Gemeinschaft je nach Lebensphase

Vom Bodensee bis zum Neusiedler See erleben Baugruppen derzeit eine große Nachfrage. Die Motivationen der Interessenten sind unterschiedlich, die Möglichkeiten in den einzelnen Bundesländern ebenso – in jedem Fall aber eine soziologische Bereicherung je nach Lebensphase.
— FRANZISKA LEEB

„Mein Ziel war und ist es nicht, möglichst viele Menschen für das Leben in einem gemeinschaftlichen Wohnprojekt zu begeistern, weil ich weiß, dass das nicht für jedermensch in jeder Lebensphase das Richtige ist“, schreibt der Mitbegründer des Wohnprojekts Wien und der Wohnprojekte-Genossenschaft Die WoGen, Heinz Feldmann, in seinem „Praxishandbuch Leben in Gemeinschaft“ (siehe Infokasten).

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Dennoch sind derzeit viele davon begeistert und Feldmanns Buch liefert allen, die das Wagnis Gemeinschaftswohnprojekt eingehen wollen oder bereits eingegangen sind, eine praxisnahe Handreichung. Das Buch hilft, sich über die Vorteile klar zu werden, bewahrt aber auch vor allzu naiven Vorstellungen. Nicht einfach nehmen zu müssen, was der Markt hergebe, sondern selbstbestimmt sein Wohnumfeld mitzugestalten, sei eine wesentliche Motivation, an einem Wohnprojekt teilzunehmen. Ist man einmal dabei, ist es harte Arbeit, daran lässt das Buch keinen Zweifel.

Derzeit bilden sich so viele Baugruppen wir nie zuvor, bestätigt der Soziologe Manuel Hanke von wohnbund: consult, der seine Jugend selbst in einem Gemeinschaftswohnprojekt verbrachte. Die vermutlich so gut wie vollständige Datenbank der Initiative für gemeinsames Bauen und Wohnen listet 132 gemeinschaftliche Wohnprojekte – manche noch in der Gründungsphase – in ganz Österreich auf. Mehr als die Hälfte davon entstanden seit 2016, die meisten in Wien, gefolgt von Niederösterreich. Die beiden in Tirol sind noch auf der Suche nach geeigneten Immobilien.

Gemischte Stadt

Die für die Wiener Stadtentwicklungsgebiete verfolgten Ideen einer gemischten Stadt, die von allein nicht funktioniert, sind mittlerweile ohne den positiv stimulierenden Einfluss von Baugruppen kaum noch denkbar. „Solidarität entsteht daraus, dass man sich kennt“, stellt Constance Weiser fest. Es falle zum Bespiel leichter, jemandem das Auto zu borgen, mit dem man vertraut ist. Daher sei es in Gemeinschaftswohnprojekten einfacher als anderswo, ein Carsharing zu etablieren. „In Wien haben die Bauträger verstanden, dass die Baugruppen zur sozialen Nachhaltigkeit im Quartier viel beitragen können“, so Constance Weiser, Sprecherin der Initiative Gemeinsam Bauen & Wohnen.

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„Der Boom passt auch in die neoliberale Vorstellung, dass der Staat sich zurückziehen und private Akteure Verantwortung übernehmen sollen“, spricht Hanke eine andere Seite der Medaille an. Im Zuge der Konzeptwettbewerbe für Baugruppen würde viel versprochen, und es stelle sich die Frage, ob dies auch alles gehalten werden kann. „Baugruppen sind nicht die einzige Lösung“, betont Hanke, der Beteiligungs- und Gemeinschaftsbildungsprozesse auch im geförderten Wohnungsbau begleitet. „In jeder Wohnhausanlage gibt es einen gewissen Anteil an Menschen, die etwas tun wollen und es gibt welche, die das nicht möchten.

Es gäbe auch die Anlagen, wo die Bewohnerschaft von Harmonie weit entfernt ist. Bis zu einem gewissen Grad könne man mit einer Belegungspolitik und einem gewissen organisatorischen Rahmen solchen Situationen vorbeugen. In letzter Instanz bleibe den Hausverwaltungen nichts anderes übrig, als damit umzugehen.“

Ost-West-Gefälle

Während in Wien seit nunmehr einem Jahrdutzend ein deutlicher politischer Wille erkennbar ist, Baugruppen zu fördern, ist dieser im benachbarten Niederösterreich nicht in Sicht. Dennoch gedeihen auch hier – noch Chance auf Wohnbauförderung – die Gemeinschaftsprojekte wie die sprichwörtlichen Schwammerln. Hanke sieht neben den weitaus günstigeren Baulandpreisen den Grund dafür in einer Bewegung aus der Stadt hinaus, und oft gehe es dabei auch darum, über das gemeinschaftliche Wohnen hinaus nachhaltige Projekte zu verfolgen, zum Beispiel in Form einer solidarischen Landwirtschaft.

In Salzburg gibt es Wohnbauförderung für Baugruppen und auch großes Interesse für diese Lebensform, die Anzahl konkreter Projekte ist aber noch sehr gering. Ähnlich in Kärnten, wo seit heuer gemeinschaftlichen Wohnformen und Baugruppen in der Entstehungsphase Zuschüsse aus der Wohnbauförderung erhalten. Das größte Hindernis ist zumeist die Akquise von Grundstücken oder Liegenschaften.

Je weiter westlich, umso schwerer tun sich Baugruppen, an geeignete Grundstücke zu kommen. Das liegt zum einen an den Grundstückspreisen, aber, so Constance Weiser, auch daran, dass man zum Beispiel in Vorarlberg „fast nur im Eigentum denkt“. Aber auch im Ländle ist das Thema auf Landesebene angekommen. Zur Wissensvermittlung über Chancen, die gemeinschaftlich organisiertes Wohnen für den ländlichen Raum bieten, trug das im Sommer abgeschlossene Leader- Projekt „Neue Nachbarschaft“ bei. Eine Umfrage ergab, dass besonders in den ländlichen Regionen noch hoher Informationsbedarf besteht.

Immerhin 42 Prozent der Befragten wünschten sich, dass ein gemeinschaftliches Wohnprojekt in ihrer Gemeinde entsteht. Bei den erhofften Mehrwerten stand die Schaffung von bedarfsgerechtem, leistbarem Wohnraum an vorderster Stelle, gefolgt von Impulsen für die Dorfgemeinschaft. Potenzial für mehr zivilgesellschaftliches Engagement wurde vor allem in den urban geprägten Gemeinden gesehen. Als Hilfestellung für die Gemeinden wurde ein Leitfaden erarbeitet, der Möglichkeiten darlegt, wie die Kommunen eine aktivere Rolle bei der Umsetzung gemeinschaftlicher Wohnprojekte einnehmen können.

Gesellschaftliche Teilhabe

Ebenso wie die Ideologien in den Baugruppen unterschiedlich sind, sind es auch die Motivationen. In der nachberuflichen Phase ist oft der Wunsch, nicht allein altern zu wollen und seinen individuellen Wohnraum zu verkleinern. Die Kinder in einer guten Umgebung und Nachbarschaft aufwachsen zu lassen, sei ein wichtiges Motiv für junge Familien, die sich davon auch Vorteile bei der Kinderbetreuung erhoffen.

„Wenn eine Gemeinschaft groß genug ist, funktioniert das auch“, so Weiser. Eher schwierig sei der Umstieg in ein Wohnprojekt mit größeren Kindern, weil diese eher im gewohnten Umfeld bleiben möchten. Studierende oder junge Menschen in Ausbildung seien kaum eine Klientel. In dieser intensiven Lebensphase sei es schwierig, sich länger zu verpflichten…

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