Ein Leben lang

Studien zur Lebenszyklusbetrachtung von Baustoffen gibt es viele. Die Ergebnisse sind unterschiedlich, teilweise sogar widersprüchlich. Wie eine Wohnanlage, bei der jede Systementscheidung auf Basis von Lebenszyklusberechnungen getroffen wurde, aussehen kann, zeigt ein gemeinnütziges Projekt in Niederösterreich.
— BERND AFFENZELLER

Die Diskussion, welcher Baustoff der beste ist und die optimalsten Eigenschaften in sich vereint, ist wohl so alt wie das Bauwesen selbst. Während der Fokus lange Zeit vor allem auf den Errichtungskosten lag, sind die Anforderungen und Erwartungen an Baustoffe in den vergangenen Jahren enorm gestiegen. Die Baustoffe und die damit geschaffenen Bauwerke müssen nicht mehr nur günstig in der Errichtung sein, sondern über den gesamten Lebenszyklus nachhaltig und effizient. Dass dabei nicht „der eine Baustoff“ die Nase vorne hat, zeigt eine Studie der Austrian Cooperative Research (ACR) aus dem Jahr 2014.

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Damals haben fünf Forschungsinstitute ein fiktives Einfamilienhaus in mehrere Varianten untersucht, und zwar als Niedrigenergiehaus, Sonnenhaus, Passivhaus und Plusenergiehaus. Aus der Kombination mit verschiedenen Baustoffen wie Beton, Holz, Ziegel oder Holzfaserbeton und unterschiedlichen Haustechnikvarianten wie Wärmepumpe, Solarthermie, Fotovoltaik oder Pelletheizung entstanden 45 Gebäudevarianten. Für diese Varianten wurden die Umweltauswirkungen über 100 Jahre und die Lebenszykluskosten über 50 Jahre berechnet.

Die zentrale Erkenntnis: Es gibt nicht das eine, beste Haus, nicht das eine, beste Gebäudekonzept und nicht den einen, besten Baustoff. Jede Variante, jeder Baustoff hat seine spezifischen Vor- und Nachteile, die sich über den gesamten Lebenszyklus betrachtet wieder annähern. Wirklich zielführend ist laut Studie immer nur die Betrachtung und Beurteilung der Gesamtsituation. Dazu zählen Standort, Klima, Sonneneinstrahlung und Verschattung genauso wie die Sonnenstunden im Winter, die Verfügbarkeit erneuerbarer Energieträger und natürlich das Wohnverhalten der Hausbewohner. Die Wahl des Baustoffes hat hingegen sowohl bei den Öko-Indikatoren als auch den Kosten keinen signifikanten Einfluss auf das Gesamtergebnis.

Frage des Preises

Zu etwas anderen Ergebnissen kommt das österreichische Institut für Bauen und Ökologie IBO, das auch an der ACR-Studie mitgearbeitet hat, in einer Studie im Auftrag des oberösterreichischen Landesrates für Klima, Umwelt, Konsumentinnen und Zusammenleben, Stefan Kaineder, von 2021. Dafür wurde eine vergleichende Ökobilanz eines Einfamilienhauses in den Bauweisen Holzriegel, Massivholz, Stahlbeton und Ziegel erstellt.

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Diese vier Gebäudevarianten wurden einer Lebenszyklusanalyse und einer Lebenszykluskostenanalyse unterzogen. Demnach würden die Holzvarianten gegenüber Stahlbeton und Ziegel zwischen 40 und 45 Prozent weniger CO2-Emissionen verursachen, die Kosten aber um bis zu 20 Prozent höher sein. Diese Zahlen dürften sich angesichts der aktuellen Preisentwicklungen noch einmal deutlich verändert haben. Während das IBO daraus eine Empfehlung für den verstärkten Einsatz von Holz ableitet, bremst eine Studie der Umweltschutzorganisation WWF eine aufkeimende Euphorie der Holzlobby schnell ein.

Demnach sei Holz zwar äußerst vielseitig, aber nicht in ausreichendem Maß verfügbar. „Die Wälder der Welt können nicht ausreichend nachhaltig gewonnenes Holz zur Verfügung stellen. Der Verbrauch ist global und insbesondere in Industrienationen bereits heute zu hoch“, so die Studie. Obwohl Länder wie Deutschland oder Österreich über große Waldressourcen verfügen, wird schon jetzt Holz importiert, um die Nachfrage zu decken.

Beispiel aus der Praxis

Wie eine lebenszyklusoptimierte Wohnanlage in der Praxis aussehen kann, zeigt die gemeinnützige Wohnungsgesellschaft „Arthur Krupp“ mit der Konzeptstudie „Viertel hoch Zwei“ in Theresienfeld. Das geförderte Wohnbauvorhaben umfasst 28 Wohneinheiten in vier Baukörpern. Zwei dieser Baukörper wurden in der neu entwickelten Typologie „Viertel hoch Zwei“ errichtet. Dabei wurden alle Systementscheidungen auf Basis von Lebenszyklusberechnungen in mehr als 20.000 Varianten getroffen. E

Mit der Konzeptstudie „Viertel hoch Zwei“ hat die gemeinnützige Wohnungsgesellschaft „Arthur Krupp“ gezeigt, wie eine lebenszyklusoptimierte Wohnanlage in der Praxis aussehen kann

inzige Vorgabe war, dass ausschließlich Produkte mit anspruchsvollen ökologischen Mindestanforderungen, z. B. mineralischer Innenanstrich, in den Auswahlprozess einbezogen wurden. „Ergebnis ist, dass die Bauteilaktivierung für Heizung und Kühlung unter Verzicht auf ein Backup-System, die Dimensionierung der PV-Anlage, die Luft-Wasser-Wärmepumpen, die Mikro-Wärmepumpen für die Warmwasseraufbereitung und die Holz- Alu-Dreischeibenfenster auf Basis von Lebenszykluskosten entschieden wurden“, heißt es im Endbericht aus dem Frühjahr 2022. Die Hülle hat Passivhausqualität.

Als Wandbildner kam Ytong zum Einsatz, dazu ein EPSWärmedämmverbundsystem. Auf den Einbau einer Lüftung mit Wärmerückgewinnung wurde unter Berücksichtigung der Lebenszykluskosten verzichtet. Im ersten Jahr nach Bezug wurden Kalibrierungsarbeiten der innovativen Haustechnik durchgeführt. „Nach der ersten Heiz- und Kühlperiode wurde das Projekt in technischer und sozialer Hinsicht evaluiert – mit durchgängig positiven Ergebnissen“, so der Endbericht…

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