücks. Dieser umfasst 173 Wohnungen sowie all die restlichen, bereits erwähnten Sozialeinrichtungen. Die graue Fassade mit ihren gelbgrün ausgenommenen Loggienräumen wirkt zwar architektonisch cooler, tatsächlich aber erscheint der Farbmix in den engen Häuserschluchten mitunter entrisch und klaustrophobisch. Sehnsüchtig blickt man aus den Wohnungen auf den Manner-Pfirsich vis-à-vis. An der Antonie-Alt-Gasse sind die beiden, sehr heterogen gestalteten Bauteile über einen Betonbogen in 15 Meter Höhe miteinander verbunden.

Vorurteile und Anfeindungen

Soweit zur Hardware. Blickt man jedoch hinter die Fassaden dieses Projekts, so treten auf der Software-Ebene unübersehbare Spannungen zutage. „Wir haben zwar alle Interessenten und künftigen Mieter darüber informiert, dass hier einige soziale Einrichtungen einziehen werden“, erinnert sich Manuela Ergott, Leiterin Hausverwaltung Heimat Österreich, „doch bei der Schlüsselübergabe waren etliche Leute dann doch etwas abgeschreckt und meinten, sie seien zum Teil nicht ausreichend informiert gewesen.“ Die Folge: Trotz Besiedelungs-Management und Stadtteilarbeit durch die Caritas sowie zahlreicher Mieterversammlungen in den letzten Monaten herrschen in der Wohnhausanlage bis zum heutigen Tag Vorurteile und Anfeindungen gegen so manchen Mitbewohner…

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