Ein Setzkasten des Lebens

Schon bald neigt sich die Zwischennutzungsphase am ehemaligen Siemens-Standort in Wien-Favoriten dem Ende zu. An seiner Stelle ent- steht ein multifunktionaler Standort für Wohnen, Lernen und Arbeiten. Am östlichen Ende des neuen Kempelenparks errichtet die wbv-gpa den „Wohnfavorit“, ein loggienreiches Wohnheim für Menschen mit dringendem Wohnbedarf.
WOJCIECH CZAJA

Hier ein querkraft-Haus mit nach außen aufgeklappten Sonnenschutzmarkisen, dort ein salbeigrün eingekleidetes Volumen von AllesWirdGut, an der Ecke eine loggien-balkonierte Matrix von gerner gerner plus, wo man im siebenten Stock sogar – eine Reminiszenz an die Wiener Würfeluhren – die Zeit wird ablesen können. Für das Wiener Siemens-Areal in Favoriten jedenfalls wird’s bald die letzte Stunde geschlagen haben. Im städtebaulichen Dreieck zwischen Quellenstraße, Kempelengasse und den ÖBB-Ostbahngleisen entwickelt die Stadt Wien seit einigen Jahren bereits ein inneres Stadtentwicklungsprojekt unter dem poetischen Titel Am Kempelenpark. Mit an Bord ist auch die gemeinnützige Wohnbauvereinigung für Privatangestellte, die sich zum 70. Geburtstag einen neuen Markenauftritt schenkte und sich seit wenigen Monaten nun ohne Versalien schreibt.

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„Als Wien noch in einem mäßigen Wachstum war“, sagt Cilli Wiltschko, Prokuristin und Leiterin für den Bereich Projektentwicklung in der typografisch geschrumpften wbv-gpa, „konzentrierte man sich die längste Zeit auf schöne Grundstücke in zentraler Lage. Doch diese Zeiten sind vorbei. Wien wächst rasant, zudem wird es für Gemeinnützige immer schwieriger, an gutes, leistbares, gut erschlossenes Bauland zu kommen. Daher sind wir nun herausgefordert, die Stadt mit einem neuen Blick zu scannen und uns nach Brownfields, Refurbishments und bislang anders konnotierten Flächenressourcen umzusehen.“

Ein wunderbares Beispiel dafür ist der ehemalige Siemens-Standort Am Kempelenpark im Arbeiterbezirk Favoriten. Wo seit 1901 die Elektrische Kabel-, Stahl- und Kupferwerke AG und später auch die F&G Felten & Guilleaume ihre metallische Kompetenz auf riesige Kabeltrommeln wickel- te, errichtete die Siemens AG 1985 für ihre wachsende Software-Sparte einen Verwaltungs- und Logistikcampus für bis zu 5.000 Mitarbeiter:innen, leider ganz im Zeichen der Achtzigerjahre, mit viel Beton, wenig Flexibilität und einem stilistischen Stempel 45-Gradabgeschrägter Gebäudeecken.

Wohnen und arbeiten

2010 wurde die Software-Abteilung nach Floridsdorf abgesiedelt, seit 2014 wird der 35.000 Quadratmeter große Bürostandort nun intensiv zwischengenutzt – zunächst als Unterkunft für Geflüchtete, später, als Elke Delugan- Meissl den Österreich-Pavillon auf der Architektur-Biennale 2016 in Venedig kuratierte, als Vor-Ort-Homebase mit architektonischen Interventionen von The Next Enterprise, in den letzten Jahren schließlich mehr und mehr als Wohnheim für Studierende, als Werkstatt für die Kreativwirtschaft sowie als Dependance diverser Schulungs- und Fortbildungseinrichtungen.

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„Unter der Woche wurlt’s hier nur so vor Menschen am Weg von A nach B“, sagt Wiltschko. „Das einst verschlossene Gewerbeareal ist längst auf der Mental Map der Wiener: innen gelandet.“

Fotos: wbv-gpa, Zoom VP

Dieses stadtgesellschaftlich wichtige, relevante Potenzial soll nun genutzt werden. Auf Basis eines städtebaulichen Leitbilds vom DMAA Delugan Meissl Associated Architects (2019) und eines im November 2023 entschiedenen Architektur-Wettbewerbs errichtet die wbv-gpa am östlichsten Ende des Kempelenparks, in unmittelbarer Nähe zum bald neu geschaffenen Geierecksteg, den sogenannten „Wohnfavorit“, ein Wohnheim für Menschen in prekären Lebenssituationen, die akut von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Geplant ist ein hybrides Betreibermodell aus Wohnen, Arbeiten, Verwaltung, Veranstaltungszentrum und sogar Kaffeehaus samt witterungsgeschütztem Schanigarten und Blick in die Botanik. Aktuell ist der Wohnbauträger in intensiven Gesprächen mit einem sozialen Kooperationspartner.

Nicht nur Alleinstehende

„Wenn wir von Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit sprechen, dann denken wir intuitiv an Einzelpersonen“, sagt Wiltschko. „Doch Tatsache ist, dass vor allem in den letzten Jahren zunehmend auch Paare, Alleinerziehende und kinderreiche Familien davon betroffen sind und sich am Rande ihres Existenzminimums irgendwie arrangieren müssen. Genau diese sozial benachteiligte Menschen wollen wir mit einem wertschätzenden Gebäude empfangen. Unser Ziel ist, eine Architektur zu schaffen, die keinen Unterschied macht zwischen Arm und Reich, zwischen Haus und Heim, zwischen privilegiert und prekär. Dieses Haus soll ein wertschätzendes Wohnen für alle ermöglichen.“

Den baulichen Rahmen dafür liefert das Wiener Architekturbüro pool. Die Fassade erinnert an einen Setzkasten des Lebens – mit Loggien, Balkonen, raumhohen, französischen Fenstern und allerhand Platz, um die Fächer mit Leben, Fahrrädern und städtischem Grün zu befüllen. Hinter der expressiven Schauseite des zehngeschoßigen, bis zu 35 Meter hohen Hauses verbirgt sich ein ausgetüfteltes System aus zunächst eigenwillig wirkenden Wohnungszuschnitten. Bei näherer Betrachtung jedoch erkennt man in den Grundrissen nicht nur eine bestechende Flächenökonomie, sondern auch einen raffinierten Mix aus Licht und Weitsicht, aus Großzügigkeit und immer wieder vor- und zurückspringenden, atmosphärisch geschützten Bettnischen und Leseecken.

Insgesamt umfasst der „Wohnfavorit“ 175 Wohneinheiten, das Spektrum reicht von kompakten A-Typen bis hin zu 123 Quadratmeter großen E-Typen mit fünf Zimmern und Ausblick in zwei Himmelsrichtungen. Aufgrund der spezifischen Wohnungsklientel, die in ihrem Alltag gewiss andere Sorgen hat als Parkplatzsuche und Autobesitz, wurde die Entscheidung getroffen, auf eine Tiefgarage zu verzichten. Stattdessen fließt das Budget nun in Begrünung, in 25 Prozent Gemeinschaftsflächen sowie in eine lebendige Gestaltung der beiden Erdgeschoße, die sich am vier Meter hohen Geländesprung zwischen Quellenstraße und Ostbahnradweg ergeben. Geplanter Baubeginn ist im 4. Quartal 2025. Zwei Jahre später soll es im neuen Kempelenpark dann wieder wurln wie nie zuvor.

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