Was, wenn Planende endlich so bauen dürften, wie es sinnvoll wäre – nicht, wie es die Normen verlangen? Der Gebäudetyp E verspricht einen Paradigmenwechsel hin zu leistungsorientierter Innovation in der Bauplanung. Der Gesetzgeber hat dafür die Spielräume geschaffen, doch nur mit modellbasierten, digitalen Prozessen lassen sich die neuen Freiräume effizient, rechtssicher und sowohl ökologisch als auch ökonomisch nachhaltig nutzen. So ermöglichen es der Building Information Modeling-Ansatz sowie digitale Zwillinge, die Potenziale des Gebäudetyps E zu heben.
Seit Jahren ächzt die Bauwirtschaft unter Kostendruck und Überregulierung. Hier setzt der „Gebäudetyp E“ an – als Planungsansatz für einfacheres, suffizientes Bauen. Was 2023 in Bayern mit dem „Recht auf Abweichung“ (§ 63 BayBO) begann, hat inzwischen den Sprung auf Bundesebene geschafft: Am 6. November 2024 beschloss das Bundeskabinett den Gesetzesentwurf zur zivilrechtlichen Umsetzung des Gebäudetyp-E-Modells im Bauvertragsrecht.
Das neue Gesetz schafft erstmals eine klare rechtliche Grundlage dafür, auf technische Normen zu verzichten, wenn sie ausschließlich Komfort- oder Ausstattungsmerkmale betreffen – etwa bei Trittschallschutz oder Gebäudetechnik. Künftig gilt: Nur was ausdrücklich vertraglich vereinbart wurde, ist geschuldet. Damit entlastet das Gesetz Planungsverantwortliche und Bauausführende haftungsrechtlich. Vor allem öffnet es auch den Raum für neue, innovative Lösungen – die mit Blick auf ESG-Ziele und Kostendruck höchst willkommen sind.
10 Prozent Einsparung sind sehr konservativ geschätzt
Das Bundesjustizministerium geht von rund 10 Prozent Einsparpotenzial bei den Herstellungskosten aus – umgerechnet etwa 8 Milliarden Euro pro Jahr im Wohnungsbau. Je nach Maßnahme und Gebäudetyp sind sogar bis zu 25 Prozent Einsparung denkbar, etwa durch den Verzicht auf überdimensionierte technische Ausstattung oder hochpreisige Komfortdetails.
Empirische Projektauswertungen bestätigen diese politischen Annahmen – und übertreffen sie teils deutlich. Beispielrechnungen zeigen: Allein durch eine reduzierte Trittschalldämmung können rund 56 €/m² eingespart werden.
Besonders hohe Einsparpotenziale zeigen sich darüber hinaus:
- bei optimierten Tragwerken und reduzierter technischer Erschließung (~200 €/m²),
- bei der Rücknahme brandschutzbedingter Sonderlösungen (~150 €/m²) sowie beim Verzicht auf Zertifizierungen
- oder überzogene Barrierefreiheitsanforderungen (jeweils 100–150 €/m²).
Diese Einzelmaßnahmen summieren sich zu einem belastbaren Maßnahmenbündel.
Hamburg liefert konkrete Beispielzahlen: Im Rahmen der „Initiative Kostenreduziertes Bauen“ identifizierte die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen (ARGE e. V.) im Auftrag der Stadt 65 Einzelmaßnahmen, deren kombinierter Effekt über 1.000 €/m² betragen kann – das entspricht über 20 Prozent Reduktion bezogen auf das aktuelle Median-Kostenniveau von ca. 4.600 €/m² Wohnfläche.
Diese Ersparnisse fordern jedoch an anderer Stelle ihren Preis: durch komplexere Nachweispflichten. Wer von Standards abweicht, muss die Einhaltung der Schutzziele detailliert belegen. Also noch mehr Formulare? Das würde den Deregulierungsansatz der Novelle ad absurdum führen. Gefragt sind durchgängig digitale Planungs- und Modellierungsprozesse. Sie ermöglichen die Variantenbildung, Simulation und belastbare Dokumentation, um die Einsparpotenziale des Gebäudetyps E auszuschöpfen – ohne juristische Stolperfallen.
Neue Freiheit bei Neubauten
Im Neubau erschließt der Gebäudetyp E gezielte Spielräume – insbesondere bei Tragwerk, Ausbau und technischer Gebäudeausrüstung. Abweichungen sind dabei nicht nur von Normen, sondern auch von technischen Baubestimmungen möglich, solange die jeweiligen Schutzziele auf anderem Wege erreicht werden.
Ein praxisnahes Beispiel: Erhöhter Schallschutz wird oft durch massive Decken oder doppelte Wände umgesetzt – mit hohem Materialeinsatz, entsprechendem CO₂-Fußabdruck und erheblichen Mehrkosten. Mit suffizienzorientierter Planung lassen sich Bauteile hingegen auf das statisch erforderliche Maß begrenzen – funktional ausreichend, aber deutlich ressourcenschonender.
Wer digital plant, kann solche Einsparpotenziale modellbasiert ausloten und technisch sauber dokumentieren. Abweichungen lassen sich direkt im BIM-Modell bauteilgenau simulieren, etwa alternative Deckenaufbauten, reduzierte Dämmstärken oder vereinfachte Installationsführungen. Nachweise zur Statik, thermischen Hülle und Energieeffizienz können auf Basis semantischer Bauteildaten automatisiert erstellt werden. So entstehen verlässliche Aussagen zu Behaglichkeit, zur Dauerhaftigkeit, zur Wirtschaftlichkeit und zur CO₂-Bilanz einzelner Varianten.
Diese Planungstiefe überträgt sich direkt in den Ausschreibungsprozess: Unterschiedliche Ausführungsoptionen können in Leistungsverzeichnissen systematisch erfasst, kalkuliert und transparent gegenübergestellt werden – inklusive ökologischer Kennwerte wie Global Warming Potential (GWP) oder der nicht-erneuerbare Primärenergiebedarf (PENRT). Digitale AVA-Prozesse erleichtern dabei die präzise Kostenzuordnung nach DIN 276 und zeigen, wie sich vereinfachte Standards konkret auf Kosten und THG-Emissionen auswirken.
Gleichzeitig bildet das Modell die Grundlage für eine präzise Mengenermittlung und eine nachvollziehbare Dokumentation. Diese ist unverzichtbar, wenn Planende und Bauherrschaft gemeinsam von anerkannten Regeln der Technik abweichen. Komplexe Zusammenhänge lassen sich visuell auflösen, Entscheidungsoptionen leicht verständlich aufbereiten.
BIM und Gebäudetyp E: Neue Zukunftsfähigkeit für Bestandsgebäude
Im Bestand greifen Gebäudetyp E und BIM besonders wirkungsvoll ineinander. Altbauten wurden nicht nach den heute allgemein anerkannten Regeln der Technik (aaRdT) errichtet – und müssen es auch künftig nicht, sofern die bauordnungsrechtlichen Schutzziele erfüllt bleiben. Genau hier setzt das Gebäudetyp-E-Gesetz an: Statt bei Sanierungen, Umbauten oder Aufstockungen pauschal auf das heutige Regelwerk aufzurüsten, können Planende gezielt das technische Niveau des Bestands fortschreiben – funktional ausreichend, aber ressourcenschonend und wirtschaftlich tragfähig. Damit eröffnen sich im Bestand sogar größere Potenziale als im Neubau – insbesondere dort, wo gezielt auf überzogene Komfortnormen verzichtet werden kann.
Digitale Zwillinge auf Basis eines interaktiven BIM-Modells liefern die Grundlage, um Abweichungen von den aktuellen Vorgaben präzise zu dokumentieren, technisch zu validieren und vertraglich abzusichern. Punktwolken aus 3D-Scans der gebauten Realität werden dabei mit dem Planungsmodell kombiniert. Bauteilzustände, Materialkennwerte und Baualtersklassen können systematisch erfasst werden, um den digitalen Zwilling des Gebäudes anzureichern. Auf dieser Basis lassen sich Varianten von Sanierungsmaßnahmen simulieren, etwa unterschiedliche Dämmung, Fenstertypen oder Installationskonzepte.
Im Sanierungskontext können auch Regelungserleichterungen zur Anwendung kommen, etwa beim Dachgeschossausbau. Hier kann auf zusätzliche Stellplätze oder Aufzüge verzichtet werden, sofern die Schutzziele nicht berührt sind. Auch bei der Technischen Gebäudeausrüstung, lassen sich massive Einsparungen erzielen – etwa durch den Verzicht auf mechanische Lüftung oder überdimensionierte Heizlastauslegung. BIM ermöglicht, solche Vereinfachungen zu kalkulieren und technisch abzusichern.
Entscheidend dabei: Eine Abweichung von den aaRdT gilt nur dann als wirksam vereinbart, wenn die Bauherrin den funktionalen Unterschied versteht und dem bewusst zustimmt. Ansonsten droht eine Mängelgewährleistung trotz formeller Einigung. BIM-basierte digitale Zwillinge erleichtern die rechtssichere Dokumentation und Kommunikation mit der Bauherrin, indem Varianten verständlich visualisiert, technische, wirtschaftliche und architektonische Konsequenzen nachvollziehbar festgehalten werden. So wird aus der formalen Zustimmung eine belastbare Vereinbarung.
Gebäudetyp E ist erst der Anfang: Digitale Resilienz dank BIM
BIM schafft nicht nur Projektklarheit im Hier und Jetzt – es sichert auch die Anschlussfähigkeit an kommende regulatorische Anforderungen. Und hier zeichnet sich bereits einiges am Horizont ab: Mit der überarbeiteten EU-Gebäuderichtlinie (EPBD 2024) rücken erstmals CO₂-Grenzwerte für den gesamten Lebenszyklus in den Fokus, die ab 2028 für Neubauten gelten sollen. Zugleich wurde das Gebäudeenergiegesetz (GEG) 2024 auf nationaler Ebene novelliert – mit verschärften Effizienzanforderungen und weiterreichenden Nachweispflichten, etwa für den Einsatz erneuerbarer Energien. Weitere Anpassungen des GEG sind absehbar, sobald die EU-Vorgaben in deutsches Recht umgesetzt werden.
BIM schafft die nötige Datenbasis, um beide Stränge frühzeitig und konsistent zu adressieren. Energetische Kennwerte, Materialverbräuche und Emissionen lassen sich bereits im Entwurf modellgestützt erfassen und auswerten. Gebäude werden auf Lebenszykluskosten, Primärenergiebedarf oder GWP durchleuchtet – nicht erst im Betrieb, sondern direkt in der Planungs- oder Sanierungsphase. CO₂-reduzierte Varianten können belastbar verglichen, Optimierungspotenziale identifiziert und regulatorische Schwellenwerte plausibel belegt werden.
Auch während der Bauausführung bringt der digitale Zwilling konkrete Vorteile: Punktwolken aus 3D-Scans ermöglichen den Abgleich mit dem Planungsmodell – zur geometrischen Qualitätskontrolle, zur Dokumentation der Ausführung oder zur präzisen Abweichungsanalyse. Nachbesserungen lassen sich frühzeitig vermeiden, Abfall und Bauzeiten reduzieren, Qualität verbessern. Gleichzeitig erleichtert der modellgestützte Ansatz die ortsunabhängige Kollaboration der Projektteams – was sich positiv auf Fahrtkosten, Ressourcenverbrauch und CO₂-Bilanz auswirkt.
So wird BIM zum strategischen Hebel digitaler Resilienz – gegenüber technischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Veränderungen im gesamten Gebäudelebenszyklus. Für den Gebäudetyp E bildet es ein Planungsinstrument, das Suffizienz, Innovation und Zukunftsfähigkeit vereint: reduziert auf das funktional Wesentliche, gezielt erweitert, wo es energetisch, wirtschaftlich oder architektonisch sinnvoll ist.
Maria Richtsfeld