Wohnungsfragen ohne Ende

Die „Wohnungsfrage“ ist mindestens 150 Jahre alt und stellt sich doch stets neu. In den 1920er-Jahren brauchte es andere Antworten als 50 Jahre später oder heute. Doch es gibt nicht nur die eine „Wohnungsfrage“, sondern viele Fragen zum Wohnen: steigende Preise in der Stadt, kein bedarfsgerechtes Angebot am Land, klimaschädliche Einfamilienhäuser im Speckgürtel – was tun?
ROBERT TEMEL

Die Antworten darauf sollten nicht aus dem Bauch kommen, sondern auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse entstehen. Zum Thema Wohnen gibt es schon seit Jahrzehnten die Disziplin der Housing Studies, die allerdings im deutschsprachigen Raum kaum verankert sind und gewisse Themen vernachlässigen – sie befassen sich vorrangig mit nationalen Vergleichen und unterschätzen dabei die Differenzen, die etwa zwischen verschiedenen Städten oder städtischen und ländlichen Räumen bestehen, und sie blicken kaum auf die materiellen Strukturen des Wohnens, also auf Gebäude, Siedlungsformen und Städte.

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Die Stadtforscherin Lisa Vollmer von der Bauhaus-Universität Weimar und ihre Ko-Herausgeberin Barbara Schönig starteten deshalb kürzlich eine neue Buchreihe unter dem Titel „Interdisziplinäre Wohnungsforschung“, um zur Institutionalisierung des Themas beizutragen. Mittlerweile sind die ersten beiden Bände erschienen (siehe Buchtipp).

Als ein Vorbild sieht Vollmer die Infrastrukturforschung: „Es macht Sinn, Wohnen als Infrastruktur zu sehen, obwohl das bisher kaum gemacht wurde. Beispielsweise gab es beim Wohnen, wie bei der Infrastruktur, lange Zeit die Tendenz zur Privatisierung und zum Rückzug des Staates.“ Diese spezifische Sichtweise befasst sich nicht nur mit ökonomischen, politischen, sozialen Fragen, sondern auch mit der Materialität, etwa wie Wohnungsgrundrisse gewisse Lebensformen bevorzugen, wie Flächenversiegelung durch Einfamilienhäuser klimaschädliche Wohnformen auf Jahrzehnte hinaus fixiert oder wie der bestehende oder fehlende Zugang zu bezahlbarem Wohnen die Ungleichheit verstärkt, wie man das auch von anderen Infrastrukturen kennt.

Wohnen ist ein spezielles Thema, weil es in sich widersprüchlich ist, es ist einerseits Grundbedürfnis – jeder Mensch braucht eine Wohnung, und es ist wichtig für ihn, wo sich die befindet – und andererseits Ware, es wird also gehandelt und gebaut, um Rendite zu erzielen.

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Täglich grüßt das Murmeltier

Die angestrebte Institutionalisierung der Wohnungsforschung soll zu mehr Kontinuität und Weiterentwicklung in den Forschungsprogrammen beitragen. „Bisher wird immer dann übers Wohnen geforscht, wenn sich die Wohnungsfrage verschärft. Alle 20 Jahre gibt es eine wissenschaftliche Debatte über Wohnungspolitik, und wenn man dann nachsieht, was 20 Jahre zuvor geforscht wurde, gab es damals die gleichen Themen“, so Vollmer: Wohnungsforschung sollte antizyklisch gemacht werden.

Und Wohnungsforschung soll natürlich beraten und in gesellschaftlichen Diskursen wirken, aber dabei nicht nur im Feuerwehrmodus an Lösungen für Einzelprobleme arbeiten, sondern grundsätzlich infrage stellen, wie Wohnungsversorgung funktioniert – oder nicht funktioniert.

Ein derartiges grundsätzliches Thema, das selten in den Blick der Wissenschaft gerät, ist die Selbstorganisation der Betroffenen von Wohnungspolitik und Wohnungsmärkten, die Mieterbewegung, über die Lisa Vollmer forscht. Sie entstand parallel zur Arbeiterbewegung, wurde aber im Gegensatz zu dieser lange nicht beachtet – so gab es immer wieder die so genannten „Exmittierungskrawalle“ gegen Zwangsräumungen. Doch die Selbstorganisation geht darüber hinaus und bietet eine Vielzahl von Ansatzpunkten für heute, so wie das beispielsweise in genossenschaftlichen Wohnbauprojekten eine lange Geschichte hat und heute wieder relevant ist.

Ein zentrales Thema der interdisziplinären Wohnungsforschung ist die Frage, welche Ressourcen nötig sind, um ein „Recht auf Wohnen“ zu garantieren, und was es braucht, um diese Ressourcen zu erweitern und nutzbar zu machen. Dazu zählt natürlich die Bodenpolitik, also die Regulierung der Bodenfrage, die für bezahlbares Wohnen entscheidend ist, wie sich aktuell wieder zeigt: „Die Bodenfrage wird gern vergessen oder als zu schwierig regulierbar angesehen.

Aber steigende Bodenpreise wirken sich unmittelbar auf steigende Mieten aus und verhindern bezahlbaren Neubau. In Deutschland gelingt es so gut wie gar nicht, Bodenpreise zu drücken“, sagt Vollmer…

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