Die Wiener Siedlerbewegung feiert ihr 100-jähriges Jubiläum. Eine willkommene Gelegenheit, um über eine Renaissance des Genossenschaftsgedankens nachzudenken.
MAIK NOVOTNY
Frauen mit Kopftüchern, die Schaufeln in der Hand. Männer, die Baugruben ausheben. Dazwischen Erd- haufen, dahinter halbfertig aufge- mauerte Reihenhäuser. Der Rosenhügel in Wien im Jahr 1921 war eine Baustelle der besonderen Art. Am Ende der schweißtreibenden Mühe standen hier 543 Reihenhäuser mit je 60 Quadratmetern Wohnfläche und Eigengarten.
Aufgebaut wurde die Pioniersiedlung der am 20.11.1920 gegründeten Gemeinnützige Kleingarten- und Siedlungsgenossenschaft Altmannsdorf und Hetzendorf von den zukünftigen Bewohnern selbst. Deren 2000 Arbeitsstunden pro Person galten als „Muskelhypothek“, die in sogenannten „Stundenbüchern“ vermerkt wurde und die zum Wohnen berechtigte. Die sogenannten Pax-Ziegel, die beim Bau verwendet wurden, wurden aus Schlacke und Sand selbst gepresst.
In der Zeit der ersten Republik entstanden aus dem Impuls der Eigeninitiative insgesamt fünf „Ursiedlungen“ der Altmannsdorf und Hetzendorf mit insgesamt 1.238 Siedlungshäusern. Angesichts der Wohnungsnot nach dem 1. Weltkrieg war die genossenschaftlich organisierte Siedlerbewegung in Wien und Niederösterreich entstanden – Wien wurde erst Ende 1920 eigenes Bundesland, die Wohnbausteuer, die das „Rote Wien“ und den Gemeindebau ermöglichte, war noch drei Jahre entfernt. Anfangs nahezu anarchisch, fraßen sich die Gärten und Bretteldörfer, „um alle Eigentumsrechte unbekümmert“, wie der Sozialdemokrat Otto Bauer es ausdrückte, in die Landschaft.
Wilde Frühphase
Dieser wilden Frühphase folgte die geordnete Siedlerbewegung mit nachträglich als Kleingarten- und Siedlungszone gewidmeten Grundstücken, mit genossenschaftlicher Organisation, kommunalen Finanzhilfen und viel Eigenleistung, wie am Rosenhügel. Architektinnen wie Margarete Schütte-Lihotzky sahen die Selbstversorgerhäuser als wirksamste Lösung gegen die Wohnungsnot und entwarfen zahlreiche Modellhäuser; letztlich jedoch dominierte der ab 1923 massiv einsetzende Gemeindebau mit seinen städtischen „Wohnburgen“.
Die Nachbarschaft und die Gärten in der Siedlung Rosenhügel blühten währenddessen auf und blieben bis heute erhalten. Mitte der 1980er wurde von der Altmannsdorf und Hetzendorf die erste „Huckepack-Sanierung“ Wiens durchgeführt, die damals stark renovierungsbedürftigen kleinen Häuser wurden neu gedeckt, die Fassaden gedämmt, Strom- und Wasserleitungen erneuert, auch Innensanierungen der Siedler ermöglicht.
Nicht nur baulich wurde hier eine neue „Muskelhypothek“ geleistet, sondern auch in gemeinsamen Versammlungen die Idee der Genossenschaft wiederbelebt. Seitdem findet jährlich das Siedlungsfest am Rosenhügel statt, das (ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Genossenschaft) 2020 Corona-bedingt ausfallen musste.
Konsequent gemeinnützig
Der Begriff der Genossenschaft wird, obwohl lange etabliert, mit unterschiedlicher Bedeutung gefüllt, sein Potenzial und seine Mission geraten bisweilen in Vergessenheit. Doch es gibt Genossenschaften in Wien, die sich ihrer Tradition bewusst sind.
Die am 1. August 1927 gegründete „Siedlungs-Union“ realisierte zunächst vorwiegend Reihenhäuser, ab den 1950er Jahren auch größere Wohnanlagen. Als Stadterweiterungsgebiet spielte dabei die Donaustadt – hier ist der Großteil der Bauten und auch der Sitz der Siedlungsunion angesiedelt – aufgrund ihrer Baulandreserven eine wichtige Rolle.
„Schon damals hatten wir zwei heute noch gültige Grundsätze: Konsequent und unbeirrbar in Verfolgung des Genossenschaftsprinzips sowie modern und allem Neuen aufgeschlossen,“ blickt man bei der Siedlungsunion heute stolz zurück. „Die gemeinnützige Genossenschaft hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt“.
Auch die größte Reihenhausanlage Wiens, die 1923-27 mit durchschnittlich 1.600 Stunden Eigenleistung pro Siedler errichtete Freihofsiedlung in Kagran mit ihren 1.014 Häusern wird heute noch von der Siedlungsunion verwaltet. Eine Umfrage im Rahmen eines Forschungsprojekts ergab, dass 96,8 Prozent der Bewohner auch jetzt wieder ins Reihenhaus ziehen würden.
Eine Erkenntnis, die auch in Neubauprojekte der Siedlungsunion einfließt: Die Wohnanlage „Am langen Felde“, ebenfalls in Kagran, entsteht mit rund 400 Wohneinheiten auf dem ehemaligen Grundstück der Firma Hrachowina. Bei der Planung wurde darauf geachtet, dass unterschiedliche Wohnungsgrößen und SMART-Wohnungen so ausgewogen verteilt sind. Das umfangreiche Gemeinschaftsangebot in der Anlage wird das Kennenlernen der Nachbarn und die soziale Durchmischung zusätzlich erleichtern.
Update der Genossenschaft
Die zahlreichen Jubiläen und die Projekte und Events der IBA_Wien 2022 Neues soziales Wohnen bieten einen Anlass, über eine Renaissance der Genossenschaftsidee zu reflektieren. Genau dies tat die Interessensgruppe SONAKO, die sich am 29. September in Wien auf Einladung von wohnbund:consult die Frage stellte:
„Ist der Genossenschaftsgedanke nur mehr ein Fall für die Historie und von Jubiläen oder können die sozialen Ideen für Gegenwart und Zukunft wiederbelebt und aktualisiert werden?“
Erst recht, da die WGG-Novelle vom 1.8.2019 ein günstiges Zeitfenster von zwei Jahren für kleine gemeinnützige Bauvereinigungen bietet, wie WohnenPlus-Herausgeber Robert Koch einleitend anmerkte. Ein ähnlicher Impuls war schon von der WGG-Reform 1979 ausgegangen…